Mittwoch, 9. Juli 2025

Der Fingerabdruck der EU: Immer wenn es schon zu spät ist

Allianz für die Chemieindustrie
Die EU kümmert sich in Europa um alles, jetzt auch um kritische Moleküle.

Kaum hatte der nächste Großkonzern angekündigt, seine Geschäftstätigkeit in Deutschland im Sinne der Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit zurückfahren zu wollen, reagierte Brüssel wie immer, wenn es zu spät ist. Eine "Allianz für die Chemieindustrie" wollen die Kommissare diesmal gründen, wenn auch erst, nachdem "kritische Moleküle identifiziert" worden sind. Danach sei Brüssel bereit, die Produktion zu fördern. Europa soll so unabhängiger von Lieferungen aus anderen Staaten werden, die die Reste der hierzulande verbliebenen  Chemieproduktion mit Vorprodukten füttern.

Fingerabdruck der EU 

Es ist der Fingerabdruck der EU, der sich im nun auch in dieser Branche zeigt. So lange es irgendwo gut läuft oder auch nur halbwegs erträglich, ist es Brüssel mit seiner gigantischen Bürokratiemaschine, das für immer neue Lasten sorgt, die Industrieunternehmen, der Handel, das Handwerk und die Kunden tragen sollen, um die hochfliegenden Pläne einer Gesellschaftsumgestaltung von oben zu finanzieren. 

Von der DSGVO-Verordnung und den Ökodesign-Vorschriften über die Verordnung über entwaldungsfreie Produkte und die Verordnung über entwaldungsfreie Produkte führt ein gerader Weg zur CO2-Abgabe, die Lieferkettensorgfaltspflichten  und den KI Act, der die europäische Wirtschaft wirksam daran hindert, im globalen Wettbewerb um eine Zukunftstechnologie bestehen zu können. 

Klagen kommen nie an 

Das geht alles lange gut, weil die Regeln in den meisten Mitgliedstaaten eher salopp umgesetzt werden. In den anderen knirschen die Zähne, doch eine Wirtschaft wie die deutsche kann zusätzliche Bürokratiekosten durch Informationspflichten und entgehende Wirtschaftsleistungen tragen, obwohl sie nach Schätzungen des Ifo-Instituts mittlerweile bei bis zu 146 Milliarden Euro pro Jahr liegen. Klagen kommen in Brüssel ohnehin nicht an, darauf haben die Konstrukteure der europäischen Wertegemeinschaft großen Wert gelegt. 

Mit der Schaffung einer neuen Verantwortungsebene, die weit weg liegt und weder für Bürger noch für Politiker der unteren Kategorien in den Mitgliedsstaaten erreichbar ist, entstand ein gottesgleiches Wesen. Bis hin zum Bundestag und den von ihm getragenen Bundesregierungen können heute sämtliche Entscheidungen, die irgendwem wehtun, auf jene ferne, für normale Menschen undurchschaubare Mechanik in Brüssel und Straßburg geschoben werden. Das hat die Kommission beschlossen. Das hat das EU-Parlament abgenickt. Dem hat der Europäische Rat zugestimmt. Das muss also so. Es tut allen leid. Aber niemand kann dagegen etwas machen.

Unmittelbare Gesetzeskraft 

Niemand außer der Kommission, die im Unterschied zum teildemokratisch gewählten Parlament das Recht hat, sich Gesetze auszudenken, die keine sind, aber in den Mitgliedsstaaten unmittelbare Gesetzeskraft erlangen, ohne dass es dazu noch einer Bestätigung demokratisch gewählter Abgeordneter bedarf. 

Der Schaden richtet sich per Fernbedienung selbst an und die Trauergemeinde steht schulterzuckend ringsum, betrachtet das Desaster und wenn alles richtig dumm läuft, lässt sich die EU von einem alten Kollegen wie dem Multifunktionär Mario Draghi bescheinigen, in Europa die Produktivität schwach, sehr schwach" ausfalle, sich "zwischen der EU und den USA eine große Lücke im Bruttoinlandsprodukt aufgetan" habe und das "verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen" sei wie in der EU.

Zweifel eines Sozialdemokraten 

Wenn nur jemand wüsste, warum. Klaus von Dohnanyi, ein Sozialdemokrat alter Schmidt-Schule, hatte schon vor Jahren einen gelinden Verdacht. "Wer die Zuständigkeitskataloge der Europäischen Union und  das "Protokoll (Nr. 2) zur Anwendung" liest, kann das Buch nur verwirrt schließen", hatte von Dohnanyi bemerkt, wenn auch erst nach seinem Eintritt in den Ruhestand. Der große alte Mann der Hamburger Sozialdemokratie war verwirrt: "Alle können für alles zuständig sein. Vermutlich sieht die Kommission in ihrem Selbstverständnis deswegen auch alles als ihre Zuständigkeit an."

Sie fährt recht gut damit, denn wer für alles zuständig ist, dem kann niemand in die Parade fahren. Die EU tut das am Ende immer selbst: Nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass sich in Europa keine nennenswerte Chipindustrie mehr befand, erließ sie den "Chips Act", um ausländische Halbleiterhersteller mit Milliarden und Abermilliarden Euro Steuergeldgeschenken anzulocken. 

Rückwärtsgang für regulierung 

Nachdem es ihr gelungen war, die Regulierung im Internet so weit zu treiben, dass selbst die Fans der Datenschutzgrundverordnung Veränderungen forderten, signalisierte sie die Bereitschaft zu zarten Erleichterungen. Und kaum war nicht mehr zu leugnen, dass die Klimaziele nicht mehr erreichbar sind, um die herum sich alles Leben in der Gemeinschaft in den kommenden Jahrzehnten hatte abspielen sollen, gab es "mehr Spielraum" und geheimnisumwitterte "Möglichkeiten, die Ziele jetzt einfacher zu erreichen" (Der Spiegel).

Auf Europa ist Verlass. Sobald ein Kind im Brunnen liegt, versammeln sich die, die es hineingestoßen haben, am Rand des tiefen, kalten, dunklen Lochs, um Rettungspläne zu besprechen. Als die Corona-Pandemie bewies, dass die EU nicht einmal simple OP-Masken selbst herstellen kann, wurden Strategien entwickelt, das schnell zu ändern. Es wurde schnell vergessen. Als es aufgrund der weltweiten Lockdowns an simplen Alltagsmedikamenten fehlte, sollten große neue Fabriken entstehen, die Hustensaft und Kochsalzlösungen regional anbauen und frisch ausliefern. Das gelang nicht ganz, sondern im Gegenteil. Der Good Manufacturing Practice (GMP)-Leitfaden der EU löste eine neue, noch größere Kochsalzkrise aus.

Kommission am Brunnenrand 

Folgenlos bleibt das alles nicht. Immer wieder reagiert die  EU-Kommission mit Aktionsplänen und Förderversprechen, sobald die Lage aussichtslos geworden ist. Kaum war die Gewinnung von Metallen in der EU zum Erliegen gekommen, schuf sich die Gemeinschaft eine "Allianz für kritische Rohstoffe", die nun schon im fünften Jahr "einen Pfad hin zu größerer Sicherheit und Nachhaltigkeit absteckt". 

Nachdem sie die europäischen Autobauer mit dem angekündigten Verbrennerverbot gezwungen hatte, übereilt auf Elektroautos zu setzen, sprang sie hilfreich mit Zöllen ein, um die chinesische Konkurrenz draußen zu halten. Als das nicht reichte, gab es "mehr Zeit" dazu. Im März war sie dann drauf und dran, die Stahlbranche krisensicher zu machen, zuvor schon war aufgefallen, dass Kernkraft vielleicht doch grün gelesen werden muss, sollen auf dem alten Kontinent nicht alle Lichter ausgehen. 

Plötzlich angeschlagen 

Jetzt ist die nach segensreichen 32 Jahren seit der Umwandlung der Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union "angeschlagene europäische Chemieindustrie" dran. Der gemeinsame Binnenmarkt, jenes bedeutende wirtschaftliche Integrationsobjekt der EU, das den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen zwischen den Mitgliedstaaten ermöglicht und so zumindest der Theorie nach "zu größerer wirtschaftlicher Dynamik" geführt hat, kann es allein nicht mehr schaffen. 

Es braucht oben am Brunnenrand eine "Allianz für kritische Chemikalien", die "kritische Produktionsstandorte identifiziert", herausbekommt, welcher Rohstoff "politische Unterstützung benötigt" und dann "Handelsprobleme wie Abhängigkeiten in den Lieferketten angeht".

Die Erfolge der als "Europäische Rohstoffallianz" gegründeten Sondereinheit zur Sicherung des Nachschubs an kritischen Rohstoffen zeigen, was möglich ist. In nur fünf Jahren hat die Allianz "bereits 14 Industrieprojekte zur Sicherung des Abbaus Seltener Erden in Europa ermittelt". Abgebaut werden die vorhandenen Vorräte nirgendwo, weder im sächsischen Storckwitz (Sachsen) noch im schwedischen Kiruna, wo eine Million Tonnen Seltenerdoxide im Boden liegen. 

Noch eine Rohstoffallianz 

Die Rohstoffallianz selbst tut gar selbstverständlich sowieso gar nichts. Sie hat alle Hände voll zu tun, um "die infolge der Versorgungsengpässe des Jahres 2021 getroffenen Maßnahmen" zu koordinieren. Und "Möglichkeiten für weitere internationale  Rohstoffpartnerschaften" zu prüfen.

Für die Chemie und deren neue Freunde von der  "Allianz für die Chemieindustrie" sind das gute Nachrichten. Wenn erst die Arbeit am Vorhaben beendet ist, zu ermitteln, bei welchen Molekülen Europa genau "von ausländischen Importen abhängig ist", wie Industriekommissar Stephane Sejourne das erste Etappenziel umrissen hat, wird klar sein, dass es ein "Gesetz für kritische Moleküle" braucht. 

Geschwätzgebläse: Wie der Investitionsbooster in die Welt kam

Investitionsbooster, Wachstumsbooster, Wirtschaftswunder, Schuldenbremse, Energiewende, Rettungsschirm, Stromautobahn
Europas Weg war schon vort Jahren richtig. Und dabei bleibt es auch.

