Dienstag, 15. Oktober 2024

EU-Engpass: Das Salz der Erde

Glückliche Apotheker: Sie sind aufgefordert, dem Mangel an Kochsalzlösungen i´mit emsiger Handarbeit abzuhelfen.

Es war wie immer richtig gut gemeint. Nichts Besseres gibt als das, was sich noch mehr verbessern lässt! Als erste Adresse auf Erden für Vorschriften, die das Leben leichter machen, gilt seit Jahren die EU-Bürokratie, deren lange Schaffensgeschichte Höhepunkte der menschlichen Kulturentwicklungen im Dutzend zählt.  

Die Cookie-Richtlinie und das Gesundheitsprojekt "Hera", die fest an den Hals getackerten Flaschenverschlüsse und die KI-Richtlinie, der Digital Service Act und die Katar-Regeln, das programmierte Verbrenner-Aus und das Gewalt-Verbot, sie stehen für moderne europäische Schöpferkraft, die es mit jeder Nichtigkeit aufnimmt.

Arbeitsauftrag Medikamentenmangel

Auch den Medikamentenmangel haben sich die Kommission und das größte halbdemokratisch zusammengestellte Parlament in Straßburg längst als Arbeitsauftrag gesichert. Eine Legislaturperiode ist lang, jeder sucht nach Arbeit und Betätigungsnachweis. Mit dem - wie stets zu Ehren der fünf Millionen englischen Muttersprachler in der Gemeinschaft auf Englisch getauften "Good Manufacturing Practice"-Leitfaden der EU (GMP) gaben Parlamentarier und Kommissare den bis dahin nahezu regellos vor sich hinwurstelnden pharmazeutischen Unternehmen Nachhilfe. 

Zwar gab es kaum Vorfälle mit verseuchten, verschmutzten und gesundheitsbedrohenden Plasmen und Lösungen. Doch so gut die in Europa hergestellten und aus dem Ausland hierher gelieferten sterilen und aseptischen Produkte auch zu sein schienen -  seit dem Inkrafttreten des GMP am 25. August vergangenen Jahres sind sie nicht mehr gut genug. Die neuen Vorschriften nehmen die Hersteller strenger an die Hand, sie erfordern mehr Filter, mehr Nachweise, mehr Sterilität. 

Beeindruckende Ergebnisse

Die Ergebnisse sind beeindruckend. Nach Fiebersaft und Antibiotika, deren Fehlen deutsche Krankheitsfälle seit mehr als drei Jahren beklagen, sind nun auch simple Kochsalzlösungen Mangelware. Schon müssen Operationen verschoben werden, weil sogenannte Ringer-Lösungen fehlen, die als Infusionsflüssigkeit und zur Reinigung von Wunden benötigt werden. Eigentlich handelt es sich dabei nur um eine Mischung aus Natriumchlorid und Wasser, doch die EU hat es im Handumdrehen geschafft, den einfachen Blutersatz zur Bückware zu machen. 

Neue Vorschriften haben die alten Lieferanten, die zumeist im Ausland produzieren, erfolgreich aus dem Markt gedrängt. Aus Kostengründen hätten die Unternehmen darauf verzichtet, ihre Produktionsverfahren EU-gerecht umzustellen. Andere haben es getan, aber feststellen müssen, dass der höhere Aufwand die Kosten in die Höhe treiben. Eine "Kochsalz-Krise", wie es die "Welt" nennt, die zu Europas fehlenden Raketen, fehlenden Künstlichen Intelligenzen und fehlenden Internetkonzernen nun auch noch fehlenden Kochsalzkocher addiert. Nur zwei deutsche Firmen produzieren noch Salzwasser für medizinische Zwecke. Sie beliefern allerdings nur ihre Stammkunden.

Schnelle Ergebnisse

Selten hat eine EU-Richtlinie schneller greifbare Ergebnisse gebracht. Noch warten Patienten auf die segensreichen Folgen des im vergangenen Jahr verabschiedeten "Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes". Und schon zeigt die EU, wie es richtig geht: Es kann nicht nur immer alles teurer werden. Es kann auch einfach weg sein.

Ausländische Lieferanten, die bisher bemüht worden waren, die fehlenden inländischen Kapazitäten zu ersetzen, haben sich in Windeseile aus dem EU-Markt verabschiedet. Da sie sich weigerten, die verschärften Anforderungen zu erfüllen, stünden nicht mehr genügend Anbieter zur Verfügung, heißt es beim Bundesverband der Pharmazeutischen Unternehmen.  Kurzfristig sollen jetzt Apotheken einspringen und die Lösungen in Handarbeit herstellen. Manufakturwirtschaft, die das von der SPD ausgerufenen Motte "Made in Germany" aufnimmt und es umsetzt. 

Plattformarbeit plattmachen

Die EU ist mittlerweile schon weitergeeilt. Mit der Richtlinie zur digitalen Plattformarbeit will sie versuchen, als erster Gesetzgeber weltweit gegen das Geschäftsmodell von digitale Unternehmen wie Bolt, Deliveroo Lyft oder Uber vorzugehen. Wenn zwei von fünf "Kontroll- oder Lenkungsindikatoren" (EU-Kommission) darauf hindeuten, dass ein vermeintlich selbständiger Mitarbeiter arbeitnehmerähnlich beschäftigt wird, soll er künftig fest angestellt werden müssen, sofern er nicht nachweisen kann, dass es sich bei der Vertragsbeziehung nicht um ein Beschäftigungsverhältnis handelt.

Absehbar werden die Folgen einschneidend sein. Und in ihrer Ausprägung vermutlich ähnlich überraschend wie die der "Good Manufacturing Practice"-Richtlinie.

Werbung für den Siegesplan: Krieg und Frieden

Immer lauter wird das Geschrei der Friedensfreunde.

Diesmal würde Russland dabeisein dürfen, wenn über den weiteren Gang der Dinge beraten wird. Bundeskanzler Olaf Scholz und der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj einig. Die Zeit sei reif, wenn schon nicht gleich mit Putin, so doch mit seinen Leuten zu reden. Ein Signal nach Moskau, das die Ankündigung eines Anrufs aus Berlin kurz zuvor noch barsch abgebügelt hatte. Auf die vorsichtig in den Raum gestellte Einladung kam gar nichts.

Verpuffte Sanktionen

Die Hoffnung, Russland könne mit hartem Widerstand mit westlichen Waffen und den härtesten Sanktionen aller Zeiten zum Einlenken bewegt werden, war zuvor schonen einen stillen Tod gestorben. Ursula von der Leyen ist nie wieder auf ihre Prophezeiung aus dem Jahr 2022 zurückgekommen, dass Russland in Kürze pleite sein werden. Die deutschen Medien haben nach und nach aufgehört, Putin alle nur denkbaren tödlichen Krankheiten anzudichten. Nicht einmal mehr der lange Zeit zuversichtlich reportierte Mangel an Soldaten, Panzern, Benzin und Granaten spielt noch eine Rolle.

Der Westen hat die Ukraine faktisch aufgegeben, aber noch nicht die Hoffnung, dass sie trotzdem weiterkämpfen wird. US-Präsident Joe Biden fand es zuletzt wichtiger, Termine in den Hurrikane-Gebieten Floridas zu absolvieren als bei einer geplanten Unterstützer-Konferenz für Kiew aufzutauchen. Aufgeschoben sei der Termin nur, hieß es tröstend. Bis er dann abgesagt und durch ein informelles Treffen mit Olaf Scholz ersetzt wurde.

Verfahrene Situation

Reden die beiden über schwere Waffen? Oder über einen Ausweg aus der verfahrenen Situation, die eingetreten ist, weil die westlichen Geheimdienste die Kampfkraft und das Durchhaltevermögen der russischen Aggressoren ebenso falsch eingeschätzt haben wie zuvor die russischen Dienste die Bereitschaft der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen? Unübersehbar ist, dass weder Washington noch Berlin noch großes Interesse daran haben, den Abnutzungskampf fortzusetzen. Es fehlt der Nato an Geld und es fehlt ihr an der Möglichkeit, ihre Waffenhilfe anderweitig auszuweiten, ohne den Konflikt eskalieren zu lassen. 

Den Bürgerinnen und Bürgern, die anfangs mehrheitlich hinter der Idee standen, dem angegriffenen Land nach Kräften zu helfen, fehlt es überdies inzwischen an Geduld. Nach zweieinhalb Jahren ist der Krieg weit weg. Die Gasrechnung wird als schlimmer empfunden als der Verlust von Gebieten fast 2.000 Kilometer entfernt, in denen niemand jemals war und in die keiner je reisen wird.

Die beiden Kriege an der Peripherie der EU - der Verteidigungskrieg der Ukrainer gegen Russland und der Verteidigungskrieg der Israelis gegen den militanten Islam - sie ähneln sich darin beide. Zugleich aber finden sich bei der Behandlung der Konflikte deutliche Unterschiede: Aus Sicht der federführenden deutschen Parteien sollen die Ukrainer weiterkämpfen, bis Putin die Waffen streckt. Alles andere werde den Diktator nur "ermutigen", als nächstes Warschau, Prag und Berlin anzugreifen.

Nun ist genug

Der Judenstaat hingegen wird aller paar Stunden aufgefordert, es genug langsam mal sein zu lassen. Die armen Angreifer hätten doch auch Familie. Man müsse auch mal an die Geiseln denken. Nicht jeder Hamas-Terrorist sei ein schlechter Mensch. Wer jetzt nachgebe, sei der Klügere. Wer aber weiterkämpfe, obwohl der Gaza-Streifen nun schon so kaputt sei, müsse sich mit Sicherheit eines Tages selbst als Kriegsverbrecher vor einem internationalen Gericht verantworten.

Bei allem bleibt die Treue Deutschlands unverbrüchlich. Sechs Monate wurden keine Waffen an Israel geliefert, weil die Regierung Netanyahu sich weigerte, schriftlich zuzusichern, dass sie deutsche Bomben und Granaten nicht zum Völkermorden zu verwenden gedenke. Kiew blieb von solchen Garantieschwüren unbehelligt, denn im Unterschied zu Israel, das wegen des Friedens aufhören soll, Krieg zu führen, soll die Ukraine bis zu einem Siegfrieden kämpfen.

