Donnerstag, 27. Oktober 2016

Manfred Krug: Wir schlucken unsere Widerspruchslust

Warum dekoriert Frau Meierova ihr Schaufenster liebevoller als Frau Meier? Warum schüttet sie abends einen Eimer Wasser über den Bürgersteig, warum bietet sie in ihrem Laden, der nicht ihrer ist, belegte Brötchen und eine Tasse Kaffee an? Warum kocht Herr Novotny in seiner Schwemme drei essbare Suppen, während Herr Neumann eine laue Bockwurst auf den Pappteller legt?

Die Meierovas und Novotnys verfolgen mit ihrer Arbeit andere Absichten, sie wollen, dass es ihren Mit-Tschechen schmeckt, sie wollen sich nicht blamieren, sie kochen, damit das Gekochte gegessen wird.

Bei uns kochen sie, weil pro Schicht 300 Portionen raus müssen. Unsere  Autofahrer zeigen die meisten Vögel, fahren mit ihren Kisten die meisten Rennen, drohen mit den meisten Fingern, schreiben die meisten Nummern auf.

Das kommt, weil wir sonst im Alltag den Mund halten müssen. Das ist die Angst und die Ungeschicklichkeit der Partei, die doch immer neidisch auf den Freiheitszauber der kapitalistischen Welt schielt. Wir schlucken unsere  Widerspruchslust herunter, kommen immer mehr unter Dampf, den wir dann zu Hause gegen Frau und Kinder ablassen.

Es heisst, vor allem die Frauen sorgen für die hohe Scheidungsquote in der DDR. Ich bezweifle die Behauptung, sie sei ein gutes Zeichen für den Emanzipationsgrad und die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau gegenüber dem Mann.

Unsere hohe Scheidungsrate ist ein Zeichen für den allgegenwärtigen Staatsdruck, der zu Hause in der Familie sublimiert wird.

Manfred Krug, 1976 über Scheidungsraten, die heute höher als damals liegen