Selten war die Lage so angespannt. Die europäische Wirtschaft lahmt seit Jahren, Deutschland hinkt sogar noch hinterher. Die Schulden sind so hoch wie nie, die Depression hat selbst Beamte und staatliche Angestellte erfasst. Von der "bis zum Sommer" versprochenen Stimmungswende ist weit und breit nichts zu sehen, nicht viel mehr als vom Kanzler selbst, der die Welt als sein Feld betrachtet und das Land, das er regiert, allenfalls als Ausgangspunkt für seine Reisen.

Unhörbares Brodeln 

Es brodelt, wenn auch unhörbar. Die Länder jammern über Merz’ Pläne zur Erhöhung der Pendlerpauschale, die Grünen wollen seinen Fraktionsvorsitzenden abstrafen, die SPD hat sich über den Mindestlohn zerstritten und mit der anstehenden Wahl neuer Verfassungsrichter droht ein erneuter Angriff auf die Brandmauer: Wird Friedrich Merz Einsicht zeigen und auf die früher vom Verfassungsschutz beobachtete Linkspartei zugehen? Oder geht er ins Risiko und lädt die heute vom Verfassungsschuzt beobachtete AfD ein, ihm die fehlenden Stimme zu spendieren?

Eine Situation, in der Land und Leute dringend der Aufmunterung bedürfen. Und die kommt in Deutschland seit Jahren zuverlässig von der Bundesworthülsenfabirk (BWHF) im politischen Berlin.  Welche große Krise in der Vergangenheit auch zu bewältigen war, mit eleganten und wirkmächtigten Neologismen wie "Rettungsschirm" und "Energiewende", "Schuldenbremse", "Wachstumspakt" und "Stromautobahn" gelang es BWHF-Chef Rainald Schawidow und seinem Kollektiv stets, die Probleme zumindest verbal in den Griff zu bekommen.

Ein große Tradition 

Ganz in dieser großen Tradition, die zurückgeht bis auf das kaiserliche Reichsamt für Worte und Benennungen (RWB - Forschungsbehörde), steht auch der "Investitionsbooster", mit dem die BWHF Union und SPD im Deutungskampf um Deutschlands wirtschaftliche Zukunft aufmunitioniert hat. Gelegentlich auch "Wachstumsbooster" genannt, bezeichnet der Propagandabegriff eine hochkomplexes neues System von steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten und Steuertricks, die zu geringeren Steuereinnahmen führen, allerdings überwiegend bei den Bundesländer, nicht beim Bund. 

Das gesparte Geld, so spekulieren Kanzler Friedrich Merz und Finanzminister Lars Klingbeil, werden die Unternehmen umgehend für neue Investitionen nutzen, das werde die dringend nötigen Wachstumsimpulse setzen und das Land aus der industriellen Depression führen. Wichtiger aber noch als die tatsächliche wirtschaftliche Wirkung ist im Propagandakrieg um die Hoheit über Stammtischen und Talkshowstudios die Frage der Offensivfähigkeit.

Leerworte und Füllsilben 

Nach dem zweiten Gesetz der Mediendynamik werden bei der Übermittlung von politischen Botschaften nur knapp drei Prozent des Gesamtinhalts wahrgenommen. Um wirklich zu vielmals enttäuschten, abgestumpften und widerwilligen Zuhörern durchzudringen, brauchen Politiker floskelhafte Substantive, zusammengeschraubt aus Leerworten und Füllsilben, sprachbildhaft angespitzt und in Abschusssituationen selbstdonnernd.

Sogenannte Worthülsen sind auch bei der Überwindung der Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft das erste Mittel der Wahl. "In  unserem Gewerbe wissen wir", erklärt BWHF-Chef schawidow, "dass sich niemand mit degressiven Abschreibungen, erhöhten Bemessungsgrundlage für die Forschungszulage und spezielle Förderungen für Elektromobilität begeistern lässt." Kurz muss es sein, spannend und vielversprechend. Für den "Investitionsbooster" ließen sich die Phrasendrescher und Worthülsendreher von der Raumfahrt inspirieren. Dort wird ein Zusatztriebwerk, das als erste Stufe einer Trägerrakete dienst, als "Booster" bezeichnet  - schon in der Corona-Pandemie erwies sich, dass die dem Wort innewohnende Kraft bei den Empfängern ankommt.

Strategische Wucht 

Warum nicht noch einmal, diesmal spezieller, sagten sich die Propagandapoeten in den tiefen, labyrinthartigen Gängen der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) im Regierungsviertel von Berlin. Als  sprachliche Verpackung für die ambitionierten Schuldenpläne der schwarz-roten Koalition schien der aus altem Impfmaterial und dem im Deutschen positiv konottierten lateinischen investire für "Einkleiden" zusammengeschraubte Begriff "Investitionsbooster" ideal geeignet. Als Synonym entstand gleichzeitig  auch der "Wachstumsbooster" - auch er von überragender strategischer Wucht. 

Nach dem Verpuffen der Versprechen vom "grünen Wirtschaftswunder" und "Wachstumsraten wie in den 50er Jahren" sei es darauf angekommen, "wieder zu Maß und Mitte zurückzufinden", beschreibt Schawidow. Die Billionen-Schulden der neuen Budnesregierung seien zwar erschreckend, doch als Suoerlativ eben doch recht einfach vermarktbar. "Wir wussten, wir brauchen einen rhetorischen Volltreffer, aber mir war klar, dass ich mich da auf meine Leute verlassen kann", sagt der Meister der politischen Semantik, der als Sprach-Alchemist selbst Klassiker wie "Heißzeit", "Klimanotstand" und "CO2-Steuer" mitentwickelt hat.

Ein sprachliches Signal 

Kaum waren die Multimegasondervermögen beschlossen, lief hinter den Kulissen der BWHF die raffinierte Mechanik der Worthülsenproduktion an. Immer geht es dabeid arum, politisches Handeln als entschlossen und weitsichtig zu verkaufen, Zweifel vorbeugend zu veröden und Polititsprache so zu übersetzen, dass "auch die 77-jährige Oma aus Sachsen ahnt, wie gut das alles gemeint ist". 

Aus dem "steuerlichen Investitionssofortprogramm" mit epochalen Maßnahmen der 75-prozentigen Abschreibung für E-Fahrzeuge im Anschaffungsjahr machten die BWHF-Spezialisten in mehreren sogenannten Glättungs- und Anpassungsrunden ein sprachliches Signal. Was im Gesetzestext trocken und spröde wirkt, vibriert im neuen Wortkleid wirklich wie eine Rakete auf der Rampe.

Favorit aller Abteilungen 

"Muss ja", sagt Schawidow, der genau weiß, dass "steuerliche Maßnahmen" und "Entlastungsschritte"  in der Öffentlichkeit kaum Jubel auslösen. Dazu brauche es Begriffe, die Fortschritt, Kraft und Zukunftsvisionen in sich vereinen. Anfangs hätten Vorschläge wie "Wirtschaftswunder 2.0", "Zukunfts-Turbo" und "Wettbewerbsspritze" auf dem Tisch gelegen. "Doch schnell kristallisierte sich der Investitionsbooster als Favorit aller Abteilungen bei uns im Hause heraus."

Kein Wunder. Auch der "Investitionsbooster" nutzt die Macht, die zusammengesetzte Substantive in der deutschen Sprache haben. Vorläufer wie "Stromautobahn", "Corona-Kabinett" oder "Maskenpflicht" haben in der Vergangenheit vielmals nachgewiesen, dass solche insich inhaltsleeren Worthülsen den Anschein erwecken können, komplexe Sachverhalte zu vereinfachen. Aus ihrer fleißigen  Verwendung durch Politik und Medien entsteht eine Illusion von Entschlossenheit - hier, indem das nüchterne "Investition", das nur wenige Deutsche zutreffend in ihre Muttersprache übersetzen könnten, mit dem dem dynamisch wirkenden "Booster" kombiniert wird. 

"Wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger das in ihrem Alltag spüren, dass sich etwas verändert", hatte Lars Klingbeil im Bundestag gesagt. Und versprochen, dass die Milliarden nicht zum Fenster hinausgeworfen, sondern dort ivestiert würden, wo sie Erträge versprächen: "Dass das Schlagloch, das seit Jahren nervt, auf einmal beseitigt wird, dass die Schultoilette, die schon seit Jahren nicht mehr benutzt werden kann, repariert wird, dass auch im Dorf die Ladesäule für Elektromobilität ermöglicht wird, dass das Schwimmbad neue Duschen bekommt, dass die Schienen saniert, die Brücken stabilisiert und das Glasfaserkabel verlegt wird."  

Sehnsucht nach Prosperität 

Auch das ein Anglizismus, den nicht jeder detailliert erklären könnte, der aber gerade deshalb Geschwindigkeit und Kraft suggeriert. Für alle, die das nicht fühlen können - etwa die Zuschauer der "Tagesschau in leichter Sprache" - steht der "Wachstumsbooster" zur Verfügung. Dieser Begriff spricht die Sehnsucht nach wirtschaftlicher Prosperität und zumindest halb auf Deutsch direkt an und zielt damit auf eine breitere, geerdete Zielgruppe. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil, ein Instinktfußballer auf dem propagandistischen Spielfeld, bevorzugt selbstverständlich diese Variante. 

Leicht übersehen wird, dass zur Boosterkapagne der BWHF viel mehr gehört als nur diese beiden hochwirksamen Worthülsen. Um den Investitionsbooster mit ökologischer Strahlkraft aufzuladen, haben die BWHF-Mitarbeitenden in einer nächtlichen Sonderschicht einen ganzen Booster-Besteckkasten entwickelt.Neben dem "E-Mobilitäts-Booster", der die Förderung von Elektrofahrzeugen hervorhebt, wird es künftig auhc den "Sichereitsbooster", der "Panzerbooster" und den "Baubooster" geben. 

Vorarbeit von Lauterbach 

Schawidow ist sicher, dass die neuen Begriffsbooster universell einsetzbar sind, obwohl deren unmittelbare Bedeutung - früher wurde so der Hilfsantrieb bei Dampflokomotiven genannt - kaum bekannt ist. "Seit der Pandemie und der Vorarbeit von Herrn Lauterbach steht der Begriff gleichbedeutend für Fortschritt, Modernisierung und Widerstandskraft." 