Tingeltour statt Konferenz

Die Ukraine darf nicht aufgeben, weil niemand mit einem verrückten Diktator wie Wladimir Putin verhandeln kann. Und wenn doch, dann sei ja kein Verlass auf die geschlossenen Verträge. Israel hingegen soll schnellstmöglich aufgeben und mit den Terrorbanden verhandeln, damit die schnellstmöglich einen eigenen Staat bekommen, aus dem sie dann korrekt nach Völkerrecht und mit einer richtigen Armee angreifen könnten.

Bei einer Tingeltour durch die Regierungszentralen hat Volodymyr Selenskyj den Verbündeten in den letzten Tagen eine Strategie vorgestellt, die schon mit ihrem diplomatischen Namen "Siegesplan" Richtung Moskau signalisiert, wer hier am Ende geschlagen abziehen wird. Der ukrainische Präsident war in Paris, er war in London und Rom, vorher schon hatte er Biden in den USA besucht. Über Einzelheiten des Planes ist dennoch nichts nach außen gedrungen.

Nur, dass er Putin "kalt" lasse.

Montag, 14. Oktober 2024

Hass auf Hassjäger: Verbot tut not

Das Netz zeigt sich oft als Abgrund aus Gehässigkeit und fehlendem Anstand.

Es war allen klar, dass es Gegenwind geben würde. Zu gut organisiert sind die Netztrolle, die russischen Einflussagenten und die Sockenpuppen ausländischer wie sächsischer Antidemokraten, als dass im politischen Brüssel, in Straßburg und in Berlin nicht schon früh allen klar war, was geschehen würde. Erst die lauhalsen Klagen über die Einführung des in jahrelangen Hinterzimmerverhandlungen vereinbarten Digital Service Act. Nun das empörte Geschrei über den praktischen Vollzug der Meinungsschutzmaßnahme.

Verleumdet als Zensurbehörde

Die Bundesnetzagentur muss sich als "Zensurbehörde" verleumden lassen. Das federführende Bundeswirtschaftsministerium, das eine von einer grünen Politikerin geführte Meldestelle zum ersten amtlich lizenzierten Hinweisgeben ernannt hatte, sieht sich Vorwürfen der Vetternwirtschaft ausgesetzt. Ein Islamwissenschaftler, der alles mitbrachte, um Hetze und antimuslimischen Hass zu erkennen, sah sich gezwungen, seinen X-Account zu löschen, als seine Rolle öffentlich bekannt wurde.

Unübersehbar, dass interessierte Kreise die Axt an die Regeln legen, nach denen Ansichten, Meinungen und Äußerungen künftig kontrolliert, beaufsichtigt und - in notwendigen Fällen unter der Strafbarkeitsschwelle - auch unbürokratisch gelöscht werden sollen. Aus einer "normalen rechtsstaatlichen Aufgabe" (Taz), die daraus besteht, eben nicht eine anonyme Stasi mit der Aufsicht über die Meinungsfreiheit zu betrauen, sondern dazu in einem transparenten Verfahren verlässliche Gewährsträger auszuwählen, wird ein Skandal gemacht.

Neue Meinungsaufsicht

Dabei zeigt das, was sich tagtäglich im Netz abspielt, wie wichtig die neue Aufgabe der Bundesnetzagentur ist, die ursprünglich einmal für die Beaufsichtigung des fairen Wettbewerbs bei Strom, Gas und Telekommunikation zuständig war. Dass Meinungsaufsicht nun auch in den Verantwortungsbereich der Bonner Behörde fällt, verdankt sich einem Zufall: "Netz" steckt auch in "Netzwerke", dem Namen, mit dem die großen Internetkonzerne oft bezeichnet werden.

Denen gefällt es seit Jahren, zu tun und zu lassen, was sie wollen. Während Facebook in der Corona-Zeit auf Anforderung der Behörden sogenannte Fake News löschte und Twitter sogar bereit war, ganze Medien nach einem Hinweis aus der US-Regierung dauerhaft zu sperren, tanzen die Großen Europa, der EU und Deutschland frech auf dem Kopf herum. Geldstrafen schrecken nicht. Alternativen gibt es nicht. Mahnungen verpuffen oder gehen sogar nach hinten los: Thierry Breton, ein mutiger Franzose mit langer Erfahrung in Verantwortung, hatte kürzlich erst versucht, den enigmatischen Milliardär Elon Musk in die Schranken zu weisen. Wenig später verlor er seinen Job.

Verbreiteter Hass

Selbstbewusst verbreiten die, die derzeit noch kein Eingreifen von Regulierungsbehörden fürchten müssen, Hass und Menschenverachtung. Als "krank", "von Hass und Dummheit zerfressen" und "Abschaum" werden Andersdenkende bezeichnet. Fake News über Hitze als Ursache von Hass machen die Runde. Selbsternannte Influencer imaginieren eine Traumwelt, in der es Deutschen versagt ist, über ihre eigenen Angelegenheiten überhaupt noch mitzureden. KI-generierte Inhalte verwirren zusätzlich: Grüne Politikerinnen werden vorgeführt.

Obwohl die Sachlage ein Eingreifen unumgänglich macht und EU-Auflagen Deutschland die Umsetzung vorschreiben, wird die Regulierung der Meinungsvielfalt vom Start weg diskreditiert. Die staatlich lizenzierten und finanzierten Trusted Flagger stünden im offenen Widerspruch zum Rechtsstaat, die Bundesregierung leiste sich Söldner, die nicht strafbare Äußerungen aufspüren und beseitigen lassen sollen. Tatsache ist, dass "Zensur" gerade nicht zu den direkten Aufgaben der Bundesnetzagentur gehört. Die Suche nach Hetze, Hass, Zweifeln und Hohn ist ausgelagert, nach einer Meldung findet die Löschung von Inhalten nach den Hausregeln der Plattformbetreiber statt, nicht nach den Vorgaben des Grundgesetzes.

Gegner des sauberen Internets

Doch die Gegner eines sauberen Internets stört das wenig. Sie nennen das schrankenlose Kommentieren, das Posten bei X und Facebook-Gruppen, die ungestört unterhalb der Strafbarkeitsschwelle miteinander diskutieren, eine Freiheit, die ihnen angeblich niemand nehmen dürfe.

Aber sie fördern das Chaos, das regelmäßig dort entsteht, wo der Staat nicht regulierend eingreift. Beispiele für Entgleisungen, die Deutschland in der Vergangenheit gespalten haben, künftig aber als "illegale Inhalte" keine Chance mehr bekommen werden, sich zu verbreiten, sprechen eine andere Sprache: Bis heute stehen Sätze wie "Bald besteht Deutschland nur noch aus Flüchtlinge, weil die Deutschen auswandern!!!!" und "Habe gedacht, dass Deutschland erst in 10 Jahren untergeht, das Ziel ist erreicht" ungestört im Netz. Manches davon ist so subtil formuliert, dass es die Grenze der Strafbarkeit nicht überschreitet, anderes arbeitet mit Andeutungen oder tarnt sich als "Humor".

Im Dienst der offenen Gesellschaft

Gesetze, Staatsanwaltschaften, Polizei, Gerichte, sie alle kommen da nicht mehr hinterher. Wenn Menschen als "Pack" bezeichnet werden oder als "lispelnde Menschenkarikatur", sich als "Kartoffel" vorgeführt finden oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sich zeigt, indem Gruppen nach sekundären Merkmalen wie ihrem Geburtsort zusammengestellt werden, ist es ein völlig normaler rechtsstaatlicher Vorgang, dass der Staat Vorfeldorganisationen aufruft, mit Methoden Zusammenhalt und Solidarität zu stärken, die ihm selbst versagt sind. 

Eine offene Gesellschaft kommt nicht ohne Kontrolle aus, zumindest nicht im Inneren. Trusted Flagger sind die Garanten einer freiheitlichen Ordnung, die von oben nach unten organisiert und strukturiert ist. Die Regeln, die die EU vorgesehen hat, um irregulären Widerspruch gegen das Unabdingbare einzuhegen, sind da und sie sind einzuhalten. Das sollten die Kritiker schnell akzeptieren, denn ihre Hetze gegen den Meinungsfreiheitsschutz führt nur zu Irritationen und Verunsicherung.

Sozial und national: Mit dem Füllhorn zum Wahlwunder

Lars Klingbeil ist der neue starke Mann in der SPD. Er setzt im anlaufenden Bundestagswahlkampf auf neue Versprechen.

Etwas für alle und ein bisschen weniger für wenige: Nur eine Woche nach dem Tiefschlag durch den Rückzug ihres gescheiterten Generalsekretärs Kevin Kühnert hat die deutsche Sozialdemokratie sich kampfeslustig neu aufgestellt. Unter der Regie von Lars Klingbeil, dem starken Mann in der Rest-SPD, schnürten die Genossen ein Paket aus Versprechungen, das die Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr wieder auf die richtige Seite ziehen soll.  

Zurück zu den Wurzeln

Schluss mit den vier Jahren in der Opposition, in denen die SPD nichts durchsetzen konnte. Schluss mit Wolkenkuckucksheimen, in denen die vom Staat als "CO₂-Abgabe" eingesammelten Milliarden als "Klimageld" an die Bürger zurückfließen.

Für die Zeit ab September 2025, wenn die SPD daran geht, das 27. Jahr ihrer Regierungsbeteiligungen seit 1998 komplett zu machen, hat die Partei der Brandt, Wehner und Schmidt sich Großes vorgenommen. Geplant ist ein ganzes Bündel aus Zusagen, die an das vor der letzten Wahl gegebene Klimageldversprechen erinnern: Die meisten Einkommensteuerzahler würden entlastet. Unternehmen, die sich standortpatriotisch im Sinne des von Donald Trump entlehnten Mottos "Germany first" zeigen, belohnt, Überreiche zur Kasse gebeten und der harte Kern des immer noch wohlhabenden inländischen Bionade-Adels mit Steuergeldern bei der Anschaffung von sparsamen Elektrofahrzeugen unterstützt werden. 

