Montag, 21. September 2020

Alles nur geklaut: Von Brüdern und Sonne und Freiheit



Bei der SPD wird es am Ende der Parteitage gesungen, auch bei der SED gehörte es zum liturgischen Parteiliedschatz. Hannes Waader hat es interpretiert wie ein Stock, der Chor der Deutschen Volkspolizei füllte es mit männlichem Pathos und Ernst Busch ließ es davon überfließen. "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", heute vor 100 Jahren zum ersten Mal öffentlich auf Deutsch gesungen, ist das Lied eines Jahrhundert voller Sehnsucht, gegründet auf falscher Hoffnung.

Selbst die Arbeiterbewegung selbst ist mehr falscher Schein als echter Hit: Bei der deutschen Version handelt es sich um eine Nachdichtung des russischen Originals "Смело, товарищи, в ногу!", das der - von dieser einen Leistung abgesehen völlig vergessene - russische Revolutionär Leonid Petrowitsch Radin zwischen 1895 und 1896 im Moskauer Taganka-Gefängnis gedichtet haben soll. Zumindest für den Text, der auf Deutsch "Tapfer, Genossen, im Gleichschritt“ heißt, wird angenommen, dass das stimmt, Genossen und Gleichschritt, das passt.

Das Yesterday der Arbeiterbewegung


Doch die Melodie, die wie bei "Yesterday", .... und ... mehr als die Hälfte des Welterfolges ausmacht, bediente sich Radin revolutionär bei einem bereits bekannten Studentenlied. „Медленно движется время“ - „Langsam bewegt sich die Zeit“ - gefiel ihm, war aber wegen nachdenklicher Liedermacher-Zeilen wie "Ehre sei denen, die der Wahrheit dienen", "die Toten sind tot auf der Welt" und "die Zeit bewegt sich langsam, glaube, hoffe und warte" als Untermalung einer Revolution sichtlich nicht tauglich.

Radin entfernte also den Originaltext, den ein Iwan Sawwitsch Nikitin im September 1857 geschrieben hatte, und er remixte die Melodie, indem er aus dem Walzer einen Marsch machte. Genossen! Gleichschritt! Humpapa.

Das Ergebnis gefiel und wurde der Legende nach erstmals 1898 von - natürlich - politischen Gefangenen auf dem Marsch in die sibirische Verbannung gesungen. Radin starb 1900 mit nur 39 Jahren, den Aufstieg seines Kampfgesangs zur Welthymne, der mit der russischen Revolution von 1905 und mit der Oktoberrevolution 1917 noch lange nicht endete, erlebte er ebenso wenig wie den Export der auch bei SED, SPD und DGB meist in C-Dur über die Rampe gerumpelten Schlachtfantasie.

Rumpelnde Schlachtfantasie


Der deutsche Dirigent Hermann Scherchen, seines Zeichens Leiter eines Arbeiterchores, brachte die Nummer aus russischer Gefangenschaft mit und textete 1918 eine deutschsprachige Fassung mit neuen Versen. Die "Genossen" wurden in Erinnerung an Schillers "alle Menschen werden Brüder" zu "Brüdern". Von Radins sieben Strophen blieben nur drei, gipfelnd im finalen Vers "Brüder, in eins nun die Hände, / Brüder, das Sterben verlacht! / Ewig, der Sklav’rei ein Ende, / heilig die letzte Schlacht!"

Ein Gassenhauer der Arbeiterbewegung, der auch die Nazis nicht widerstehen konnte. Mit Hilfe der neuen vierten Strophe "Brechet das Joch der Tyrannen, die uns so grausam gequält! Schwenket die Hakenkreuzfahne über dem Arbeiterstaat" verwandelten sie den Hit erst behelfsmäßig in ein Lied der Hitlerjugend. Später wurde es als "Brüder in Zechen und Gruben" mit dem Finale "Hitler treu ergeben, treu bis in den Tod, Hitler wird uns führen, einst aus dieser Not" zu einem der bekanntesten Propagandalieder der NSDAP und parallel als "Brüder formiert die Kolonnen" zu einem Kampflied der SA.

Ein Jahrhundertwerk


Ein Werk für ein Jahrhundert, vielfältig verwendbar und immer schmissig. Obwohl die SED es sang, intonierten es auch die Streikenden am 17. Juni 1953, noch einmal hatte es einen großen authentischen Auftritt, als Montagsdemonstranten 1989 in Leipzig es angestimmten. Ein bisschen wurde gepfiffen und gebuht, weil nicht jeder gleich begriff, dass man denen, die etwas weggenommen haben, auf keine andere Art mehr wehtun kann, als wenn man es ihnen einfach wieder wegnimmt.

Doch die Zeit, die der größte musikalische Hit der Arbeiterbewegung noch gesungen werden kann, neigt sich seitdem unaufhörlich ihrem Ende entgegen. "Brüder" kann es in Bälde nicht mehr heißen, denn das schließt alle Schwestern aus. "Sonne" hingegen ist durch den Klimawandel kein Glücksversprechen mehr für den einfachen Mann, sondern eine Drohung.

Und "Freiheit" geht ja schon gleich gar nicht.

11 Kommentare:

Le Penseur hat gesagt…

Exzellenter Artikel, wie gewohnt — nur: "lithurgisch" ...?

"liturgisch", wenn's geht, bitte!