Die BWHF liefert desweiteren dazu passende Phrasen wie "Planungssicherheit schaffen", "Investitionen anreizen" und "klimaneutraler Standort". Deren Einsatz wird sorgfältig orchestriert, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu maximieren. Rainald Schawidow weist darauf hin, dass die Sprachproduktion selbst nur ein Teil der Arbeit der BWHF ist. 

Perfekt für Begeisterung 

Der andere bestehe darin, ein komplexes Zusammenspiel aus linguistischem Können und politischem Kalkül zu organisieren: Bürgern soll das Empfinden eingeimpft werden, dass Probleme erkannt sind und Hilfe unterwegs ist. Das sei in langen reden kaum vermittelbar. "Dazu braucht es einen Begriff, der emotional und rational zugleich wirkt." Der Investitionsbooster erfülle diese Anforderungen perfekt: "Er ist technisch genug, um seriös zu wirken, aber dynamisch genug, um Begeisterung zu wecken."

Ein bewährte Technik der Sprachmanipulation, die Anglizismen nutzt, um Modernität zu signalisieren und damit politisches Versagen kaschiert. Die Wiederholung des Begriffs in verschiedenen Kontexten – von Bundestagsreden bis hin zu Social-Media-Kampagnen – sorgt dafür, dass er sich im öffentlichen Bewusstsein verankert. Um Bedschwerden zu vermeiden, wie sie in der Vergangenheit nach dem massenhaften Einsatz von "Wachstumspakt", "Mietpreisbremse" und "Rettungspaket" kamen, steht der "Wachstumsbooster" bereit, um die Botschaft nachzujustieren.

Medizin gegen Populismus 

Am Ende sei es doch der Normalbürger – die Verkäuferin, der Handwerker, der Rentner –, der das Gefühl haben müsse, er vestehe, was die dort oben treiben, sagt Schawidow. Der Mann, der seine Lehre beim VEB Geschwätz in der DDR machte, sieht sich und seine BWHF als Dienstleister. "Wir betreiben hier Zukunftsgestaltung und Vertrauensmanagement", sagt er, "jede unserer Worthülsen ist eine Medizin gegen Politikverdrossenheit, Populismus und Phrasendrescherei." 

Der Kritik, dass es nur um Propaganda gehe, ist der Chef der BWHF sich bewusst. Doch seine Aufgabe und die seiner hochspezialisierten Linguisten, Semantiker und Kommunikatoren sei nicht die Lösung wirtschaftlicher Probleme, sondern deren kommunikative Vermittlung. Schawidow findet das "genau so wichtig", denn wer Bürger systematisch ausschließe, dürfe sich nicht wundern, wenn die sich abwendeten oder den Falschen hinterherliefen. "Wir haben mit dem Investitionsbooster ein Wort geschaffen, das Menschen abholt und mitnimmt in die komplexe Realität eines milliardenschweren Investitionsprogramms", sagt Rainald Schawidow stolz. 

Dienstag, 8. Juli 2025

Sternstunde einer Anführerin: Ich oder der Untergang

Ursula von der Leyen saubere Hände kümram Ölgemälde
Ursula von der Leyen hat saubere Hände - der junge Maler Kümram hat sie in typischer Pose porträtiert. 

Wie sie da stand vor den Frauen und Männern, die sich angemaßt hatten, sie vor aller Augen maßregeln zu wollen, zeigte Ursula von der Leyen einmal mehr, dass sie so einfach nicht in die Bredouille zu bringen ist. Im pfirsichfarbenen Sweater, schwarzer Pulli, das Haar streng in Stasis gelegt, ließ sich die 66-Jährige gar nicht erst ein auf die Vorwürfe, die aus der ganz rechten, zudem rumänischen Ecke des größten zumindest halbdemokratisch gewählten Parlament der Welt gegen sie aufgemacht worden waren.    

Der Plan ihrer Feinde 

Von  der Leyen wusste genau, was geschehen war. Sie kannte den Plan ihrer Feinde, die die auch die Feinde Europas sind. Allein ein Moment der Unaufmerksamkeit der demokratischen Parteien der Parlamentsmehrheit hatte den Nörglern und Zweiflern die Gelegenheit in die Hände gespielt, die Frau vorzuführen, die die größte Staatengemeinschaft der Weltgeschichte seit nun schon sechs Jahren von Erfolg zu Erfolg führt. 
 
Wären alle wachsam gewesen, hätte es dazu nicht kommen können. So aber konnte sich eine ganz kleine Clique von "Rechts-außen-Abgeordnete" (Der Spiegel) Anweisungen aus dem "ältesten Handbuch der Extremisten" holen, wie es von der Leyen selbst nennt. Und ihr "mangelnde Transparenz bei der Impfstoffbeschaffung" (Die Zeit) und egomanisches Agieren bei der Verkündigung eines EU-eigenen Verteidigungsfonds vorwerfen, obwohl die CDU-Politikerin doch nur das Beste für alle wollte, die EU, die Abgeordneten und die angesichts der russischen Angriffe auf die Ukraine nach einer undurchdringlichen europäischen Verteidigung nach dem Vorbild eines stählernen Stachelschweins rufenden Menschen. 

Eine kampfentschlossene Löwin 

Wenn das Europäische Parlament in Straßburg ein Kolosseum wäre, dann hätten die, die hätten zuschauen wollen, an diesem historischen 7. Juli 2025 sehen könne, wie eine Löwin ihre Jungen verteidigt. "Wir dürfen Extremisten nicht erlauben, die Geschichte umzuschreiben", rief sie. Ohne sich auf konkrete Vorwürfe einzulassen, stellte die frühere deutsche Verteidigungsministerin klar, dass sie immer alles getan habe, nie aber etwas, das ihr vorgeworfen werden können. Der SMS-Kontakt zum Pfizer-Chef, der die Europäer am Ende 35 Milliarden Euro kostete, sei von ihr nie verschwiegen worden. Mehr müsse auch das Parlament nicht wissen
 
Hier geht es um Vertrauen gegen Vertrauen. Ursula von der Leyen, die die europäische Gemeinschaft wie ein eigenes Kaiserreich führt, hat sich den bei der Besetzung von europäischen Spitzenposten stets uneinigen Mitgliedsstaaten unentbehrlich gemacht. Die in Brüssel geborene Frau aus Niedersachsen agiert mit stählerner Entschlossenheit und einem Lächeln, vor dem ganz Europa zittert. 
 
Sie weiß, dass es zu ihr keine Alternative gibt. Nur auf sie konnten sich Deutschland und Frankreich einigen, nur hinter ihr findet sich immer wieder eine Parlamentsmehrheit ein, die motiviert ist von der Furcht, was wohl geschehen werden, wenn die schon in Deutschland mit einer SMS-Affäre aufgefallene Kommissionspräsidentin Platz für jemand anderen machen müsste. 

Angriff eines Hinterbänklers 

Dass der Antrag, von der Leyen das Misstrauen auszusprechen, von einem rumänischen Hinterbänkler kommt, passt ins Bild. Gheorghe Piperea ist Juraprofessor, ein Feind der Anstrengungen der EU zur Bankenrettung in der Finanzkrise und ein rechtsnationaler Anhänger eines fürsorgenden Sozialstaates. Erst seit einem Jahr sitzt der Politiker der Partei "Bündnis für die Union der Rumänen" im Straßburger Parlament. Und schon versucht er, die mächtigste Frau Europas zu Fall zu bringen.
 
Eine Unterfangen, dass scheitern muss, wenn Europa weiterleben soll. Das wissen in Straßburg alle, die verantwortlich im Dienst ihrer Wählerinnen und Wähler handeln. In einer Zeit, in der die EU multiplen und hybriden Angriffen ausgesetzt ist - die USA führen einen Wirtschaftskrieg gegen die Gemeinschaft, Russland bedroht die Ostflanke, China rächt sich für notwendige und faire EU-Strafzölle - gilt die Schar der 26 Kommissare um Ursula von der Leyen als Versprechen auf bessere Zeiten. 
 

Eine unverwüstliche Anführerin 

 
Und Ursula von der Leyen selbst erscheint selbst im Rückblick auf ihren starken und oft zu allem entschlossenen Vorgänger Jean-Claude Juncker als Glücksfall. Wie keine andere verkörpert die unverwüstliche Anführerin der 440 Millionen Europäer den Geist von zukunftsweisenden Richtlinien, Bürokratieauf- und Abbau und einer nie dagewesenen Gesetzgebungslawine aus sogenannten "Acts", mit denen die EU auf ihre ganz eigene Art auf KI und Hightech-Chips, Aufrüstung und Elektromobilität setzt.
 
Juncker war wie viele seiner Vorgänger ein grauer Bürokrat, der versuchte, nicht aufzufallen. Von der Leyen ist ein General, der demonstrativ auf dem Feldherrenhügel ausharrt, um den Angriffen von Extremisten und Verschwörungstheoretikern mit der Eleganz einer politischen Primaballerina zu trotzen. Von der Leyen weiß sich sicher dank einer Politik, die klar ist wie Quellwasser und sauber wie ein Operationssaal. Die Demokraten von Links bis zur gemäßigten Mitte wissen das zu schätzen und stehen wie eine Mauer hinter ihr. Die Attacken, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, nimmt sie als höchste Ehre hin: Wer ihr Vorwürfe macht, das weiß sie, will Europa in den Abgrund reißen.
 

Ein Schauspiel in Straßburg 

 
Sie aber wird das nicht zulassen. Der erste Akt des Schauspiels in Straßburg zeigte, wie geschlossen die Demokraten im EU-Parlament, diesem heiligen Tempel der europäischen Demokratie, zusammenstehen, wenn die Heckenschützen im Gebüsch ihre Flinten laden. Die demonstrative Debatte über den Misstrauensantrag, die von den 73 erklärten Gegnern der Kommissionspräsidentin als Tribunal geplant war, wurde zum Gegenteil. 
 
Auf einen ningelnden und höhnenden Redner aus dem bunten braunen Haufen von ECR-Fraktion, "Patriots for Europe" und "Europe of Sovereign Nations" kamen zwei, drei Abgeordnete, die sich ihrer Verantwortung gewachsen zeigten. Solidarisch stellten sie sich hinter die Präsidentin. Wie ein Mann wiesen selbst die Frauen, die ans Rednerpult traten, die Vorwürfe als müden Aufguss alter Kamellen zurück, die vermutlich vom Kreml lanciert wurde. 
 