Geheimplan Finanzierung

Den kompletten Plan zur Finanzierung der Maßnahmen hat die SPD noch nicht offengelegt. Klar ist aber, dass die von der hart arbeitenden Mitte und den ärmeren Schichten weniger gezahlten Steuern dazu dienen sollen, der Wirtschaft wieder auf die Füße zu helfen. Klingbeil, unter Genossen liebevoll "die Axt" genannt, ist fest entschlossen, 2025 ein zweites Wahlwunder zu bewirken. Mit einer "Körperhaltung des Siegeswillens" möchte der Parteichef im Lande verlorenes Vertrauen zurückgewinnen, indem er den Menschen zumindest das Gefühl gibt, die SPD strebe nicht nur nach der Macht um der Macht willen. Sondern weil sie einen Zweck und ein Ziel verfolge und dazu einen Plan habe.

Das Füllhorn staatlicher Güte

Seit Jahren Gerhard Schröder, heute innerhalb seiner Partei verhasster als außerhalb, seine Stelle vor der Zeit aufgeben musste, ist dieser Plan geheim geblieben, aber immer wieder geändert worden. Die SPD versicherte, immer mehr Gerechtigkeit schaffen zu wollen. Dazu strebte sie an, aus staatlicher Fürsorge staatliche Rundumbetreuung zu machen. Die hart arbeitende Mitte war aufgefordert, folgsam zu sein. Versprochen wurden ihr dafür soziale Wohltaten aus dem übervollen Füllhorn der staatlichen Güte.

Das bekommt, wenn alles klappt, einen kräftigen nationalen Zungenschlag, mit dem die SPD an die egoistischen Gefühle der Wähler appellieren will. Ein neuer "Made-in-Germany-Bonus" aus "umfassenden Superabschreibungen und Steuerprämien für Unternehmen", die hierzulande in Zukunftsbranchen investieren und "gute Arbeitsplätze am Standort Deutschland" schaffen, soll noch höher besteuerte Reiche vom Bleiben überzeugen. 

Eine neue Kaufprämie, mit der die SPD Wohlhabenden mit dem Geld von Geringverdienern die Anschaffung von Elektroautos erleichtern und die heimische Automobilindustrieretten will, wird ergänzt von einer gesetzlich vorgeschriebenen E-Auto-Quoten für Leasinganbieter und Steuernachlässe für E-Autos, allerdings nur, wenn sie als Dienstwagen gefahren werden.

Auf Kurs am Kern vorbei

In Auswertung der Vielzahl an Wahlniederlagen, die die deutsche Sozialdemokratie in den vergangenen Monaten hatte einstecken müssen, bleibt die SPD auf Kurs. Ungeachtet einer auch vom parteinahen RND ventilierten Studie, nach der Inflation, Migration und Sicherheit die Themen sind, die die Menschen vor allem gelöst sehen wollen, nimmt die Partei Kurs auf einen Wahlkampf, der genau diese Themen meidet.

Für die SPD ist klar: Würde die Partei erst regieren, kämen viele Dinge, die heute im Argen liegen, schnell wieder in Schuss. Neue Schulden würde es geben, bewährterweise als "Sondervermögen" bezeichnet. Eine große Steuerreform werde dann 95 Prozent der Bürger entlasten, die Einnahmeausfälle würde allein das eine Prozent der Höchsteinkommenshaushalte tragen, das ohnehin niemand leiden kann. "Diese Reform wird den Menschen mehr finanziellen Spielraum geben und die Kaufkraft stärken. Damit kurbeln wir die Wirtschaft von unten und aus der Mitte der Gesellschaft an", heißt es in der sechsseitigen Beschlussvorlage mit dem Titel "Wir kämpfen für Deutschlands Zukunft: Wirtschaft ankurbeln, Arbeitsplätze sichern, Beschäftigte entlasten".

Das Gesicht des Wumms

"Wumms", "Doppel-Wumms" und grünes Wirtschaftswunder "wie in den 50er Jahren" (Olaf Scholz) bekommen damit ein Gesicht. Ohne die lästige Mindestlohnkommission, einst eingeführt, damit der Mindestlohn nicht in jedem Wahlkampf in einem Überbietungswettbewerb hochgetrieben wird, soll diesmal nach Parteibeschluss um weitere 20 Prozent auf dann 15 Euro steigen. Damit will die frühere Arbeiterpartei dem Fachkräftemangel entgegenkommen und die zuletzt exorbitant gestiegenen Preise in Bau und Handwerk einfangen. Gerade der Mittelstand werde profitieren. All die Bäcker, die nicht mehr backen, die Dachdecker, die nicht decken, und die Maler, die nicht mehr malen.

"Aktive Wirtschaftspolitik" nennt es Arbeitsminister Hubertus Heil, der darauf vertraut, dass die Besser- und Überverdienenden in den inhabergeführten mittelständischen Betrieben und Großkonzernen nicht so schnell aus Deutschland wegkommen, wie ihnen das Geld aus der Tasche gezogen werden kann. 

FDP-Chef Christian Lindner, in seiner letzten Saison als Spitzenpolitiker, wittert, dass "die SPD  mittelständische Betriebe stärker besteuern" will und vorhabe "mit Schulden Subventionen für geplante Investitionen an die Wirtschaft zu zahlen". Schön für die um Überleben kämpfenden Liberalen: "Die nächste Wahl entscheidet über gelenkte Verwaltungswirtschaft oder Soziale Marktwirtschaft", glaubt Lindner, unter dessen Ägide die Steuer- und Abgabenquote neue Höhen erreicht hat.

Sonntag, 13. Oktober 2024

Tugendgesetz: Die Lizenz zum Löschen

Die amtliche Liste der verbotenen Verbalgegenstände.

Die EU hat den Weg geebnet, die Bundesregierung ist ihn entschlossen gegangen. Mit dem neuen Tugendgesetz (BundTG) hat die Ampelregierung die Grundlagen für ein gedeihliches Miteinander im Internet geschaffen. Vielfalt und Freiheit ergänzen sich unter der Aufsicht der neuen Tugendwächter - von der zuständigen Bundesnetzagentur als "Trusted Flagger" bezeichnet - und schaffen einen Gesprächsraum, der niemanden ausschließt, der guten Willen ist und bereit, auf die Äußerungen von illegalen Inhalten zu verzichten.

Verbotene Verbalgegenstände

Darunter fallen neben "unzulässigen Inhalten" und der "Verletzung biometrischer Daten" eine ganze Reihe von verbotenen Verbalgegenständen, die eine "Untergruppe der Koordinatoren für digitale Dienste in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission erstellt" hat, "um die Entwicklung harmonisierter Ansätze zur Umsetzung des Digital Service Acts zu unterstützen". Das große Gesetzeswerk der EU war ursprünglich geschaffen worden, um die Macht der ausländischen Digitalkonzerne einzuhegen. Wie bei der legendären Cookie-Richtlinie geschieht das nun durch die kontrollierte Verengung der Freiheitsgrade im Netz.

Kaum ein Betätigungsbereich von Hetzern, Hassern und Zweiflern im Netz wurde vergessen. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und hat nur hinweisenden Charakter, spiegelt aber "potenzielle Bereiche illegaler Inhalte in den Mitgliedstaaten wider". Von Tierschutzverstöße über nicht näher erläuterte "Verstöße gegen den Datenschutz und die Privatsphäre" und "Verstöße gegen das Recht auf vergessen werden" (im Original) reichen die Regulierungsvorschriften bis zu "anderen Datenschutzverstöße gegen die DSGVO" und darüber hinaus bis zu "Anderen" ganz allgemein.

Die Lizenz zum Löschen

Kaum etwas, was nicht unter "unerlaubte Rede" fallen könnte und sollte. Angefangen von strafrechtlich bereits geregelten Sachverhalten wie "Verleumdung", "Holocaust-Leugnung" und "Diskriminierung" sieht die informelle Durchführungsverordnung für "Trusted Flagger" auch "Hassrede unabhängig von Medium und Inhalt (d. h. Bilder, Videos, Texte, öffentliche Ansprachen usw.) und wiederum "andere" als Grund für ein beherztes Eingreifen der lizenzierten Beobachtungs- und Meldestellen vor.

"Unerlaubt" sind weiterhin Verletzungen des Urheberrechts, Verstöße gegen das geistige Eigentum und andere gewerbliche Rechte, die Verletzung eines Geschmacksmusters und Rechtsverletzungen bei Sportveranstaltungen sowie "Verstöße gegen geografische Angaben" und die Verletzung von Geschäftsgeheimnissen. Dazu aber kommen neben "anderen" Äußerungen und Kommentaren" auch
Einträge oder öffentlich geäußerte Ansichten, die die zuständigen Stellen "negative Auswirkungen auf den zivilen Diskurs oder Wahlen" befürchten lassen. 

"Oder ähnliche Technologien"

Vor allem "ausländische Informationsmanipulation" und "Einmischung", die "Informationsmanipulation mit dem Ziel, die Integrität / den Ausgang von Wahlen zu beeinflussen" und "Andere" stehen auf dem Index. Dazu kommen "nicht einvernehmliche Inhalte, die Deep-fake- oder ähnliche Technologien
enthalten" und die Veröffentlichung von persönlich identifizierbaren Informationen über eine Person". Dabei kann es sich laut der offiziellen Liste auch um "Andere" handeln.

Eine Regelung, die alles umfasst und nichts vergisst. Das Tugendgesetz soll niemanden in Versuchung führen, womöglich nicht gesamtgesellschaftlich einhellig geteilte Meinungen zu verbreiten oder zu teilen. Der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz, inzwischen einflussreicher grüner Influencer, hat die Zielrichtung des Tugendgesetzes umrissen: Es gehe "darum, durchzusetzen, dass die Plattformbetreiber ihre eigenen Standards einhalten, die sie dem Gesetzgeber gegenüber versprochen haben", schrieb der langjährige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages: "Das betrifft nicht nur Strafrecht."

