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Ursula von der Leyen hat sich gemeinsam mit den Staatenlenkern der EU Möglichkeiten verschafft, auch heftigste Verstöße gegen die europäischen Verträge mit einem Augenzwinkern weglächeln zu dürfen. |
Sie ist die Hüterin der europäischen Verträge, der Lordsiegelbewahrer der Werte des wahren Europa. Der EU-Kommission kommt im Schacherspiel der heute noch 27 Mitgliedsstaaten eine besondere Rolle zu: Einerseits ist sie bei jeder ihrer Entscheidungen davon abhängig, dass die untereinander kaum jemals einigen Regierungen sie durchwinken. Andererseits ist sie der berufene Ermittler, Ankläger und Oberrichter, wenn es darum geht, Fehlverhalten einzelner Staaten aufzudecken, anzuklagen und abzuurteilen.
Das Ende der Blauen Briefe
Die Kommission verschickt dazu sogenannte Blaue Briefe. Die waren anfangs, als noch niemals jemals einen bekommen hatte, auch ein sehr gefürchtetes Erziehungsinstrument. Zwar ändert auch damals niemand sein Verhalten. Doch weil Blaue Briefe eine seltene Ausnahme waren in den ersten Jahren, in denen jedes Land noch bemüht war, Wohlverhalten zu zeigen oder wenigstens wohlerzogen zu wirken, brach Aufregung aus, wenn einer angekündigt wurde.
Gerhard Schröder war 2002 hell empört, dass er einen bekam, nur weil er eines von zwei Stabilitätszielen gerissen hatte. Er habe Brüssel, schimpfte der SPD-Kanzler, darauf hingewiesen, dass Deutschland das Stabilitätsziel, das bei drei Prozent liegt, einhalten wird". Dass die Kommission Deutschland wegen der Gesamtschulden, die über den erlaubten 60 Prozent des BIP lagen, abgemahnt hatte, sagte Schröder nicht. Auch sein Bundesfinanzminister Hans Eichel kündigte offiziell Widerstand gegen den "Blauen Brief" an. Das sei doch alles nicht so schlimm. Das gehe doch auch bald vorbei.
Recht hatte der Eiserne Hans, wie sie den Sozialdemokraten nannten, der mit einer Neuverschuldung von über 43 Milliarden Euro einen neuen deutschen Rekord aufstelle, von seinen Genossen aber als "Sparkommissar" kritisiert wurde. Sein Nachfolger Lars Klingbeil übertrifft das locker: Unter seiner Führung steigt die Neuverschuldung 2026 auf knapp 174,3 Milliarden Euro.
Das Vierfache vom Rekord
Das ist das Vierfache. Aber einen Blauen Brief muss Klingbeil nicht mehr fürchten. Seit nahezu alle EU-Mitgliedsstaaten nicht mehr nur eines der Stabilitätskriterien, sondern beide ignorieren, um zweistellige Prozentzahlen überbieten und schon lange keine Anstalten mehr machen, die Vertragsverletzungen als wegen der kritischen Wirtschaftslage ausnahmsweise richtig und wichtig zu verteidigen, macht sich die EU-Kommission nicht mehr die Mühe, in einzelnen Fällen sogenannte "Frühwarnungen" zu verfassen. Sie kämen eh zu spät.
"Pacta sunt servanda" – Verträge sind einzuhalten, dieses uralte Prinzip gilt in der EU nur noch bei passender Gelegenheit. Der Ecofin-Rat, zuständig für Wirtschaft und Finanzen im Rates der Europäischen Union und die Institution, die die Blauen Briefe in Auftrag gibt, macht allenfalls noch Schlagzeilen, wenn er ein unausweichliches Verfahren aussetzt. Ihn dazu zu bewegen, reicht in der Regel das Versprechen, die bisher verabschiedeten Maßnahmen zur Senkung des ausgeuferten Haushaltsdefizits noch mal zu verschärfen. Das klappt mal mehr, mal weniger schlecht, dauerhaft aber gar nicht: 2009 leitete die EU ein Defizitverfahren gegen Österreich ein. 2025 auch wieder.
Es ändert kein Verhalten
Es stört weder noch, noch ändert es irgendein Verhalten. Vielmehr agiert die gesamte EU nach dem rumänischen Modell, das Fehlverhalten mit dem Versprechen heilt, bald ein sehr vertragstreuer Partner werden zu wollen. Dem Balkanland gelingt es so seit Jahrzehnten, seine Verstöße fortwährend zu vergrößern. Das Haushaltsdefizit lag in den letzten 23 Jahren sagenhafte 15 Mal oberhalb der Drei-Prozent-Grenze, Tendenz steigend.
Mit einem Haushaltsdefizit von 9,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verzeichnete Rumänien zuletzt das Dreifache des zulässigen Wertes, in diesem Jahr wird bereits eine zweistellige Zahl und ein neuer EU-Rekord erwartet. Die EU-Kommission schaut dem Treiben hilflos zu. Eben erst hat sie der Regierung in Bukarest "bereits empfohlen", wie es offiziell heißt, "die übermäßigen Haushaltsausgaben bis spätestens 2030 einzustellen".