Von wegen "Pfizergate", von wegen, das höchste  Gericht der EU habe die mangelnde Transparenz der Kommissionschefin gerügt. Von der Leyen selbst hat doch längst eingeräumt, dass hinter den verschwundenen Nachrichten keine Absicht stecke und hinter der Bestellung von mehr Impfdosen als Europa benötigte sogar die allerbeste.
 

Aufrüstung als neue Hauptaufgabe 

 
Niemand hätte in einer globalen Pandemie nicht die Gelegenheit genutzt, die EU ganz vorn im Spiel zu halten. Dieselbe Absicht verbirgt sich auch hinter von der Leyen auch für Brüssel, Straßburg, Berlin und Paris überraschend verkündeten Plan, die EU unter dem Begriff "ReArmEurope" mit Milliarden aus dem gemeinsamen Haushalt aufzurüsten. Natürlich musste sie das Parlament dabei umgehen. Die Front der Russlandversteher unter den Abgeordneten hätten den Plan sofort an den Kreml verraten.
 
Nein, Krisenzeiten erfordern entschlossenes Handeln, nicht bürokratisches Geplänkel. Und Ursula von der Leyen stützt sich bei allem, was sie tut, auf sichere Mehrheitsverhältnisse im Parlament: Ihre Europäische Volkspartei (EVP) hält 188 Sitze, sie regiert in einem Bündnis mit den Sozialdemokraten (136 Sitze), den Liberalen (79 Sitze) und den Grünen (53 Sitze). Das verschafft der EU-Chefin eine Mehrheit von 456 Sitze – weit mehr als die 361, die nötig wären, um jeden Antrag von Störern, Quertreibern und Feinden unserer Demokratie mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zurückzuweisen.  

Auch die Linke ist solidarisch 

Diesmal dürfte die Absicht der Angreifer sogar nach hinten losgehen. Als Ursula von der Leyen im November 2024 als einzige Kandidatin für den Posten der Kommissionschefin antrat, konnte sie nur 370 von 688 Abgeordneten davon überzeugen, ihre die Stimme zu geben. Mehrere Sozialdemokraten verweigerten die Gefolgschaft, weil von der Leyen sich Unterstützung von Italiens Postfaschistin Giorgia Meloni geholt hatte. Andere wichen von ihrer Seite, weil die alte und neue Präsidentin am Kern der europäischen Stabilität zu rütteln versprochen hatte oder weil sie damals noch nicht Teil der Von-der-Leyen-Luxus-Koalition (Die Linke) sein wollte.
 
Das wird sich ändern, wenn es jetzt zum Schwure kommt. Die demokratischen Abgeordneten im Parlament, angeführt von EVP-Chef Manfred Weber, der den Antrag als "parteitaktisches Spielchen" abtat, werden von der Leyen den Rücken stärken. Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen lassen ohnehin keinen Zweifel an ihrer Loyalität. Selbst die Linke, sonst immer am Rande der Rebellion, hält still. Warum? Weil sie wissen, dass von der Leyen die EU zusammenhält.  

Ich oder der Untergang 

In ihrer unmissverständllichen Rede vor den Parlamentariern hat Ursula von der Leyen noch einmal klar aufgezeigt, vor welcher Wahl Europa steht: Ich oder der Untergang. Weiterso oder Chaos, Krieg und Elend. Ihre Argumente wogen schwer, das zeigte die Aussprache, in der Spreu und Weizen sich sauber trennten. Nicht nur die gemäßigte Mitte, die staatstragende Sozialdemokratie und die verantwortungsbewussten Grünen, sondern auch die revolutionäre Linke stehen an ihrer Seite. Niemand will den Rechtspopulisten die Hand reichen, niemand will Zweifel daran aufkommen lassen, dass Europa mit einer Stimme spricht.
 
Das Ergebnis der Abstimmung am Donnerstag wird daher zu einem Triumph für von der Leyen werden, die schon bekanntgegeben hat, dass sie keine Zeit haben werde, der Veranstaltung beizuwohnen. Wichtiges ist zu tun, als "russischen Marionetten" und Desinformationsverbreitern, die die EU spalten wollen, die Ehre der Anwesenheit zu geben. Mit ihrem Versuch, die EU aus der Mitte des Parlaments zu spalten, werden sich Rechtsnationalisten, Putin-Fans und selbsternannte Souveränisten eine blutige Nase holen. Die starke, vereinte EU, die dabei ist, sich selbst wiederaufzubauen, wird ein klares Zeichen gegen den Illiberalismus setzen und der Welt vor Augen führen, dass Quengler und Kritikaster wie  Piperea und Co. keine Chance haben.

Das Kartell: Auf der Karlsruher Besetzungscouch

Bundesverfassungsgericht, Verfassungsrichter, Zweidrittelmehrheit, Besetzungsformel, Hinterzimmer, Proporz, Karlsruhe
Ehe Richter in Karlsruhe urteilen können, müssen Politiker in Berlin ein "traditionell nach Proporz" gestaltetes Verfahren betreiben. Abb: Kümram, Öl auf Hartfaser

Wie es genau passiert, weiß draußen im Lande niemand. Wohlweislich haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes einst nur bestimmt, dass offene Richterstellen am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe je zur Hälfte durch den Bundestag und den Bundesrat zu besetzen seien. 

Jeder Richter, der vorgeschlagen wird, braucht eine Zweidrittelmehrheit, die Vorschläge kommen aus einem Wahlausschuss des Bundestages. Wer heute hundert Deutsche nach ihrer Theorie befragt, wie die wichtigsten Hüter der Grundrechte nach Baden geraten, wird hundert Vermutungen hören. Und allenfalls zwei, drei richtige Tipps zu hören bekommen.

Prozedere im Hinterzimmer 

Mehr als sieben Jahrzehnte ging nach diesem nicht näher ausgestalteten Prozedere alles weitgehend unfallfrei über die Bühne. Anfangs waren es nur CDU, CSU, FDP und SPD, die Richter vorschlagen durften. Immer abwechselnd, darauf hatte man sich geeinigt. Mehr Parteien wurden nicht gebraucht, um Kandidaten durchzubringen, auf die man sich im berühmten "Hinterzimmer" (Sigmar Gabriel) vorab geeinigt hatte. Wählst Du diesmal meinen mit, wähle ich nächstes Mal Deinen. Einfacher geht es kaum.

Später schafften es auch die Grünen auf die Besetzungscouch. Nachdem sie immer wieder mal in diesem oder jenem Bundesland mitregieren, ließ es sich nicht mehr vermeiden, sie zu beteiligen. Im Bundesrat ist eine Zweidrittelmehrheit für jede Besetzung erforderlich, die Union, FDP und SPD konnten  nicht mehr sicher sein, sie sicher zu haben. 

Besetzungsformel 3-3-1-1 

Unauffällig und rein informell - es geht hier nur um die Vergabe der Jobs, deren Inhaber über die Einhaltung der Verfassung wachen - einigten sich die deutschen Dauerregierungsparteien auf einen neuen Verteilungsschlüssel, der nirgendwo niedergeschrieben ist, aber respektiert wird. Die Besetzungsformel Union / SPD / Union / SPD / Union / SPD / Grüne / FDP bestimmt, dass für je drei Richter, die Union und SPD aussuchen, einmal auch die Grünen und die FDP einen Richter aussuchen dürfen, dem die anderen dann ihr Plazet geben, um dafür zu sorgen, dass ihre Kandidaten deren Stimmen bekommen. 

Das ist noch immer gut gegangen. Selbst ernsthafte Adressen bezeichnen das institutionalisierte Kungelverfahren vor Verfassungsrichter-Wahlen als eines, bei dem "die Vorschlagsrechte traditionell nach Proporz unter den Parteien verteilt werden, die für eine Zwei-Drittel-Mehrheit benötigt werden". Handverlesene Christdemokraten wie Stephan Harbarth und Peter Müller reisten mit einem fast noch warmen Bundestagsmandat nach Karlsruhe, um dort über Gesetze zu befinden, die sie als Abgeordnete selbst mit beschlossen hatten. 

Die gesamte Hinterzimmerkoalition aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen hatte den Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßt, den Obmann der CDU im Rechts- und Verbraucher-Ausschuss des Bundestages, dessen Kanzlei den VW-Konzern in der Abgasaffäre vertrat,  nicht nur als einfachen Verfassungsrichter ans höchste deutsche Gericht zu entsenden. Sondern ihn, nach einer angemessenen Anstandspause, zum neuen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zu machen.

Besetzende und Besetzer an einem Tisch

Harbarth, "einer der größten Raffkes im Bundestag", wie ihn der "Stern" einmal nannte, war womöglich wirklich ein "ausgewiesener Parteipolitiker", wie die Taz nörgelte, noch dazu einer, der nie im Justizdienst stand. Doch er bewährte sich. Die Gipfeltreffen der Verfassungsorgane gingen weiter, von einem Tisch getrennt, aber in der Sache einig. Um die "Krise als Motor der Staatsmodernisierung" ging es beim letzten Mal, der damalige Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) trug vor. Dass aus all dem nichts werden konnte und geworden ist, dafür konnten weder der Redner noch seine Zuhörer.

Mit Günter Spinner, Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold sind nun wieder neue Verfassungsrichter bereit, längst vakante Plätze zu übernehmen, die wegen des abrupten Endes der Ampel nur noch notbesetzt sind. Spinner wird von der CDU/CSU vorgeschlagen, die beiden Damen  von der SPD. 

Das Auswahlverfahren unterscheidet sich diametral etwa von dem in Polen üblichen europarechtswidrigen Berufungsweg, aber auch den dort zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit geplanten Reformen. Die sehen vor, dass Kandidaten für die höchsten Richterposten abgelehnt werden, wenn sie in den vorangegangenen vier Jahren der Regierung oder einer Partei angehört haben oder als Abgeordnete, Senatoren oder Mitglieder des EU-Parlaments tätig gewesen sind.