Die richtigen Ansichten

Auch guter Geschmack, die richtigen Ansichten, moralische Werte und die Herkunft von Meinungsäußerer spielen eine Rolle. Ausländer dürfen Inhalte, die nicht strafbar sind, nicht mehr in Deutschland tätigen. Art 5 GG gilt für sie nicht mehr. Allerdings gewährt der Rechtsstaat ihnen großzügig die Möglichkeit, bei umgekehrter Beweislast vor Gericht zu ziehen und nachzuweisen, dass ihre Aussagen nicht unter Tatbestände der Verbotsliste inkusive "Andere" fallen.

Polenz, obwohl selbst nicht direkt an der Formulierung der von der Bundesnetzagentur verantworteten Giftliste beteiligt, ist zufrieden mit den ersten Schritten zur Einschränkung des Wildwuchses bei der Meinungsfreiheit. Die verschärften Verhaltensregeln seien nicht darauf ausgelegt, Menschen zu kriminalisieren, argumentiert er. Ziel ist vielmehr eine Disziplinierung: Niemand wird angeklagt oder von einem ordentlichen Strafgericht verurteilt, nur weil Trusted Flagger eine oder mehrere seiner Interneteinträge als "illegal" oder rechtswidrig melden mussten. 

Auch legale Inhalte

Nur wer gegen eine Löschung oder Sperrung vorgeht und versucht die Sittenpolizei des Tugendministeriums vorzuführen, riskiert Geld und Nerven. Das allein, so die Hoffnung, schreckt  Nachahmer ab und verhindert, dass die mit dem Aufsichtssystem eingeführte schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte (Antonio Guterres) auf Protest stößt. Schon bei der Einführung des NetzDG durch den damaligen Justizminister Heiko Maas hatte der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit vergeblich gewarnt, dass das Gesetz Meinungsfreiheit und Privatsphäre bedrohe, weil Internetfirmen vorsichtshalber auch legale Inhalte löschen würden.

Das nach dem Vorbild des NetzDG entworfene EU-Recht verlangt das nicht, verbietet es aber auch nicht. "Overblocking"gilt als hinnehmbares Risiko angesichts der Gefahr, dass die Meinungsvielfalt aus dem Ruder laufen könnte, würde sie nicht von einer vom Staat beliehenen Aufsichtsbehörde auf zivilgesellschaftlicher Basis eingehegt. Als Werkzeug dazu dienen die Hausregeln der ausländischen  Plattformbetreiber, die bei deren Formulierung nicht mehr nur zur Einhaltung des Rechts verpflichtet sind, sondern weit darüber hinaus Einschränkungen veranlassen können.

Der Missionar: Unschuld vom Lande

Als "Missionar" lobt die angesehene Wochenschrift "Die Zeit" den vor aller Augen scheiternden Bundesklimawirtschaftsminister, dessen Kampagne mit #habeck4kanzler überschrieben ist.

Er hat das Ruder herumgerissen, und das nun schon mehrfach. Als stärkste Kraft in der Ampelkoalition zieht Robert Habeck Aufmerksamkeit an wie ein Magnet, er ordnete und straffte die Wirtschaft nach dem russischen Angriff neu, stellte weite Bereiche auf Kriegswirtschaft um, ließ Flüssiggasterminals an der Küste ankern und schaffte es sogar, das in der Bevölkerung so harsch kritisierte Heizungsgesetz ohne große Änderungen durchzubringen, indem er den Zeitplan nach hinten verschob.

Neue Kampagne

Längst wird Robert Habeck für diese Konsequenz gefeiert, seit seiner Übernahme der Grünen ist auch eine neue Werbekampagne für den 55-Jährigen angelaufen. Was vorher unter der Überschrift "#habeck4kanzler" eher beiläufig betrieben wurde, hat professionelles Format bekommen. Aus der Parteizentrale kommen Kommunikationskacheln, die Habeck als den "Problemlöser" rühmen. Die Erfolgsbilanz des früheren Parteivorsitzenden sei einzigartig, denn er habe quasi im Alleingang Energiemangel, Inflation und Depression besiegt. Bots und Sockenpuppen verbreiten die frohe Botschaft. Nicht alles ist schon perfekt. Aber nicht mehr weit weg davon.

Nur oberflächlich betrachtet sprechen die Konjunkturzahlen gegen die unvergleichlichen Erfolge des Bundesklimawirtschaftsministers. Die Wirtschaft schrumpft zwar seit nunmehr zwei Jahren, Deutschland stolpert mit großen Schritten in die erste länger als zwei Jahre andauernde Rezession seiner Geschichte. Doch die Wirtschaftsflaute der Ampel zur Last legen, wie es Medienarbeiter, Experten, Politiker konkurrierender Parteien und Teile einer Öffentlichkeit tun, die sich immer weiter von demokratischen Werten abwendet, greift zu kurz.

Nur der Nagel zum Sarg

Denn es sind nicht die Pläne der Grünen zum klimagerechten Umbau der Wirtschaft, die vielen neuen bürokratischen Auflagen durch den Bund und die EU, der beständige Streit zwischen den drei Ampelparteien oder der Ausstieg aus dem fossilen Energiegebrauch, die der Industrie schaden. All diese, später von Historikern womöglich als Wagnis eingeordneten Maßnahmen, waren eventuell Fehler, begangen zur falschen Zeit, begründet durch Fehleinschätzungen und Unkenntnis.

Doch sie für den atemberaubenden Abschwung verantwortlich zu machen, den Deutschland seit Jahren erlebt, greift zu kurz. Die Basis für das in Zeitlupe ablaufenden Zusammenbruch wurde in den bleiernen Merkel-Jahren gelegt, als sich Politik, Zivilgesellschaft und Medien stillschweigend darauf geeinigt hatten, dass das Land nun fertig sei. Es müsse nie mehr nichts geändert oder erneuert werden. Das Ende der Geschichte sei erreicht und damit Zeit genug, sich um dies und das und die ganze übrige Welt zu kümmern.

Ein einzigartiges Staatswesen

Es gelang, aus Deutschland ein einzigartiges Staatswesen zu machen, in dem eine überbordende Bürokratie sich unter den Augen der regierenden Parteien und der kritischen Medien immer weitere Bereiche der Gesellschaft untertan machte. Das Land hatte keine Grenzen mehr und seine Güte kannte keine. Wer mühsam und beladen war, von Sehnsucht getrieben oder unzufrieden, der konnte kommen und er wurde mit offenen Armen aufgenommen.

Zugleich mussten die rasant wachsenden Kosten für Klimaschutz, alternde Gesellschaft, europäische Träume und in regelmäßigen Abständen zu rettende Partnerstaaten, Banken und Industriezweige von immer weniger produktiv arbeitenden Bürgerinnen und Bürgern getragen werden. 

Widerspruch war feindlich

Widerspruch gab es nicht und wo er doch aufkam, bügelte ihn eine feste Front aus Demokraten, Parteisoldaten und der guten Sache verpflichteten Berichterstatter ab. Was auch immer entschieden wurde, es war richtig. Was auch liegen blieb, es lag da gut. Keine Alternativlosigkeit wurde infrage gestellt. So lästig und teuer die Meta-Bürokratie in Brüssel auch war, taugte sie doch dazu, die wirklich unbeliebten Maßnahmen zu verantworten. Wir möchten das nicht, wir müssen aber, hoben die, die zuvor in den berühmten EU-Gremien alle Entscheidungen mitgetroffen hatten, hilflos die Hände.

Hohe Steuern und umfassende Berichts- und Kontrollauflagen erstickten die Reste früherer Innovationskraft so im Vorbeigehen. Eine absurde Abgabenlast erforderte es, beständig größere Teile der Bevölkerung zu finanziell zu fördern. Wo der Staat nicht investierte, tat es schon lange niemand mehr.

Je mehr sich dieser Trend verselbständigte, desto energischer verstärkte ihn die Politik mit immer absurderen Ideen. Im Kleinen wie im Großen zog sie sich alles auf den Tisch. Aus vorgeschriebenen zwei Toiletten für die über Jahrtausende als Normmaß betrachtete Anzahl von zwei Geschlechtern wurde die Forderung, drei vorzuhalten. Während in anderen Staaten, die wie Schweden, Norwegen oder Portugal durchaus als zivilisiert gelten, stets eine Toilette für alle ausreichte. Der Applaus der veröffentlichten Meinung war ihr gewiss. 

Teuer und gemütlich

Es sind diese langfristigen Trends, die nach der Rückabwicklung von Gerhard Schröders "Agenda 2010" durch die Nach-Schröder-Generation in der SPD darüber bestimmen, wie sich das ehemals stärkste Land der EU entwickelt. Bei allen aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen hat die deutsche Wirtschaft den Anschluss verpasst. Für die traditionellen Branchen mit ihren geringen Ertragsraten hingegen sind die Standortbedingungen durch teure Energie, hohe Löhne, bescheidene Bildungserfolge der nachwachsenden Generationen und die langsam wegbröckelnde Infrastruktur nicht mehr lukrativ.

Robert Habeck hat das alles geerbt. Und vom ersten Tag seiner Amtszeit dafür gesorgt, dass es immer schneller noch schlimmer wurde. Aus der Fehleinschätzung der Grünen, dass es sich bei Deutschland um einen der führenden Wirtschaftsstandorte der Welt handele und sich an dieser Tatsache niemals etwas ändern werde, erwuchs der Anspruch, mit noch mehr Bürokratie, noch mehr staatlichem Eingreifen und noch mehr politischen Auflagen eine "Transformation" von Wirtschaft und Gesellschaft Richtung Klimaneutralität und Gerechtigkeit durchzuführen.