Ein glatter Vertragsbruch
Für Deutschland sind das sehr gute Nachrichten. Zwar sind auch die Bundeshaushalte schon in sich europarechtswidrig und samt der als "Sondervermögen" etikettierten Zusatzschulden nichts anderes als ein glatter Bruch der völkerrechtlich bindenden Verträge von Maastricht und Lissabon. Doch da die Mehrzahl der anderen Mitgliedsstaaten sich noch viel höhere Schulden jenseits der sogenannten Verschuldungsgrenze hat und auch die Defizitgrenze konsequent ignoriert, gibt es niemanden, der deshalb Terz machen wird. Regeln, an die sich niemand mehr hält, sind keine Regeln.
Auch für die EU-Kommission nicht. Vorbeugend hat sich Ursula von der Leyen schon in ihrer ersten Amtszeit als "Hüterin der Verträge" als "neue EU-Schuldenregeln" bezeichnete Vorschriften anfertigen lassen, die unter dem Vorwand, "nun klarer, investitionsfreundlicher, flexibler und besser auf die individuellen Gegebenheiten der Länder abgestimmt" zu sein, Tür und Tor für reine Willkür öffnen. Die "aktualisierten Regelungen" (EU) funktionieren wie eine Geschwindigkeitsbegrenzung im Straßenverkehr, die bei Übertretungen vorsieht, dass der Raser schwören muss, in zwei, drei oder fünf Jahren wieder langsam zu fahren.
Ein toller Trick
Der Trick funktioniert. Trotz überall astronomisch steigender Schulden gibt es kaum mehr Defizitverfahren. Und wo sie gestartet werden, quittieren die betroffenen Regierungen sie mit einem müden Lächeln. Auch die desolate Haushaltsplanung der Bundesregierung für die Jahre 2025 bis 2031, die einen atemberaubenden Anstieg der Ausgaben vorsieht und dazu hunderte Milliarden ausgeben will, von denen der Finanzminister nicht weiß, wo sie herkommen sollen, wurde von Brüssel erwartungsgemäß gebilligt.
Das deutsche Finanzchaos, aufgebaut auf einem Haushaltsloch von 34 Milliarden im Jahr 2027, 64 Milliarden 2028 und 74 Milliarden im Jahr 2029, stehe in Einklang den reformierten EU-Budgetregeln, teilte die EU-Kommission mit. Zwar liege das deutsche Staatsdefizit absehbar immer über dem Maastrichter Referenzwert von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Doch die Bundesregierung habe - wie von der Kommission vorgeschlagen - die "nationale. Ausweichklausel" in Anspruch genommen, die zusätzliche Ausgaben von 1,5 Prozent des BIP für Rüstung binnen vier Jahren erlaubt.
Fantasierechnungen retten
Das werde nach den fantastischen Vorausberechnungen der deutschen Regierung eingehalten, zumindest wenn das Wachstum wie geplant anspringe und das schuldenfinanzierte deutsche Investitionsprogramm die deutsche Wirtschaft um mehr als drei Prozent wachsen lässt. Dann würde die Defizitquote von knapp vier Prozent des BIP schon im Jahr 2026 auf gut ein Prozent sinken und die Schuldenquote zwischen 2028 und 2032 von 67 auf 63 Prozent des BIP zurückgehen.
Das wäre immer noch mehr als erlaubt, aber nicht mehr als bisher schon - und da hat es auch keinen gestört. Allerdings sind die Voraussetzungen für einen Wachstumssprung auf mehr als drei Prozent ehrgeizig. Solche Zahlen hat Deutschland seit der Wiedervereinigung nur viermal geschafft: Einmal nach Schröders Arbeitsmarktreformen, zweimal hintereinander nach der großen Finanzkrise und einmal nach der Corona-Depression des Jahres 2020.
Es braucht nur ein Wunder
Glückt das noch einmal? Geschieht vielleicht ein Wunder? Die Bundesregierung geht sicher nicht davon aus, muss aber so tun, um die größte Schuldenorgie der deutschen Geschichte zumindest vorerst legalisieren lassen zu können. Die Kommission weiß das und sie sieht deshalb keinen Grund, an den abenteuerlichen Projektionen des deutschen Finanzministers zu zweifeln. Nicht einmal nachgerechnet wurden die Daten. Die EU-Kommission begründet das damit, dass die Zahlen schließlich aus dem Ministerium kämen und also richtig sein müssten.
So hat es Griechenland seinerzeit in den Euro geschafft. So schafft es Deutschland, nur bis 2026 gegen die großzügigen Vorgaben der neuen Regeln zu verstoßen. Gleich danach, wenn alles gut geht, wird es wieder eine Schuldenquote haben, die zwar auch immer noch über dem Maastricht-Ziel liegt, es aber doch einhält. Dank einer neuen Klausel, wonach der Maastricht-Vertrag zwei Jahre lang gebrochen werden darf, solange die Haushaltslage in einem Land als stabil gilt und das betreffende Land hoch und heilig verspricht, dass es sich bei dem langjährigen Verstoß um eine Ausnahme handelt.
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