Ordentliche Westdeutsche

Waren weder Spinner noch Brosius-Gersdorf noch Kaufhold. Alle drei sind ordentliche Westdeutsche, so dass die Ostdeutschenquote unter den 16 Karlsruher Richterinnen und Richtern stabil bei 6,25 Prozent bleibt. Alle drei werden sicher gewählt, nachdem sich die Union bereiterklärt hat, ihren ursprünglichen Wunschkandidaten Robert Seegmüller aus Rücksicht auf die SPD und die Grünen zurückzuziehen und zum Ausgleich die in den eigenen Reihen umstrittene Frauke Brosius-Gersdorf widerstandslos durchzuwinken. 

Das System zeigt sich wasserdicht und europarechtlich unbedenklich, es atmet die frische Luft des gegenseitigen Respekts und da formal nicht die Exekutive über die Richter bestimmt, die berufen werden, um über ihr Handeln zu richten, sondern Parlamente das tun, ist auch demokratietheoretisch alles bestens. Es ist kein Wahljahr, auch nicht im Osten. Nicht einmal die folkloristische Diskussion über die Notwendigkeit, einen zweiten Ostdeutschen nach Karlsruhe zu schicken, muss geführt werden.

"Traditionell nach Proporz" 

Dafür aber die, ob das "traditionell nach Proporz" (LTO) verteilte Teilhaberecht diesmal für eine Zwei-Drittel-Mehrheit ausreichen wird. Brosius-Gersdorf gilt in Teilen der Union als juristische Aktivistin, deren Absicht es sei, den eben glücklich halbwegs beendeten Marsch nach links in der Robe eines Verfassungsrichtenden fortzusetzen. Andere bis hin in die CSU verweisen auf die Notwendigkeit, die Kröte zu schlucken, um die "Handlungsfähigkeit unserer Demokratie" zu gewährleisten. Egal was, es muss. Egal wer, Hauptsache jemand.

Auch so wird es in jedem Fall dünn. Selbst wenn CDU, CSU und SPD sich einig werden, reichen ihre 328 Sitze im Bundestag nicht, das Trio einzustellen. Die schwarz-rote Koalition braucht Hilfe von den Grünen, von der Linken oder - Gott bewahre - sie bekommt sie von der AfD. Mit den Grünen allein reicht es nicht, mit den Linken zu reden aber hat sich die Union vor Jahren selbst verboten. Obwohl auch die ehemalige SED schon in mehreren Bundesländern mitregiert und in Thüringen sogar eine Landesregierung angeführt hat, gab es nie Überlegungen, sie auf die Besetzungscouch einzuladen.

Allerschlimmster Fall 

Und das wird es sein, was Heidi Reichinnek und Jan van Aken fordern werden, erst recht nachdem die Union sich geweigert hat, die linke Fraktionsvorsitzende ins Geheimdienstüberwachungsgremium des Bundestages zu wählen. Ohne geht es nicht, mit geht es nicht. Gelingt es trotzdem, die Wahl am Freitag im Namen von "unserer Demokratie" irgendwie über die Bühne zu bekommen, dann wird eine "meinungsstarke Professorin" (Der Spiegel) eine Art Verfassungsrichterin sein, der in den kommenden zwölf Jahren niemand abnehmen wird, unparteiisch geurteilt zu haben. Wird es nichts mit der Wahl, muss im schlimmsten Fall die Besetzungsformel erweitert werden.

Montag, 7. Juli 2025

Ende mit Ansage: Nach Maastricht auch Schengen

Die polnische Grenze wird jetzt von beiden Seiten bewacht. Die Schengen-Regeln sind damit in einer weiteren Grenzregion ausgesetzt.

Donald Tusk rief sofort in Berlin an. Der polnische Ministerpräsident beschwerte sich beim deutschen Bundeskanzler, nachdem der seiner Innenministerin erlaubt hatte, dem öffentlichen Druck nachzugeben und mit Kontrollen an der polnischen Grenze zu beginnen. Für Tusk war das "inakzeptabel", ein gegen den europäischen Geist gerichtetes egozentrisches Manöver.  

Aus Angst vor den Wählern war Olaf Scholz donnernd umgefallen, seine Partei, konsterniert vom eigenen Machtverfall, kippte mit. Selbst die Grünen, bis dahin stabile Verteidiger des Rechts aller Verfolgten, Zuflucht in Deutschland zu suchen, gaben ihren Widerstand auf und ihr Kanzlerkandidat Robert Habeck legte einen eigenen Plan zur "Begrenzung von Migration" vor.

Zeichen für die Welt 

Für die Union, damals noch in der Opposition, reichte das nicht. Symbolische Kontrollen brächten doch nichts, hieß es bei Friedrich Merz und Alexander Dobrindt. Was es brauche, seien aufsehenerregende symbolische Kontrollen und demonstrative Zurückweisungen als Zeichen an die ganze Welt, dass Deutschland seine Zeit als Hauptzielland der weltweiten Migration beendet habe. Eine Mehrheit wolle es, die Union werde liefern. Niemand habe Zeit, auf das nächste neue Asylsystem der EU zu warten, von dem niemand sagen könne, woraus es genau bestehe und wie es funktionieren solle. 

Der neue Kanzler setzt auf einen Dominoeffekt. Kontrolliert Deutschland, werden die Nachbarstaaten die Menschen nicht mehr los, die sie in den zurückliegenden zehn Jahren einfach durchwandern lassen konnten, um den Teil Europas zu erreichen, in dem das Gras grüner wächst. Asylbewerber erhalten in Deutschland 410 Euro, anerkannte Geflüchtete später Bürgergeld wie Einheimische, der Regelsatz für Alleinstehende liegt bei 563 Euro, dazu kommen Kosten für Wohnung, Heizung und gesetzliche Krankenversicherung. In Polen dagegen gibt es nur 160 Euro, in Griechenland 200, in Italien nichts. 

Geld ist kein Grund 

Wissenschaftlich belegt ist, dass Geld kein Grund für Schutzsuchende ist, sich für Deutschland zu entscheiden. Wichtiger sind das Wetter, die stabilen politischen Verhältnisse, die starke Wirtschaft und die freundlichen Nachbarn, unter denen inzwischen ein knappes Drittel selbst im demokratisch gefestigten Westteil des Landes einer Studie der Universität Leipzig zufolge der Aussage zustimmt, dass Deutschland durch "die vielen Ausländer überfremdet" sei.

Olaf Scholz ließ sich von Donald Tusk nicht aufhalten, der Wähler von seinen späten Kontrollgesten nicht überzeugen. Scholz' Nachfolger Friedrich Merz brach dann vom ersten Tag im neuen Amt einige Versprechen, Kritiker sagen sogar, mehr als er abgegeben hatte. Doch von der Migrationswende, die er angekündigt hatte, ließ sich der erste Unionskanzler seit Helmut Kohl weder von Gerichtsurteilen noch von den dramatisch einbrechenden Zuwanderungszahlen nicht abbringen. 

Polen nutzt die Gelegenheit 

Merz ließ die Kontrollen verschärfen. Und er hat damit Erfolg: Mit dem Beginn polnischer Kontrollen an der deutschen Grenze tut die Regierung in Warschau zwar so, als müsste sie den Zustrom von Flüchtenden aus Deutschland verhindern, doch angesichts der Anzahl an Schutzsuchenden, die im östlichen Nachbarland um Asyl baten, ist der Kontrollbefehl aus dem Pałac Namisstnikowski eher ein Eingeständnis: Jetzt, wo kein Partnerstaat mehr da ist, der alles abnimmt, was ankommt und durch will, möchte Polen die Gelegenheit nutzen, sich selbst abzuschotten. 

Der letzte aufsehenerregende Fall soll sich nicht wiederholen können: Anfang Juni hatten drei aus Belorusslanddemfrüherenweißrussland kommende Flüchtlinge aus dem Sudan es geschafft, über Litauen in die EU einzureisen. Durch Polen gelangten sie bis an die deutsche Grenze, dort aber wurden sie zurückgeschickt. Nur mit Hilfe engagierter Flüchtlingshelfer gelang es, die Einreise und ein Asylverfahren zu erzwingen. Die Regierung in Warschau aber fürchtet, dass auch das beim nächsten Mal nicht mehr glücken könnte.

Maastricht als Mahnung 

Polens Angebot an Deutschland, die angekündigten eigenen Kontrollen nicht zu starten, wenn Deutschland seine Kontrollen zuvor aufgebe, ist nicht ernst gemeint. Wie der Versuch der Europäischen Kommission, dem von der Mehrzahl der EU-Mitgliedsstaaten seit Anbeginn der Zeiten ignorierten und verletzten Maastricht-Vertrag durch den Versand sogenannter "Blauer Briefe" Geltung zu verschaffen, hat er keinerlei Aussicht auf Erfolg. Würden die 27 EU-Mitglieder ihren zum Teil beim Doppelten liegenden Schuldenstand auf maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und die Neuverschuldung auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzen, bräche die Europäische Union noch am selben Tag zusammen.

Beim Schengen-Vertrag, oft als zweite Säule des modernen Europa bezeichnet, dauert es länger, das ist im Experiment inzwischen nachgewiesen. Doch das Ergebnis wäre am Ende dasselbe. Die Mitgliedstaaten stehen deshalb nicht vor der Wahl, was sie tun, sondern nur vor der, wer es tun wird. In einigen Ländern versuchen die Parteien der Mitte angestrengt, die Forderungen der rechten Ecke zumindest symbolisch zu erfüllen. In anderen hat die Mitte diese Chance schon vertan, sie ist nun angewiesen darauf, vom rechten Rand als Mehrheitsbeschaffer geduldet zu werden.

Der Raum der Freiheit 

Sowohl in Warschau als auch in Berlin wollen die Regierenden diesen größten anzunehmenden Unfall vermeiden. Wenn nach Maastricht auch Schengen geopfert werden muss und jener in Sonntagsreden feierlich beschworene Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts an Kontrollstationen endet, dann ändert sich letztlich so viel auch wieder nicht. Schon seit 2015 wird vorübergehend an der deutschen Grenze zu Österreich kontrolliert, Dänemark kontrolliert schon ebenso lange an seinen Grenzen, vorübergehend natürlich nur, auch Frankreich, die Niederlande, Italien, Slowenien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Spanien und die Slowakei sind zurückgekehrt zum Grenzregime früherer Zeiten. 