Der gepeitschte Sattel

Das Pferd, auf dem die "Fortschrittskoalition" in die Zukunft zu reiten glaubte, ist längst fortgaloppiert. Doch unbeirrt peitschen die drei Koalitionäre den Sattel. Mindestlohn und Bürgergeld, neue CO₂-Steuern und großzügige Zustromregeln, Ticketsteuern und Trinkhalmverbot, höhere Klimakosten für die Industrie und zugleich von den Bürgern zu tragende Kosten für die Entlastung der Industrie vor zu hohen Klimakosten - mit Robert Habeck, der die Politik der Ampel in diesem, ihrem wichtigsten ideologischen Bereich verantwortet - steht die gesamte Koalition vor einem unauflöslichen Dilemma. 

Je weniger die Kommandowirtschaft bewirkt, die den Umbau bewirken sollte, desto mehr Kommandowirtschaft wird gebraucht, um zumindest zu einigen vorweisbaren Erfolgen zu kommen.  Plan und Kommando aber führen automatisch zu Ausweichbewegungen. Und mindern damit die Erfolge. Ein Malefiz-Spiel, aus dem der "Missionar" (Die Zeit) Habeck bisher keinen Ausweg gefunden hat, abgesehen von dem, abwechselnd die schlimme Lage zu beklagen, die Verantwortung auf frühere Regierungen zu schieben und baldige Besserung durch gute Laune zu versprechen.

Verloschene Lichter

In Zeiten, in denen die Lichter des kritischen Journalismus wie die der Vernunft nicht einmal mehr flackern, reicht das aus. Nicht dafür, den ehemals so herbeigesehnten "Ruck" (Roman Herzog) heraufzubeschwören oder auch nur einen kleinen "Wumms" (Olaf Scholz) hören zu lassen. Stimmen im politischen Berlin raunen, der Minister habe das Problem noch nicht einmal erkannt, aber immerhin sind sich Klimaminister und Kanzler zuletzt darüber einig gewesen, dass "kollektive Übellaunigkeit" (Scholz) wenig bringe, "fröhlicher Pragmatismus" es dagegen erleichtere, sich ins Unabwendbare zu fügen.

Was kann ein kleines Land mit einer Regierung, die nicht einmal mehr ein Drittel der Wähler hinter sich hat, schon tun? Robert Habeck hat sich zuletzt mehrfach als der Mann zu erkennen gegeben, ohne den es viel schlimmer stände. Er habe das Land "mehr in Fahrt gebracht als jeder andere Wirtschaftsminister vor ihm", hat er gesagt. Und darauf verwiesen, dass unter seiner Ägide noch viel mehr neue Verordnungen, Maßnahmen, Anweisungen, Gesetze und Regeln erlassen wurden als in der Vergangenheit.

Weigerung der Bürger

Dass es nicht läuft und schon gar nicht gut, liegt an Russland und Putin, an China, dem Wetter, der Opposition in der Regierung und im Parlament, an der Schuldenbremse, den USA, Israel, der in Teilen nachgewiesen rechtsextremistischen Ostpartei, an Sahra Wagenknecht und der Weigerung der Bürgerinnen und Bürger, Billionen in den klimagerechten Umbau ihrer Lebensgewohnheiten zu stecken.

"Die Ampel kann nichts für die Wirtschaftsflaute" (FR), sie selbst leidet vielmehr am meisten darunter. Ließe man sie die Schuldenbremse lockern und einfach mal sechs, sieben oder acht Prozent mehr Geld ausgeben, würde es nirgendwo mehr an nichts mangeln und keinem würde es schlechter gehen, vielen aber besser. Robert Habeck ist allem Anschein nach fest entschlossen, den Kampf ums Kanzleramt nicht aufzugeben, so lange noch eine theoretische Chance besteht, durch einen glücklichen Zufall oder ein gnädiges Schicksal auf ähnliche Weise ganz überraschend in die Funktion zu scheitern wie Olaf Scholz vor ihm.

Alles andere ist wichtiger

Dafür ist der 55-Jährige bereit, die wenigen Reste von Glaubwürdigkeit, die der Berliner Politik noch verblieben sind, zu verfeuern und seinen eigenen Ruf als verlässlicher Erklärer schwierigster Sachverhalte zu opfern. Robert Habeck hat keinen Plan, aber der ist gut: Im Wettrennen mit der SPD um den Platz an der Seite des künftigen Kanzlers Friedrich Merz zeigt der so oft als verbohrter Öko-Ideologe verkannte Ex-Grünenchef, dass ihm selbst alles wichtiger ist als das, was er als seinen politischen Auftrag vor sich herträgt. 

Das Umfallen der Grünen bei der Braunkole, beim Heizungsgesetz, bei den Rüstungsexporten und bei der Zustimmung zu EU-Zuschüssen zum Bau von neuen Kernkraftwerken war nicht Ausnahme von der Regel, dass ideologiegeleitete Parteien unter allen Umständen an ihren zenralen Glaubenssätzen festhalten. Sondern das regelrechte Eingeständnis, dass auch in der ehemaligen Alternativ-Partei abseits des Strebens nach Macht und nach ihrem Erhalt keine Regel zählt.


Samstag, 12. Oktober 2024

Zitate zur Zeit: Verbrannte Erde


Wir bekämpfen nicht nur feindliche Armeen, sondern ein feindliches Volk, und müssen deshalb dafür sorgen, dass Alt und Jung, Reich und Arm die harte Hand des Kriegs ebenso zu spüren bekommen wie deren Armeen.

Generalmajor Philip Henry Sheridan, Befehlshaber der Shenandoah-Armee und Erfinder der Taktik von der verbrannten Erde, 1864

Zurück zur Volkspartei: Das grüne Chamäleon

Auf den ersten Blick zu erkennen: Christian Ulmen (l.) in seiner bisher größten Rolle als künftiger Grünen-Chef "Felix Banaczak".

Er ist offiziell ein Stubenhocker aus Leidenschaft, aber bekannt für seine großen Rollen in Film und Fernsehen. Christian Ulmen verbringt seine Freizeit gern in den eigenen vier Wänden, er ist keiner, der unentwegt in Talkshows auftaucht oder mit Hobbys, sportlichen Leistungen oder prominenten Freunden hausieren geht. Im "Tatort" gab er einen zauseligen Kommissar, in "Herr Lehmann" einen typischen westdeutschen Aussteiger und für seinen Auftritt in "Mein neuer Freund" heimste er den bayrischen Filmpreis ein. Ein Sympath, eher still und unaufgeregt, aber immer an Experimenten interessiert.

Sein größtes Abenteuer

Sein größtes Abenteuer bereitet Ulmen offenbar in diesen Tagen vor. Nach der Neuordnung der Grünen-Spitze durch den Bundesklimawirtschaftsminister, der die bisherige Parteiführung suspendierte und sich anschickt, die einstige Öko-Partei kampagnenfähig für die kommende Bundestagswahl zu machen, tauchte mit Felix Banaszak ein bis dato weitgehend unbekannter Kandidat für die Nachfolge der beliebten Doppelspitze aus Omid Nouripour und Ricarda Lang auf. Ansatzlos verkündete der neue Mann ein neues Mantra: "Wir Grüne haben uns viel zu lange von anderen definieren lassen. Ich will dabei helfen, dass diese Zeiten enden - und die Grünen zu alter Stärke zurückfinden." 

Banaszak definiert die nach dem plötzlichen Umbesetzungsmanöver schon als "Bewegung Robert Habeck" kritisierte frühere Volkspartei als Problemlösungskraft, die weiß "wie man arbeitet". Er strahlt Tatkraft aus, Charisma und Entschlossenheit, verweist auf eine Biografie, die Jahre an der Spitze der grünen Jugend und die für Nomenklatura-Kader übliche lange, harte Schule im Parteiapparat und in den Abgeordnetenbüros mehrerer grüner Parlamentarier zeigt. 

Kein "typischer Grüner"

Der Mann, offiziell aus dem "Ruhrpott", wolle kein "typischer Grüner" sein, belegt ein Porträt in der "Zeit", das sich liest, als habe es eine KI nach der Vorlage früherer Greta-Thunberg-Porträts geschrieben. Er sei weder verbiestert noch zeigt er die typischen Allüren spätgrüner Dekadenz.  "Als der 34-Jährige im Bundestag wie aus dem Nichts im Erdgeschoss des Jakob-Kaiser-Hauses auftaucht, grinst er bubenhaft und wie oft etwas schelmisch", schildert Jana Hensel ihre Begegnung mit dem Kandidaten aus den grünen Hinterbänken, der das Abrutschen der Grünen in die Bedeutungslosigkeit aufhalten soll. Was für ein Mann. Was für ein Hoffnungsträger.

Kinobesucher und Fernsehfans allerdings stutzten sofort. Aber den kennt man doch? Ist das nicht? Endlich sieht man den mal wieder, raunte es in Foren von Filmkunstfreunden und Kinofans. Der Augenschein vermag in der Tat kaum zu täuschen: Dieses verschmitzte Lächeln. Der Dreitagebart. Die Windfrisur mit den bescheidenen Locken. Christian Ulmen, 2020 zuletzt im Kino zu sehen und 2021 damit seinem letzten Fernsehauftritt, ist offenbar wieder da, bereit zu seiner bislang größten Rolle als "Felix Banaszak".

Der Glückliche

Der Name ist Programm. "Felix" heißt "der Glückliche", "Banaszak" steht im Polnischen für "mir wesentlich" oder auch "mir wichtig". Literaturkennern fallen natürlich sofort die berühmten "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" ein, den Thomas Mann zwar nur in Notizen fertigstellte, der aber dennoch Millionen bewegt hat.

Hanskenvin Jamosch, der hinter der Entwicklung der ersten aus echten Spielszenen echter Schauspieler in echten Parteigremien und Parlamenten stehenden Streaming-Doku "Am grünen Tisch" (Arbeitstitel) steht, lächelt. "In Manns ,Der Memoiren erster Teil' erfährt man nur etwas über die Jugend des Titelhelden", sagt der Literariker und Exposeexperte, der schon für Amazon und Paramount gearbeitet hat. Die Fortsetzung mit Christian Ulmen solle nun, angesiedelt in einer gänzlich anders gearteten Zeit, "den nach dem Vorbild des prominenten Hoteldiebes Georges Manolescu modellierten Helden aus der Tradition des Abenteuer- als auch des Schelmenromans herausführen".