Anonym hat gesagt…

Waders flaches Angstvibrato klingt wie eine eiernde Tonwelle am Kassettenrekorder oder eine tieffrequente Überlagerung beim Mittelwellenempfänger.
Besser als er kann man 'von gestern' nicht verkörpern.

Die Nazivergangenheit des Proletenklopfers erfreut ganz besonders den rechten Rand.

mfg der rechte rand

Anonym hat gesagt…

"Doch die Zeit, die der größte musikalische Hit der Arbeiterbewegung noch gesungen werden kann, neigt sich seitdem unaufhörlich ihrem Ende entgegen. "Brüder" kann es in Bälde nicht mehr heißen, denn das schließt alle Schwestern aus."

Wie der Artikel schon fein herausarbeitet zeichnet sich politische Gebrauchslyrik in erster Linie durch ihre Flexibilität und Wandelbarkeit aus. Von daher sehe ich durchaus noch Zukunft für dieses Meisterwerk, z.B. im Shishabarmilieu.

Brühda zur Schischa zum Eyran,
Brühda zum Döner empor!

ppq hat gesagt…

korrekt, danke

Florida Ralf hat gesagt…

noar gugge ma an, endlsch ma widder ostrock im angebod bei bbq! brahwo!

Volker hat gesagt…

Ostrock?
Aus dem Westen!

Schade, Waders mäandern. 1991 ist er raus der DKP, ach wäre er gar nicht erst eingetreten. Den Proletarierquatsch hatte er doch nicht nötig, weder die DKP noch Brüder zur Sonne.
Man kann den Quatsch ignorieren, es bleibt viel Gutes übrig.

Was solls, er ist nicht das einzige Rohr im Wind
Einfach nur gut.

Anonym hat gesagt…

"liturgisch", wenn's geht, bitte!

Das ist des Landes Brauch, heutzutage. Vor ein auslautendes "s" gehört eben ein Apostroph - Toiletten 20 Meter link's - das ist weltmännisch, das ist gebildet! Ähnliches gilt für das Ti-ähtsch. (Thalatta, Thalatta!) Author, Esotherik - bei ersterem dürften unverdaute, oberflächliche Kenntnisse* der englischen Zunge einiges beigetragen haben.
*Das macht Sinn. Geschrieben in 2020.

Anonym hat gesagt…

>> Andreas Karner 21. September 2020 at 16:54

@Patriot64 Ich hatte es nicht besser sagen konnen ich habe die totale verachtung von meiner bekantschaft waren sie nicht meine bekantschaft wurde ich mit ihnen kein wort mehr reden und jeden kontakt abrechen das kann ich aber mit freunden machen und ich habe es auch gemacht denn solche freunde braucht man nicht da ist man besser alleine <<

Wos soll mon do noch soren.
Der grenzdebile Adler fliegt "alleine", der Rabe in Scharen.

Der lachende Mann hat gesagt…

@Anonym 3 (Mein Vorschlag, die Anonyme, wenn schon nicht durch Namen zu ersetzen, dann wenigstens zu numerieren, ist leider auf eisige Ablehnung gestoßen): Es sind nicht nur solche Narreteien, wie Sie sie hier beklagen. Wolf Schneider geißelte schon vor Jahrzehnten die von Vollidioten eingeführte Sitte, von Rekorden zu sprechen, wo der normale Menschenverstand sich weigert, einen Rekord zu sehen: Rekord an Arbeitslosen, neuer Rekord bei Vergewaltigungen, Messerstechereien auf Rekordhoch, rekordverdächtige Korruption bei den Systemparteien usw. usf. Die Meute in den Redaktionen ist dermaßen blöde, der Bodensatz unseres Volkes (soweit er nicht im Politikgewerbe unterkommen konnte), daß er gar nicht begreift, was er da für rekordwürdig erklärt.

Anonym hat gesagt…

Unter uns Sprachbastlern: 'Author' war, genau wie z.B. 'Neanderthal', einst auch hier die korrekte Schreibung. Beiden Schreibungen wurden im Englischen konserviert.

'Das macht Sinn' und 'das ergibt Sinn' sind semantisch gleich, wenn man das Wort 'machen' nicht wie Bastian Sick mit Absicht falsch versteht, und beide Ausdrücke sind auch epistemologisch* stimmig.

*Wort des Tages

Die Anmerkung hat gesagt…

@Sprachbastler

Dinge, Sachen Abstrakta etc. haben keinen Sinn, machen auch können und können keinen machen. Wenn man die deutsche Sprache korrekt gebraucht, darum geht es ja wohl, dann kann nur Verhalten Sinn machen. Es ist in der geschriebenen wie gesprochenen Sprache demzufolge sehr sinnvoll, immer ein starkes oder Hilfsverb zu benutzen, um Sinnfähiges ausdrucksstark zu beschreiben. Eine Rose hat keinen Sinn, macht auch keinen. Rosen sind sinnlos. So der Titel meines Jahrhundertromans. Sie zu betrachten, zu riechen, die Dornen zu spüren usw. all das kann sinnvoll sein, weil es meinem Handeln eine höhere Weihe verleiht, keine kirchliche, aber wenigstens kurz davor.

Wenn der alte Spalter dem Drosten das Bundesklingeldingeldbumms am Band mit Trallala verleiht, dann ist das zwar sinnlos, macht aber Sinn.