In keinem einzigen Fall haben deutsche Politiker noch Trauer, Wut und Scham angesichts des Verrats am gemeinsamen Europa gezeigt oder die Bundesregierung zu raschem Handeln aufgefordert. Mit der Lage ändert sich die Liebe, aus einer Leidenschaft für offene Grenzen kann durch eine veränderte Situation eine flammende Begeisterung für permanente Grenzkontrollen werden, deren Akzeptanz in allen politischen Lagern kaum mehr bestritten wird. 

Das Verhalten der früheren SPD-Hoffnungsträgerin Katarina Barley steht beispielhaft dafür, wie fragil Regelungen und Grundüberzeugungen in der EU sein können: Nur ein wenig "besorgt" hat sich die stellvertretende EU-Parlamentspräsidentin über die neuen Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze geäußert. Aus ihrer Sicht würden auch Schleierfahndungen reichen. Auch Barley, bei der EU-Wahl im vergangenen Jahr als "stärkste Stimme für Europa" angetreten und mimt traurigen 13,9 Prozent abgestraft, spricht vom "Dominoeffekt". Und hofft im Stillen, dass er eintritt.

Fünf Jahre Verordnungssommer: Der Sommer, der nie war

Gut vorbereitet und dann in jeder einzelnen Pandemiesekunde mit der genau richtig gewählten Maßnahme: Deutschland gilt in deutschen Medien als leuchtendes Beispiel für die  ganze Welt, wie eine Seuchenwelle abzureiten ist.


In einer Zeit, in der ein unsichtbarer Feind die Welt in Atem hielt, zeigte Deutschland, wie man eine Pandemie richtig meistert – mit klugen Maßnahmen, eisernem Zusammenhalt und unermüdlichem Einsatz. Von Händewaschen bis Lockdown, von Maskenpflicht bis Impfdebatten, prägte Corona eine Ära, kurz, aber für viele Menschen schrecklich und unvergesslich. Und doch: Die Epoche, in der die Gesellschaft lernte, dass auch ein unveräußerliches Grundrecht vom Staat nur bis zum Widerruf verliehen wird, ist schon fünf Jahre danach im kulturellen Gedächtnis verblasst. 

Wer weniger testet, hat weniger Infektionen. Wer mehr Argumente braucht, testet mehr. Wer die Welle brechen will, der nimmt das Händewaschen ernst und tritt nicht ohne Maske in die Sommerwelle. Im Sommer vor fünf Jahren droht das Virus beinahe, den Weltfrieden ausbrechen zu lassen. Der UN-Sicherheitsrat, das globale Gremium, in dem alle großen Friedensmächte zusammensitzen, fordert in einer Resolution einen weltweiten Waffenstillstand von allen Schurkenstaaten. Eine  Ausnahme solle es nur geben, wo Militär gegen Dschihadisten, Terroristen und andere Erzschufte eingesetzt werden muss.

Illegale Feiern ohne Mundschutz 

Es ist einer der bemerkenswertesten Momente der  "größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg", wie Angela Merkel sie nennt. Aber auch er hat in der Erinnerung nicht überlebt. Wie die Nachricht, dass sich Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro mit dem Coronavirus angesteckt hat und nach illegalen Feiern ohne Mundschutz und Sicherheitsabstand auf Mallorca die Partymeile am "Ballermann" geschlossen werden muss, ist heute das Meiste vergessen, was damals gehalten schien, das Schicksal der Menschheit dauerhaft zu bestimmen. 

Corona ist den Älteren noch geläufig. Aber Remdesivir? Der Begriff "Alltagsmaske"? Die Versuche der Verfolgung von Ansteckungsketten? Die Familie aus Weimar, bei der im Juli 2020 Sars-CoV-2 nachgewiesen wird. Woraufhin 120 Menschen in Quarantäne befohlen werden?

Spuren ohne Spur

Corona hat Spuren hinterlassen in der kollektiven Erinnerung. Die Pandemie hat Freunde entzweit, sie hat Menschen das Vertrauen in Politiker geraubt und Politiker überzeugt, dass Wählerinnen und Wähler  der eigentliche Feind sind, den es mit Maßnahmen, Regeln und Auflagen zu bekämpfen gilt. Stadt und Land sind in den ungezählten Wellen auseinandergedriftet, Ost und West, Links und Rechts, die gebildete Elite und  die von ihr abschätzig betrachtete Masse. Der "Schwurbler" und der "Leugner" entstand und eine ganze Reihe von kurzentschlossenen, tatkräftigen und redegewandten Politikern und Wissenschaftlern begann einen rasanten Aufstieg in Sphären der Macht, die es noch ein halbes Jahr zuvor gar nicht gegeben hatte.

Und doch sind die Seiten im Geschichtsbuch, auf denen es um Corona geht, seltsam farblos und verblasst. Wäre da nicht Jens Spahn mit seinen Masken, die heute als Waffe im politischen Nahkampf verwendet werden können, brächte sich das Drama nur gelegentlich mit Versuchen in Erinnerung, mit neuen Wellen und neuen Namen wie "Stratus" und "Nimbus" anzuknüpfen an die große Angst, die zwischen 2020 und 2023 Türen öffnete in eine Verordnungsdemokratie, die, heute besteht daran kein zweifle mehr, fast vollkommen im Einklang mit der Verfassung stand. Auch wenn sie seinerzeit auf viele nicht so wirkte. 

Erinnerung mit Abstand 

Deutschland hat sich, das wurde später immer wieder festgelegt, hervorragend geschlagen in der Pandemie. Abstand, Händewaschen und eine Maske tragen, wenn der Abstand nicht gehalten werden kann, dazu dann und wann ein Lockdown und kurz vor dem Finale die große Impfpflichtdiskussion, hastig abgebrochen, weil es die Infektionszahlen nicht mehr hergaben. Geschichte wurde geschrieben, die EU war noch nicht einmal richtig kaputt, da hatte sie schon einen Plan für ihren eigenen Wiederaufbau. Probleme im Voranschreiten vertagen, niemand kann das besser als Brüssel.

Das eigentlich bemerkenswerte beim Blick in den Rückspiegel ist das Fehlen jedes kulturellen Abdrucks, den vergleichbare Großkrisen immer hinterlassen. Ob Ritterzeit oder die Jahre der Pest, ob Weltkriege, die Ära der Degenfechter mit ihren Strumpfhosen, Indianerfederschmücke oder Pionierhalstücher - alles, was sich als Hintergrund und Kulisse eignet, ist in Literatur, Kunst und Kino immer genutzt worden. Manchmal war die Kulisse Thema, häufiger wurden in ihr einfach die Konflikte abgehandelt, die seit den alten griechischen Dramen und William Shakespeare immer nur das Kostüm gewechselt haben.

Kulturelles Ödland 

Außer bei Corona. Die Zeit mit dem "Mund-Nase-Schutz" ist kulturell ein einziges Ödland. Filme, die während der Pandemie Filme gedreht wurden, handelten absichtlich nicht von Massensterben und Weltuntergang. Die meisten waren, was sie immer sind: Der nächste "Tatort", die nächste Literaturverfilmung, die nächste ZDF-Komödie oder noch ein Superstarspektakel aus Hollywood. Corona-Filme oder auch nur Filme, die in der Corona-Zeit spielen, gibt es von wenigen, sehr wenigen Ausnahmen abgesehen nicht. Auch in der Musik ist Pandemie eine Leerstelle. Keine Band hat sie besungen, kein Komponist ihr eine Maskenoper geschrieben. Es gibt kein Theaterstück über die Osterwelle und kein Triptychon eines Malers über die Reiseverbote im Sommer 20.

Historiker, die in 100 oder 500 Jahren nach dem Zeitalter suchen, in dem aus Italien und Spanien, aber auch aus Großbritannien und den USA schreckliche Nachrichtenbilder kamen - verzweifelte Ärzte, Leichenwagenkolonnen, überfüllte Krankenhäuser, Schlangen vor Arbeitsämtern und Gräberfelder - werden in Kunst und Kultur nicht fündig werden. Keine Heldengeschichten aus Pflegeheimen. Keine Liebesfilme mit Klatschen vom Balkon. Nicht einmal ein Thriller aus dem Inneren des Bundeskrisenstabes ist bis heute entstanden, geschweige denn eine packende Serie über die Konflikte im Robert-Koch-Institut oder die Ansteckungsangst in der Ministerpräsidentenkommission. 

Genau die richtige Reaktion 

Dabei waren die Vorlagen einladend. Von der Bundesregierung bis in die Supermärkte waren überall Menschen, die nicht aufgaben. Politiker hatten einen Plan. Firmen wurden gerettet und viele wussten noch nicht, dass das nur vorübergehend sein würde. Die Gesellschaft stand zusammen, die Hilfspakete wurden schnell geschnürt und immer größer. Dass es in dieser Hast Fehler geben würde, war einkalkuliert. So lange aber die sie machten, die bei aller Ungewissheit hervorragend regierten, brachte jede einzelne Sekunde genau die ideal auf die jeweilige Situation zugeschnittene Reaktion.

Eine Prüfung, die triumphal bestanden wurde, glaubt man späteren Untersuchungen, die nicht stattfanden, weil kaum Zweifel angebracht waren. Kluge Politik, ein exzellentes Gesundheitssystem und ein entschlossenes Zusammenwirken aller staatlichen Institutionen retten das Land, den Zusammenhalt, die Zukunft. Eine gute Regierung vermochte das Schlimmste zu verhindern - tragischerweise aber weigern sich Kunst und Kultur beharrlich, ihre Taten und die all der anderen Alltagshelden unsterblich zu machen.

Der Sommer, der nie war


Der erste Verordnungssommer vor fünf Jahren, zwei weitere folgten, ist aus heutiger Sicht nie gewesen. Es gab kein Virus, das treffe von Frauen regierte Länder weniger traf, von Rechtspopulisten regierte hingegen besonders stark. Es fehlte nicht an Beatmungsgeräten  und nicht an Intensivbetten, nur  Fernsehfilmen darüber. In keinem "Tatort" wurde je demonstrativ Maske getragen wie es Vorschrift war. In keinem "Kleinen Fernsehspiel" wirkte Corona "wie ein Verstärker für gute wie schlechte Eigenschaften von Regierungen" und Schwurbler störten die öffentliche Ordnung.