Im bürgerlichen Heldenleben

 Ziel sei es, ihm einen Platz im "bürgerlichen Heldenleben" (Carl Sternheim) zu sichern, wie der studierte Kinderbuchautor Jamosch sagt. Die Chancen für das am Vorbild des großen Günter Wallraff orientierten Vorhabens stehen gut. Christian Ulmen gilt als wahres Chamäleon, der allen seine Rollen seinen ganz persönlichen Stempel aufzudrücken weiß. Egal, in welche Rolle er schlüpft, am Ende steht immer Christian Ulmen vor der Kamera, ein sympathischer Kerl, dem keiner böse sein kann. 

"Wir gehen davon aus, dass seine Bekanntheit auch die Sympathiewerte für die Grünen wieder nach oben schnellen lässt, sobald die Ausstrahlung der ersten Staffel beginnt", sagt Hanskevin Jamosch. In vergleichbaren Fällen hätten Dokumentationen stets nicht nur die Bekanntheit ihrer Protagonisten gesteigert, sondern immer auch deren Beliebtheit. "Das war auch der Grund, weshalb sich die Grünen auf unser Angebot eingelassen haben, nach all den Jahren mit Amateuren ohne höhere Abschlüsse und Qualifizierung einen Profi aus der Schauspielbranche an der Parteispitze zu platzieren."

Sympathiepunkte sammeln

Jamosch, der "House of Cards" und "Borgen" als zwei seiner Lieblingsserien nennt, gibt zu, selbst gespannt zu sein, "inwieweit es uns gelingt, mit Christian in der Hauptrolle so viel Sympathiepunkte zu sammeln, dass die politischen Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre und die Skandale bei der Bundestagswahl keine Rolle mehr spielen". Dem bisherigen grünen Vorstand aus Omid Nouripour und Ricarda Lang habe er bei der Vorstellung des Projektes versprochen, dass es gelingen werde, das Ruder herumzureißen und auf den Weg zur Volkspartei zurückzukehren. "Beide sind Ulmen-Fans, beide haben sofort gesagt, okay, für dieses Vorhaben opfern wir uns sehr gerne."

Freitag, 11. Oktober 2024

Neidkultur: Deine Äpfel, meine Birnen

Äpfel- und Birnen-Vergleiche gehören zum Handwerkszeug der Desinformation.

Neid und Gier, das Schielen auf Dinge, die ein anderer hat, und die Unterstellung, dass man selbst es viel mehr verdiene, sie sind der Zaubertreibstoff unter Debatten für höhere Steuern, höhere Abgaben, die Enteignung von Erben und das Teilen dessen, was jemand besitzt, bis er nicht mehr hat als alle anderen. Für gewöhnlich erfolgt der Startschuss einer solchen Diskussion, wenn im Staatshaushalt Geld fehlt.

Hochentwickelte Neidkultur

Ein Automatismus greift sofort, zumindest in Deutschland, das über eine weltweit bewunderte hochentwickelte Neidkultur verfügt. Millionäre und Milliardäre stehen dann auf der Abschussliste, sie sollen zur Kasse gebeten werden, um ein Staatswesen, dessen herausragendes Talent darin besteht, unabhängig von der Kassenlage und ungeachtet seiner Einnahmen immer viel zu wenig Geld für all das zu haben, was seine Politiker als notwendig umzusetzende Vorhaben sehen. 

Selten nur kommt Widerspruch von denen, denen auch Geld fehlt, denn niemand möchte es sich mit denen verderben, die spätestens vor der Wahl mit der Geldgießkanne umherziehen und verschenken, was ihnen nicht gehört. Umso erstaunlicher, dass das WDR-Wissenschaftsmagazin Quarks jetzt mit einer ungewöhnlichen Pranger-Kachel auf die Einkommenungleichheit hingewiesen hat, die auch nach dreieinhalb Jahren Ampel-Regierung herrscht.

Fünfzehn mal länger als der WDR-Intendant

Danach benötigt ein deutscher Durchschnittseinkommensbezieher fast 156.000 Jahre, um so viel Geld zu verdienen, wie der US-Milliardär Elon Musk in einem Jahr bezieht. Und noch schlimmer: Das ist das Fünfzehnfache des Zeitraumes, den ein WDR-Intendant benötigt, um mit Musk gleichzuziehen.

Hätten Sie es gewusst? Oder auch nur geahnt, dass Musk vor zwei Jahren kurzerhand so viel Vermögen verlor wie die Bundesregierung im selben Jahr für die Preisbremse für fossile Energie aus dem Fenster warf? Mit dem Unterschied, dass Musk sein Geld inzwischen wieder hat, das der Steuerzahler aber jemandem anderen gehört?

Absichtlich täuschen

Die Wissenschaft könnte es erklären, Quarks kann es nicht. Die Redaktion in Köln ist eine Fabrik für Fragezeichen und Angstparolen, dank der emsigen Vergleicher und Einordner vom Rhein werden "werden extreme Ansichten plötzlich sagbar"  und eine Demokratie widerstandsfähiger  durch "demokratische Resilienz". Wichtig sei, haben die Experten in Köln festgestellt, dass die Gesellschaft lernen müsse, dass "Falschinformationen eine Gefahr für den demokratischen Diskurs" sind. Konkret weist Quarks auf Informationen hin, "die absichtlich erfunden, verzerrt oder manipuliert wurden, um zum Beispiel Nutzer und Nutzerinnen sozialer Medien zu täuschen".

46,8 Milliarden US-Dollar verdient Musk nach aktuellem Tesla-Kurs zwischen 2018 und 2030, also etwa 3,6 Milliarden im Jahr, wenn alles gut geht. Ein deutscher Durchschnittsverdiener mit rund 45.000 Euro Jahreseinkommen bräuchte folglich etwa 80.000 Jahre, um auf ein Musk-Jahresgehalt zu kommen. Der Intendant des WDR hingegen nur ganze 8.500. Der Quarks-Post liegt inzwischen zur Begutachtung des Hassgehalts bei einem lizensierten Trusted Flagger.

Heldendämmerung: Das Märchen vom Übermädchen

Greta Thunberg hat ein neues Thema: Sie kämpft jetzt gegen Israel.

Sie prägten eine ganze Ära, wenn sie auch kurz war. Sie waren die Gesichter einer Zukunft, die anders sein würde als von alten, weißen Männern geplant. Gerechter. Nachhaltiger. Kollektiver. Und weniger darauf bedacht, es bequem zu haben, warm und satt.

Junge Frauen und Männer schickten sich am Ende der Zehnerjahre an, die Welt zu verändern. Eben noch kannte kaum jemand ihre Namen, und plötzlich schon waren sie in allen Fernsehsendungen. Greta Thunberg, das kleine Mädchen, das sich mit dem Klima anlegen wollte. Kevin Kühnert, der mutige Sozialist, der die SPD wieder zu einer Partei für die machen wollte, die dank ihrer Politik nie die Chance bekommen werden, reich zu sein. Ricarda Lang auch, die nie zögerte, wenn es darum ging, Stellung zu beziehen. 

Feierliches Namentanzen

Es gab natürlich noch mehr von ihnen, etwa Luisa Neubauer, Carla Reemtsma, Sarah-Lee Heinrich, Timon Dzienus, Jessica Rosenthal und Emilia Fester, die das feierliche Namentanzen im Bundestag etablierte. Alle waren fortschrittlich, alle kamen aus guten Elternhäusern und hatten das Richtige gelernt. Alle wollten die Welt sehr schnell zu einem anderen Ort machen, in dem der neue Mensch ein neues Zuhause findet und leben kann, ohne dass alle gleichermaßen glauben, sie könnten sich ihr Stück vom Kuchen einfach nehmen. Die Zukunft war hell, die Zukunft war nice, wie die jungen Leute sagen.

Doch mit dem Rücktritt der Grünen-Spitze, dem Austritt der Grünen Jugend aus der führenden Fortschrittspartei und dem Rückzug des beliebten SPD-Generalsekretärs Kevin Kühnert aus der Politik - nur sein Bundestagsmandat will der erkrankte Politiker bis zum kommenden Jahr weiter ausüben - brach der Trend zu einer jugendlicheren, unbekümmerten und allein noch von moralischen Vorstellungen geleiteten Politik abrupt ab.

Das bedröppelte Gesicht

Luisa Neubauer, das selbsternannte Gesicht von "Fridays for Future", war zuvor schon in der Unsichtbarkeit verschwunden. Carla Reemtsma hatte sich radikalisiert, Rosenthal war Mutter geworden, Fester ("Für die Jugend im Bundestag"), hielt ihre letzte Rede im Bundestag im April, seitdem tanzt sie nur noch.

Es ist aber ausgerechnet Greta Thunberg, das einstige Klimakind, mit dem alles begann, die heute zeigt, dass es zu Ende ist. Die Schwedin, die in ihren letzten Teenagerjahren von einer enthemmten und jeder ethischen Verantwortung bloßen Presse zu einer Mischung aus Jesus, Papst, Mohammed und Jeanne d'Arc verklärt worden war, unfehlbar, rein und göttlichen Blutes, fiel zuerst aus der Klimagnade. Und entpuppt sich nun vor den Augen derer, die sie vor fünf Jahren zu einer lebenden Ikone voll kindlicher Weisheit erklärt hatten, zu einer gewaltgeneigten Göre, aus deren öffentlichen Äußerungen die beschränkte Einsichtsfähigkeit spricht, für die mangelnde Bildung und ideologische Verbohrtheit stets eine sichere Gewähr sind.