Corona ist gewesen, niemand streitet das ab. Die Pandemie hat stattgefunden, hin und wieder tauchen sogar immer noch zeitgenössische Berichte aus den geheimen Archiven auf. Doch ohne dass ein Grund ersichtlich wäre, hat die Seuche es nicht geschafft, sich ins kulturelle Gehirn zu graben. Regisseure, bildende Künstler und Drehbuchschreiber ließen sich von ihr nicht zu großen Werken inspirieren, nicht einmal als Tapete für die üblichen filmischen Versuchsanordnungen scheint sie zu taugen. 

Es ist vielleicht das traurigste Ende eines vermuteten Weltuntergangs, das es jemals gab. Einfach so verschwinden, unbesungen.

 

Sonntag, 6. Juli 2025

Luisa Neubauer: In den Fängen der fossilen Lobby

Luisa Neubauer Verschwörungstheorie fossile Lobby
Greta Thunberg ist unter die Antisemiten gegangen, Luisa Neubauer unter die Verschwörungstheoretikerinnen. 

Sie war einmal die gefeierte Ikone der Klimabewegung Fridays for Future, sie startete wie eine menschliche Rakete zu höchstem medialem Ruhm und tingelte jahrelang als schönstes Gesicht der Klimabewegung Fridays for Future durchs Land. Doch die einzigartige Karriere endet nun denkbar traurig: Neuerdings verbreitet Luisa Neubauer verschwörungstheoretische Narrative über eine allmächtige „fossile Lobby“ und sie macht aus ihrer Verachtung für demokratische Mehrheitsentscheidungen keinen Hehl.

Luisa Neubauer schaffte es im Schatten der Klimakrise, in der deutschen Talkshowgesellschaft bis ganz nach oben aufzusteigen. Monate-, ja, jahrelang kam keine aufrüttelnde Ermutigung, den Kampf gegen die Erderwärmung zu führen wie die letzte Schlacht gegen eine grausame Invasionsarmee, nicht ohne die Frau aus Hamburg aus. Neubauer war der Pfeiler, auf dem die junge Schwedin Greta Thunberg ihre deutsche Kirche gebaut hatte. Neubauer sah zudem deutlich besser aus und sie sprach ein besseres Deutsch.

Eine Zauberformel zur Prominenz 

Für die Zielgruppe - ältere, um einen engen Schulterschluss mit dem Zeitgeist bemühte  Spitzenjournalisten, Kommentäter und Kolumnisten - war das eine Zauberformel. Dass Luisa Neubauer keinen höheren Bildungsabschluss vorweisen konnte, und schon gar keinen aus einem einschlägigen Fachgebiet, störte nicht. Die Tochter aus gutem Haus war telegen, sie vermochte es, ihre Inhalte knackig und kompakt in kurzen Sätzen zu verteilen und in den sozialen Netzwerken verbreitete sie ihre Thesen so überzeugend, dass sich kaum jemand wagte, zu widersprechen.

Dass die kurzzeitig so wichtige Klimabewegung der Fridays-for-Future-Kinder schneller verschwand als die kollektive Erinnerung an die Corona-Pandemie, hielt Luisa Neubauer nicht auf. Mit Ende 20 war die Studentin ihre eigene Bewegung, eine Ich-AG, die die Bekanntheit der Marke Neubauer emsig bewirtschaftete. Neubauer schrieb Bücher, sie ging auf Tournee, sie nahm Preise entgegen und hielt Reden. Zwischendurch standen Termine als Model an und zu Klimakonferenzen musste auch noch geflogen werden, um dort gegen die schwindende Bedeutung des Themas zu protestieren.

Unverzichtbarer Teil der Talkshow-Gesellschaft 

Als unverzichtbarer Teil der gehobenen Talk-Show-Gesellschaft hatte Luisa Neubauer ein sicheres Auskommen, um zu studieren. Als Studentin hatte sie die finanziell sichere und solidarische Basis, um sich für ihr Anliegen engagieren zu können, selbst wenn dessen Bedeutung je mehr schwand, je mehr Wählerinnen und Wählern klar wurde, was mit "Transformation", "Energieausstieg" und "grüner Wirtschaftswende" gemeint war. 

Den Ausstieg aus dem nach Palästina fahrenden Zug schaffte Luisa Neubauer noch, den Absprung vom immer eiliger Richtung Schrottplatz rollenden Klimasalonwagen nicht. Je weniger noch irgendjemand aus dem Mund der Laienexpertin über Erhitzung, Eisschmelze und Klimakrisensommer hören wollte, desto schriller wurden die Bekundungen der früheren "Jugendbotschafterin der Nichtregierungsorganisation ONE", dass es "alle Möglichkeiten der Klimarettung" genutzt werden müssten. Mitten in das Sterben des Themas hat sie wieder ein Buch geschrieben, es ihr fünftes und diesmal hat der Inhalt nur noch für 144 Seiten gereicht, diktiert von reiner Verzweiflung über den eigenen Bedeutungsverlust. 

Ein "kleines, feines Buch" 

Der "längere Essay", wie die Internetseite "Klimareporter" das "kleine, feine Buch" freundlich nennt, betrauert die verlorene Medienhoheit, die zugeschlagenen Türen zur Macht und das demonstrative Desinteresse der gesellschaftlichen Mehrheit daran, sich von hauptberuflichen Aktivist*innen wie Neubauer, Thunberg, Reemtsma, Nietzard, Blasel und anderen befehlen zu lassen, wie ein klimagerechtes Leben zu führen ist. Nach all den Jahren, in denen es sich gut leben ließ vom Einsatz für die Klimarettung, beklagt Luisa Neubauer, dass die Welt daran scheitere, "den notwendigen Klimaschutz demokratisch zu organisieren". 

Die Demokratie steht dem Guten und Richtigen im Wege, es sind "harte Zeiten" (Neubauer) für die, "um die künftige Bewohnbarkeit unseres Planeten" kämpfen, "intervenieren und unsere ökologischen Grenzen verteidigen". Unsere, wir - die typischen Codes der vereinnahmenden Elite verraten Luisa Neubauers Verachtung für die Akzeptanz von demokratischen Mehrheitsentscheidungen, sie zeigen aber auch, dass  29-Jährige nach wie vor der Ansicht ist, es allein besser zu wissen als die vielen, die partout nicht auf sie hören wollen. 

Anti-Klima-Aggression der Rechten 

Für das weitgereiste Postergirl der Klimabewegung sind die Ursachen ein einziges Rätsel. Warum passiert nicht mehr, obwohl die wissenschaftlichen Fakten schon lange bekannt sind? Woher kommt die Anti-Klima-Aggression der Rechten? Warum sorgen selbst die sichtbaren Klimakatastrophen nicht für ein gesellschaftliches Umdenken?, fragt sie. 

Alle Antworten, die auf der Hand liegen, interessieren hier nicht. Dass Menschen sich den eiligen Klimaumbau finanziell nicht leisten können, ist ein störendes Detail. Und dass auch der Staat vollkommen überfordert mit der Aufgabe ist, aus seinen klaffenden Haushaltslöchern auch noch den ökologisch gerechten Umbau hin zu einer  weltweit nicht wettbewerbsfähigen Wirtschaft zu finanzieren, eignet sich auch nicht als Marketingargument.

Propagandist in eigener Sache 

Luisa Neubauer hat allerlei beunruhigende Antworten zur Hand. Wie jeder gute Propagandist in eigener Sache sieht sie sich als Avantgarde aus der einzig denkbaren Zukunft, die gegen eine Übermacht kämpfen muss, der nur am Erhalt einer trüben, traurigen Vergangenheit gelegen ist. Die Stipendiatin der grünen Böll-Stiftung  arbeitet genau heraus, "warum die meisten Menschen trotz besseren Wissens weiter an klimaschädlichen Verhaltensweisen festhalten". Schuld sind die "fossilen Wurzeln unserer Demokratie", daneben aber auch die "fossile Lobby samt ihrer Handlanger in der Politik". 

Ein düsteres verschwörungstheoretisches Raunen, das Luisa Neubauer bei aktuellen Auftritten ausdrücklich betont und unterstreicht. "Die Klimakrise ist nicht vom Himmel gefallen", beschwört sie dann, sie sei vielmehr "ein gebautes Konstrukt - In erster Instanz von Regierungen, aber vor allem von fossilen Großkonzernen weltweit." Deren großes Ziel sei es, "dass wir weiter unaufgeklärt und desinformiert drumherumwuseln". 

Geraune von der "fossilen Lobby" 

Neubauer, die seit zehn Jahren Geografie studiert, hat sich den Begriff "Fossilität" für die Art Gesellschaft ausgedacht, der es in den zurückliegenden 2.000 Jahren gelungen ist, basierend auf der Nutzung von Holz, Kohle, Öl, Gas und Atom so viel Wohlstand zu schaffen, dass Aktivistinnen wie Luisa Neubauer den lieben langen Tag mit ihrer Mission verbringen können, die derzeitige "Übermacht fossiler Energien gegenüber allen Alternativen" in Abrede zu stellen. Neubauer scheut sich nicht, dazu tief ins Regal mit den Konspirationstheorien zu greifen.  

Die finstere Macht, die hinter allem steckt, heißt bei die "fossile Lobby", die keine direkte Anschrift hat, aber so gut wie allmächtig ist. Neubauer arbeitet heraus, dass die finsteren Hintermänner neuerdings nicht mehr auf Leugnung setzen, sondern auf Verzögerung der dringend notwendige Maßnahmen. Für Deutschland, das nach zehn Jahren müde ist vom Klimathema und ausgelaugt angesichts der Ergebnislosigkeit all der ausgegebenen Billionen, der zahllosen Gipfelbeschlüsse und Klimaziele, reißt  sie der "fossilen Brennstoffindustrie" die Maske vom Gesicht.