Ohne einen Blick

Wie war die Empörung groß, als Donald Trump sie ohnen eine Blick links liegen ließ. Wie drängelten die anderen alle, mit ihr gesehen und fotografiert zu werden. Vor der Uno durfte sie sprechen, heute womöglich der letzte Platz, an dem ihr die Rednerbühne weiterhin offenstände, schließlich fühlt Uno-Chef António Guterres Wahrheiten auf ganz ähnliche Weise wie die Wanderpredigerin eines auf Glauben beruhenden Wissenschaftsverständnisses. Anderenorts aber gilt die Heldin inzwischen als Hexe, ihr Einsatz für die "palästinensische Sache" (Georg Restle) und ihr selbstbewusst vorgetragener Antisemitismus bescheren ihr Verfolgungswünsche und Remigrationsfantasien.

Solidarität von denen, für die sie noch weit mehr war als das Symbol des Überlebenskampfes der Menschheit gegen die kapitalistische Klimazerstörung erfährt Greta Thunberg nicht. Alle ihre Freunde haben sie verlassen, ihre Anhänger haben sich zerstreut. Gerade in Deutschland wirkt das offene Bekenntnis zum Hass auf die Juden und ihren Staat wie ein Feueralarm im Kino: Die Sitze leeren sich in einer Geschwindigkeit, gegen die das hektische Gedränge am Einlass, als es um gemeinsame Selfies mit dem Star ging, wie Zeitlupe wirkt.

Übermädchen aus der Klimazukunft

Die Bilder von Prominenten mit dem Übermädchen aus der Klimazukunft, sie haben sich in Aufnahmen verwandelt, die ähnlich umsichtig behandelt werden müssen wie die mit Harvey Weinstein, auf die Politiker, Wirtschaftsführer und Kulturschaffende über Jahre so stolz gewesen waren. Lieber nicht mehr zeigen, besser gut verstecken. 

Was einst Unschuld war, die sich bedenkenlos missbrauchen ließ, ist zu einer Gefahr geworden, weil die Trägerin der "Goldenen Kamera" und des alternativen Nobelpreises, Ehrendoktorin der Universität Mons und der Universität Helsinki, die "Person of the Year" des Jahres 2019 und Namenspatin der Käferart Nelloptodes gretae aus der Familie der Zwergkäfer unkontrollierbar irrlichtert. Jeder, der versucht, mit Hinweis auf herausfordernde Jugend der Schwedin Verständnis für die rabiate Parteinahme für Terroristen und Mörder zu wecken, läuft Gefahr, mit Thunberg in einem Abgrund aus öffentlicher Verachtung zu versinken.

Schicksalskind als Anführerin

Dass das Handeln der jungen Frau ohne Bildungsabschluss, die über Jahre hinweg den Eindruck hatte vermittelt bekommen, das Schicksal der Menschheit bestimmen zu dürfen, nur konsequent ist, fällt dabei leicht unter den Tisch. Thunberg hatte als jugendliche Anführerin einer Endzeit- und Erlösungsbewegung riesige Erfolge mit Parolen wie "Hört auf die Wissenschaft" und "Ich will, dass ihr Angst habt" gefeiert. 

Die vom kindlichen Gemüt ersehnten schnellen Fortschritte im Klimakampf aber stellten sich nicht ein, vielmehr wandten sich selbst die Schülerscharen, die anfangs zur Bewegung" erklärt worden waren, bereits nach kurzer Zeit ab, gelangweilt und im Wissen, dass der Höhepunkt der Aufmerksamkeit schon überschritten war.

Untergang in der Klimahölle

Der Untergang in der Klimahölle war vielfach beschworen worden, aber nicht eingetreten. Der Kapitalismus zeigte keinen Hang zur Selbstaufgabe. Der Kampf um Lützerath, das letzte große Gefecht, das der ideologisch fest verschworene harte Kern der klimapolitischen Antiimperialisten führte, ging verloren. Die Nachhutbewegung "Letzte Generation" verspielte den Rest aller noch verbliebenen Sympathien in der Bevölkerung, deren Sorge angesichts steigender Preise, bedrohter Arbeitsplätze und eines Krieges nahe der eigenen Haustür so ziemlich allem galt. Nur nicht mehr dem Wetter des Jahres 2100.

Wie andere, die den Aktivismus zu ihrem Beruf gemacht hatten, blieb Thunberg nichts anderes übrig, als sich neuen Betätigungsfeldern zuzuwenden. Erst wetterte sie gegen den Kapitalismus, ohne dass ihr noch jemand zuzuhören bereit war. Dann endlich fand sie in Israel einen Feind, auf den sich im selben Duktus schimpfen ließ wie früher auf die fossilen Konzerne und ihre handzahmen Politikergehilfen. 

Mit Maske und Kufiya

Thunberg, die immer noch Maske trägt, als wäre Corona nicht längst von höchster Stelle abgesagt, ergänzt ihre Tracht nun regelmäßig mit einer Kufiya, dem Hals- und Kopftuch, das in der irakischen Stadt Kufa erfunden wurde, durch mit Hitler verbündeten islamistischen und antisemitischen Großmufti Mohammed Amin al-Husseini aber als "Palästinensertuch" etabliert wurde.

Kulturelle Aneignung? Ein falsches Zeichen in Zeiten, in denen der Antisemitismus grassiert? Nein, Thunberg kann es tragen, denn bei ihr wirkt mittlerweile jede Verkleidung demaskierend.

Donnerstag, 10. Oktober 2024

Abrechnung mit Orban: Gegrillter Gulasch

Nach Angaben aller Spielbeobachter wurde der Angriff Ungarns auf die Einheit der Union von Ursula von der Leyen entschieden zurückgeschlagen.

Der letzte Diktator in der EU hatte sich wohl einiges ausgerechnet, um die Gemeinschaft weiter zu spalten. Nachdem Deutschland wenigen Tagen in eine vom ungarischen Machthaber Viktor Orban gestellte Falle getappt war und mit der Fidesz-Regierung gegen den von einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten präferierten Wirtschaftskrieg mit China stimme, wollte der alte Fuchs vom Budapester Burgberg die Gelegenheit nutzen und die klaffende Kluft inmitten der Union vertiefen.  

Der perfide Plan

Ein perfider Plan. In die Karten spielt dem 61-Jährigen dabei der Umstand, dass Ungarn in diesen Tagen die EU-Präsidentschaft innehat - eine Gelegenheit, die andere Staaten regelmäßig nutzen, um die eine oder andere neue Ära für die Gemeinschaft beginnen zu lassen. Orban aber hatte anderes im Sinn: Ungeachtet aller Erfolge, die die Staatenfamilie der 27 seit Jahren feiert, kritisierte er die EU für ihr angeblich seit fast einem Jahrzehnt andauerndes Versagen in der Asylpolitik. Er forderte, die weltweit als Vorbild angesehene Strategie des "Green Deal" über Bord zu werfen und Europa "wieder groß" zu machen. Dazu sollten zentrale und weit in die Zukunft weisende EU-Beschlüsse der vergangenen Jahre rückgängig gemacht werden.

"Das europäische Asylsystem funktioniert einfach nicht", behauptete Orban, nach dessen Vorstellung die EU Asylverfahren für Migranten in Drittländern durchführen müsse, um nur die einzulassen, die wirklich schutzbedürftig seien. Mehrfach von den obersten Gerichten verurteilt worden war. Der Ungar verstieg sich sogar zu Behauptung, illegale Migration führe zu wachsendem Antisemitismus, wachsender Gewalt gegen Frauen und wachsender Homophobie. Dem müsse durch ein neues Grenzregime begegnet werden.

Krude Thesen

Anderenfalls, so die krude These des Chefs des von EU-Gerichten bereits mehrfach als Schurkenstaat überführten Ungarn, bestehe das Risiko, dass der ursprünglich grenzkontrollfreie Schengen-Raum durch Alleingänge einzelner Regierungen - zuletzt hatte Deutschland beschlossen, seine Grenzen wieder zu kontrollieren - auseinanderbreche. 

Die ultimative Forderung, als Gegenmaßnahme gegen die "zu wachsendem Antisemitismus, wachsender Gewalt gegen Frauen und wachsender Homophobie" führende "illegale Migration", gleich "regelmäßige Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Schengen-Staaten" abzuhalten, traf allerdings auf entschiedenen Widerstand. Europa zeigte sich stark und einig.

Abgeordnete der sozialistischen Fraktion, zu der neben der SPD auch die russophile Ex-Staatspartei des bulgarischen Kommunismus und die als Sammelbecken der ehemaligen kommunistischen Nomenklatura geltende rumänische PSD (z.Z. suspendiert) gehört, hielten Schilder mit der Aufschrift "Demokraten gegen Autokraten" hoch. Ihre mutigen Kollegen von Linksaußen stimmten sogar die antifaschistische Hymne "Bella Ciao" an, in der es heißt "Partisanen, kommt, nehmt mich mit euch, denn ich fühl', der Tod ist nah."

Schlacht um die Herzen

Die Schlacht um die Herzen von 440 Millionen Europäern aber entschied einmal mehr Kommissionspräsidentin von der Leyen, die der radikalen Kehrtwende in den zentralen Bereichen der Europapolitik eine Absage erteilte. Vor den Augen Tausender - allein bei Euronews schauten fast 28.000 gebannt zu - rügte Ursula von der Leyen deutlich. Ohne auch nur mit einem Wort auf Orbans Vorschläge einzugehen, ging die trotz fehlender Kandidatur zur EU-Wahl triumphal wiedergewählte Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei in die Offensive.

Statt mit Orban zu diskutieren, kritisierte Ursula von der Leyen die ungarische Regierung unter anderem dafür, Schleuser vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen zu haben, statt sie so lange wie möglich wegzusperren, Russen ohne zusätzliche Sicherheitschecks ins Land zu lassen und es der chinesischen Polizei zu erlauben, in Ungarn zu arbeiten. Von der Leyen weiß, was die Bürgerinnen udn Bürger wirklich bewegt: Auf Kriminalität und Terrorismus, Inflation und Ängste um den Arbeitsplatz ging sie deshalb gar nicht erst ein.