An den Strippen der Macht 

Statt Menschen zu motivieren, mehr zu recyceln, weniger zu fliegen und weniger Fleisch zu essen, führt die eine Kampagne führt, um von Schuld und Verantwortung abzulenken, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu verzögern und  Klimaschutz auf die lange Bank zu schieben. In der Vorstellungswelt der Luisa Neubauer steckt hinter  allem, was geschieht, nicht ein permanenter Prozess des Ausgleichs unterschiedlichster Interessen, mal nach einer, dann wieder zur anderen Seite überschießend. Sondern das reichsbürgernde Diktat düsterer Machtkonglomerate, an deren langen Strippen die Menschheit geführt wird.

Sinkende Zufluchtszahlen: Auslaufmodell Migration

Die neue Bundesregierung will die "Migration vom Kopf auf die Füße stellen". Dadurch werden in der Wirtschaft absehbar Millionen Arbeitskräfte fehlen.
Die neue Bundesregierung will die "Migration vom Kopf auf die Füße stellen". Dadurch werden in der Wirtschaft absehbar Millionen Arbeitskräfte fehlen.

Eine halbe Million, mindestens aber 400.000 werden pro Jahr gebraucht, um Deutschland wenigstens einigermaßen weiter in Gang zu halten. Doch schon seit einigen Jahren reichen die Zahlen der Zufluchtsuchenden nicht mehr aus, um die von der Demografie gerissenen Lücken auch nur annähernd zu schließen. Statt des erforderlichen Stroms an Geflüchteten kamen zeitweise nur halb so viele. Obwohl die deutsche Wirtschaft nicht weniger Migration braucht, sondern viel mehr, versuchten fast alle Parteien von extrem rechts bis zum Kanzlerkandidaten der grünen Mitte im Wahlkampf, mit dem Versprechen der Verhinderung und Begrenzung von Migration zu punkten.

Es gibt keine Pullfaktoren 

Natürlich ist längst erwiesen, dass es weder Pullfaktoren gibt noch grundgesetzkonforme Methoden, Menschen daran zu hindern, in Deutschland um Asyl zu bitten. Wer kommt, muss bleiben dürfen, bis sämtliche Instanzen über sein Schicksal entschieden haben. Ein Vorteil, von dem das Aufnahmeland am meisten profitiert hatte: Ohne die seit 2015 zugeströmten Arbeitskräfte hätte die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität in Deutschland niemals nachhaltig gesichert werden können. Allein die drei oder vier Millionen Neuankömmlinge sorgten mit ihrer zusätzlichen Nachfrage dafür, dass die Wirtschaft nur lahmte, statt komplett wegzuknicken.

Damit könnte es jedoch bald vorbei sein, denn inzwischen zeigen die demonstrativen Grenzschikanen, die angedrohten schnellen Abschiebungen und neu eingeführte Repressionsinstrumente wie die Geldkarte Wirkung. Es kommen weniger Schutzsuchende an, deutlich weniger sogar: Die Rekordzahlen der Jahre 2015 und 2016, als zumindest numerisch genug Menschen eintrafen, um den von der Wissenschaft für erforderliche gehaltene Nettozuwanderung von 400.000 sicherzustellen, werden bereits seit 2017 verpasst. 

Rückkehr zur Normalität 

Auch eine gewisse Rückkehr zur Normalität nach dem Ende der Corona-Pandemie änderte daran kaum etwas. In den beiden zurückliegenden Jahren wurde das Zuwanderungsziel dramatisch verpasst. Tendenz sinkend: Hält der aktuelle Trend, wird sich die Zahl der Zufluchtsuchenden in diesem Jahr noch einmal halbieren. Statt der notwendigen 400.000 Menschen werden nur um die 120.000 kommen, darunter viele Kinder, die dem Arbeitsmarkt erst viel später zur Verfügung stehen. 

Das Problem hat viele Ursachen, von denen die Abkehr von der Willkommenskultur nur eine ist. Seit die Herrschaft in Syrien vom Diktator Assad an die reformorientierten Islamisten unter Führung des Ex-Terroristen Abu Mohammed al-Jawlani überging, fliehen von dort immer weniger Menschen. Auch auf Afghanistan, der Türkei, Indien und anderen langjährigen Geberländern brechen weniger Verfolgte auf. Ähnlich steht es um die Staaten in Afrika, unter denen Nigeria, Somalia und Eritrea jahrelang verlässlich Schutzsuchende lieferten.

Apokalyptische Alterspyramide 

Für Deutschland sind das beunruhigende Nachrichten, zumindest ähnlich beunruhigend wie die von der Politik zuletzt immer öfter aufgemachte Rechnung, dass es das Land nach der Aufnahme von drei oder vier Millionen Menschen überfordern werde, in den kommenden zehn Jahren weitere vier Millionen aufzunehmen.  Die Alterspyramide zeigt heute schon, dass der einmalige Schub, den die "geschenkten Menschen" (Katrin Göring-Eckardt) in den Jahren 2015 bis 2020 ausgelöst hatten, nicht ausgereicht hat, eine gesunde Bevölkerungsstruktur wiederherzustellen. 

Die Welle läuft nur einmal durch. Im Moment verlässt sie die Kindertagesstätten, dort fehlt es bereits nicht mehr an pädagogischen Fachkräften, sondern an betreuungsbedürftigem Nachwuchs. In wenigen Jahren werden es die in der ersten Panik angesichts so vieler plötzlich auftauchender neuer Schüler personell aufgerüsteten Schulen sein, die vor dem gleichen Problem stehen. Die alte Bundesregierung hatte mit dem Bundesaufnahmeprogramm für Ortskräfte und ihre Verwandten  versucht, zaghaft gegenzusteuern. Die neue jedoch will auch das kleine Rinnsal an Neueintreffenden abwürgen, indem sie das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanen "so weit wie möglich" stoppt.

Versagte Finanzierung 

Dabei zeigen die aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BamF), dass die Zahl der Asylanträge in Deutschland im ersten Halbjahr ohnehin erneut stark zurückgegangen sind. Ungeachtet der Tatsache, dass die Uno seit 2016 sinkende Opferzahlen bei der gefährlichen Flucht über das Mittelmeer meldet, wollen SPD und Union, die zivile Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer finanziell nicht mehr unterstützen. 

Eine jährliche Fördersumme von zwei Millionen Euro, wie sie 2022 von der Ampelregierung bis 2026 zugesichert worden war, fällt weg. Außenminister Johann Wadephul (CDU) versicherte zwar, dass Deutschland "immer der Humanität verpflichtet" bleibe. Aber er glaube "nicht, dass es eine Aufgabe des Auswärtigen Amtes ist, für diese Form der Seenotrettung Mittel zu verwenden".

Für die rechte Fankurve 

Eine kurzsichtige Entscheidung, die Geld spart, aber dafür sorgt, das künftig noch mehr Steuerzahler fehlen. Den Ruf von Forschung und Industrie, Arbeitskräfte in ausreichender Zahl ins Land zu lassen, überhören die Regierungsparteien, um ihre rechte Fankurve zu bedienen: Neben der Weigerung, Familienangehörige einzufliegen, will sie die Turboeinbürgerung abschaffen und mit demonstrativen Grenzkontrollen den Eindruck erwecken, das Fremde in Deutschland nicht mehr gewollt sind. 

Draußen in der Welt, die von der hierzulande grassierenden Fremdenfeindlichkeit und den Wahlerfolgen der zeitweise als gesichert rechtsextremistisch gegoltenhabenden AfD ohnehin misstrauisch auf das historisch gebrannte Land schaut, kommen die Signale an wie gewünscht. Mit nur noch  61.336 Menschen, die im ersten Halbjahr erstmals einen Antrag auf Schutz in Deutschland, baten nur noch 0,05 Prozent aller 122 Millionen Geflüchteten weltweit um Asyl in dem EU-Land, das bisher stets die meisten Schutzsuchenden aufgenommen hatte.

Im Widerspruch zum Grundgesetz 

Nicht die Interessen der Wirtschaft und nicht die der auf die versprochene Rente wartenden Boomer interessieren Merz, Klingbeil und Dobrindt, ja, nicht einmal Grundgesetzartikel 3, der unmissverständlich bestimmt, dass "niemand" nicht nur wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, sondern ausdrücklich auch wegen "seiner Heimat und Herkunft" benachteiligt werden dürfe. Die Mütter und Väter der deutschen Verfassung wollten damit zweifellos verhindern, dass Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern anderer Länder der dauerhafte Aufenthalt in Deutschland verwehrt wird. 

Doch Kanzleramtsminister Thorsten Frei, einer der Einpeitscher der demonstrativ harten Linie mit Kontrollen, Zurückweisungen und massenhaft angekündigten Abschiebungen, sieht keine Notwendigkeit, den Asylkurs der Regierung zu ändern. Seit den Tagen der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel ist bekannt, dass sich die deutschen Grenzen wegen ihrer Länge nicht schützen lassen. Die von der SPD gestellte Bundesinnenministerin Nancy Faeser hatte später bestätigt, dass Grenzkontrollen überhaupt nichts bringen, weil sie "die Flüchtlingszahlen nicht nennenswert senken". 

Entscheidung oft gegen Deutschland 

Der Schaden der sogenannten Migrationswende aber ist schon da: Ein Rückgang der Zustromzahlen von 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahr belegt die rapide sinkende Attraktivität Deutschlands. Inzwischen sind Spanien (mit 76.020 Asylanträge) und Frankreich (75.428) bei Nochnichtsolangehierlebenden deutlich gefragter. Von den insgesamt 388.299 Menschen, die ihren neuen Lebensmittelpunkt in der  Europäischen Union, in Norwegen oder der Schweiz sehen, entschieden sich nur noch 15 Prozent für Deutschland - gemessen am deutschen Anteil an der EU-Bevölkerung von 19 Prozent eine erschreckende Zahl. 

Für die deutsche Sozialdemokratie und die christlich-soziale und -demokratische Union sind das "deutliche Erfolge" beim Versuch, "die Migration wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen", wie CSU-Innenminister Alexander Dobrindt formuliert hat. Das polnische Angebot, auf Kontrollen an der deutschen Grenze zu verzichten, wenn Deutschland sich bereiterklärt, die aus Polen kommenden Schutzsuchenden wieder unkontrolliert einzulassen, ist großzügig, wird aber wohl abgelehnt werden. Wichtiger als für den so dringend notwendigen Menschennachschub zu sorgen, ist es der Bundesregierung derzeit, das europäische Modell der offenen Grenzen zu torpedieren.