Der Hintertürsteher

Die von Ungarn geöffnete "Hintertür für ausländische Einmischung", so legte von der Leyen nahe, besorge die Menschen draußen in Europa, nicht die Abkopplung der EU von russischem Öl und Gas, die das weitgehend fehlende Wachstum in Europa gar nicht bedrohe. Auch die Klimapolitik, die die EU bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen wird, verteidigte sie nicht - von der Leyen weiß, dass die Europäer geschlossen hinter dem Aufbauplan für Europa, dem Green Deal und der Next Generation EU stehen.

Unmittelbar ging die eben erst wieder mit ihrem Amt betraute Deutsche auf die "Friedensinitiative" des Ungarn im Ukraine-Krieg ein. Von der Leyen "grillte" (Der Spiegel) den Rechtsnationalisten, der für Trump schwärmt und - statt wie der deutsche Kanzler um ein Telefonat mit Putin zu bitten -, direkt und ohne EU-Genehmigung nach Moskau gereist war.

Vehementer Widerspruch

Von der Leyen feierte Satz und Sieg. Orban habe sogar "den Blickkontakt vermieden", überrascht davon, wie vehement ihm auch andere Parlamentarier widersprachen. Als "nützlicher Idiot Chinas" und Russlands bloßgestellt, sehe die "die Mehrheit der EU-Abgeordneten in Orban nur noch einen korrupten Möchtegern-Autokraten", fasste der FDP-Abgeordnete Moritz Körner das spätere Medienecho in Deutschland knapp zusammen.

Ob es sich bei diesen Bezeichnungen um Hassäußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze oder um illegale Inhalte, Hass und Fake News handelt, die sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden müssen, liegt nun im Ermessen von Trusted Flaggern nach den geltenden Regeln der deutschen Umsetzung des DSA.

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Mission Kontrolle: Friedensrichter für die Meinungsfreiheit

Lieber zu viel als zu wenig: Im Kampf gegen den Missbrauch der Meinungsfreiheit ist die neue Erfindung der Trusted Flagger ein wichtiger Baustein.

Für die Meinungsfreiheit sollte es ein entscheidender Baustein werden, ein wichtiges Stück Brandmauer, das die Menschen im Netz schützt vor irritierenden Ansichten und modernen Märchen. Die Berufung von "Trusted Flaggern", zu Deutsch so viel wie Blockwarte oder Meinungskontrolleure, folgt dabei einer Geheimdienstlogik, die deutschen Behörden im Kampf gegen den Terror gute Dienste geleistet hat.

Umgangene Tabus

Weil sie selbst im Inland nicht spionieren dürfen, vertrauten BND und MAD über Jahre hinweg ausländischen Diensten. Sie revanchierten sich für die Dienstleistung, indem sie im Gegenzug selbst  Ware heranschafften. Berühmt geworden sind die "Selektoren", nach denen deutsche Geheimdienste die Netze durchkämmten, ohne sie selbst zu kennen. Die geheime Schnüffelei wurde erst die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden bekannt. Hatte aber kaum Folgen.

So funktioniert das also. Was man selbst nicht darf, wird als Auftrag ausgeschrieben - diesmal an bürgerschaftlich engagierte Institutionen, die für ihre Arbeit bezahlt werden, sobald sie vom Digital Services Coordinator (DSC) der Bundesnetzagentur BNetzA lizenziert worden sind. Um Zensur handelt es sich dann nicht mehr, wenn einer der Mitarbeiter von "Respect!", "Correctiv" oder "HateAid" einen verdächtigen Internetkommentar an die gastgebende Plattform meldet und die den inkriminierten Inhalt umgehend löscht. 

Ohne bürokratische Hürde

Das Grundgesetz mit seinem Artikel 5, nach dem jeder das Recht hat, "seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten" findet seine Grenzen nicht in allgemeinen Gesetzen. Sondern im Hausrecht von Facebook, X, Instagram oder TikTok. 


Unternehmen, die die Vorwürfe der "Flagger" natürlich prüfen sollen. Doch das kostet Geld und geht die Prüfung schief, kostet es noch mehr Geld. Schneller gespart wird durch schnelles Löschen mehr Geld als die andere Möglichkeit, "illegale Inhalte, Hass und Fake News sehr schnell und ohne bürokratische Hürde" (Klaus Müller, BNetzA) zu "entfernen". (Müller).

Einhegung des Wildwuchses

Europa hat sich damit einen smarten, grundgesetzkonformen Weg geebnet, die ärgerlichen Auswüchse einer Rechtssetzung zu umfahren, die beschlossen wurde, als Internetplattformen, auf denen jeder alles schreiben kann, noch nicht einmal als Idee existierten. Vor zehn Jahren noch ein unausgegorener Vorschlag des damals neuberufenen Chefs des Bundesblogampelamtes (BBAA) im mecklenburgischen Warin, hat sich die Methode zur Einhegung des Wildwuchses an Auffassungen, Ansichten und Sichtweisen heute längst durchgesetzt.

Zwar hatte der als Netzreiniger auftretende Franzose Thierry Breton noch vor kurzem seinen Posten als EU-Kommissar verloren. Aber nicht, weil er mehr als 400 Millionen Europäern enge Aufsicht über Äußerungen androhte. Sondern weil er die Segnungen der europäischen Deutung von Meinungsfreiheit als staatsgegebenes Privileg, das jederzeit entzogen werden kann, auch auf die USA hatte ausdehnen wollen.

Spiel auf der Grundlinie

Die Grundlinie der Gemeinschaft steht. Bürgerinnen und Bürger werden penibel im Auge behalten und durch aufsehenerregende Präzedenzfälle wird dafür gesorgt, dass vor jeder öffentlichen Äußerung mögliche Konsequenzen mitbedacht werden. Für Deutschland, mit 850 Auskunftsersuchen an Apple, Google, Meta und Microsoft je 100.000 Einwohner schon zwischen 2013 und 2022 auf Platz zwei weltweit hinter den USA, ist die der Digital Service Act der EU ein Geschenk. Deutsche Politiker haben ihn mitgeschrieben und mitbeschlossen, können aber nun, wo sich die Folgen zeigen, darauf verweisen, dass Brüssel sich das ausgedacht habe und man als guter Mitgliedsstaat nun umsetzen müsse. 

Die Aufgabe zugefallen ist einem ganzen Geflecht aus grünen Freunden der Meinungsfreiheit. Ganz oben das Ministerium von Robert Habeck, darunter die vom Grünen Klaus Müller geführte Bundesnetzagentur. Müller ist kommissarisch auch Leiter der Lizenzvergabestelle DSC, die die Zensurgenehmigungen prüft und erteilt. Der erste staatliche anerkannte Trusted Flagger wird von der "Stiftung zur Förderung der Jugend" in Baden-Württemberg getragen, die von der Grünen-Politikerin Petra Densborn geführt wird. 

Wer Einspruch einlegt gegen eine nach Meldung durch die vertrauenswürdigen Meinungsfahnder erfolgte Sperrung, landet bei einer wiederum von der DSC der BNetzA "zertifizierten Streitbeilegungsstelle", die nach den Vorgaben des Digital Service Act eine Art Paralleljustiz etablieren soll. Die "User Rights" GmbH bezeichnet es als ihre "Mission", "einen angemessenen grundrechtlichen Rahmen für den Diskurs im Netz zu entwickeln". Sie bezeichnet sich als "unabhängig" und sie finanziert sich "durch Gebühren, die von den Online-Plattformen getragen werden". Die Geschäftsidee: Je mehr "illegale Inhalte, Hass und Fake News", desto mehr Meldungen, desto mehr Beschwerden, desto mehr Einsprüche, desto mehr Einnahmen.

Fallbearbeitung mit Erfolgsprämie

Die Gesamtkosten einer "Fallbearbeitung" beziffert User Rights in einer Kostenordnung auf 206 Euro in einem "einfachen Verfahren", auf 440 Euro im "durchschnittlichen" Verfahren und auf 700 Euro in einem "komplizierten" Fall. Dazu kommen bei "Leitentscheidungen" 1.500 Euro Erfolgsprämie, die "vollständig an die Sachverständigen weitergereicht" wird.

War es bisher Aufgabe von Gerichten, die Grenzen der Meinungsfreiheit zu ziehen, übernehmen das nun anonyme Friedensrichter, von User Rights "Streitschlichter" genannt. Die höchstinstanzliche Prüfungsstelle für Zensurversuche versichert, dass "bei uns immer eine Juristin oder ein Jurist entscheidet", der "ein abgeschlossenes Studium der Rechtswissenschaften" besitze - mutmaßlich eine Vorgabe, die die drei Gründer des Start Ups mit Sitz in der Berliner Friedrichsstraße im Grundgesetz gefunden haben.

Geschäftszweck Meinung

Während die "Jugendstiftung" aus Baden-Württemberg, die ursprünglich hatte "Neugierde stiften, Projekte junger Menschen begleiten und innovative Programme der Jugendbildung entwickeln" wollen, nun bundesweit als Meinungsaufsicht tätig wird, prüft die "Schlichtungsstelle", ob die neu entwickelte EU-Zensurbürokratie im Zusammenspiel von staatlich finanzierten Meldegängern und vom Gesetz zu schnellen Löschungen "ohne Bürokratie" (Klaus Müller) verpflichteten Plattformen wie gewünscht funktioniert oder über das Ziel hinausschießt.

Noch steckt die "nette Idee" einer Kontrolle der Meinungsfreiheit zum Bedauern des SPD-nahen Berliner Portals RND "in den Kinderschuhen". Sie muss nun gehen lernen, durchregieren, sich im wahrsten Sinne des Wortes durch scharfe Maßnahmen Respect! verschaffen. Beabsichtigt ist nichts weniger als eine Quadratur des Kreises: Einerseits sollen unliebsame und verdächtige Äußerungen schnell und unbürokratisch ausradiert werden. Andererseits entscheiden letztlich weiterhin nur ordentliche Gerichte darüber, was im Rahmen der Grundrechte zulässig ist und was nicht.