Samstag, 13. Februar 2021

EU-Grenzen dicht: Jeder stirbt für sich allein

Zurück zum strengen Grenzregime: Deutschland zeigt den EU-Partnern wieder die kalte Schulter.

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ie wieder!, rief es überall. Nie wieder sollte das geschehen! Nie wieder Grenzen zu, nie wieder Menschen voneinander trennen, Schlagbäume hochziehen, Reisefreiheiten beschränken und damit zurückfallen in die unseligen und düsteren Zeiten des Kalten Krieges, in dem sich zwei makabere Machtblöcke tiefgefroren gegenüberstanden und eifersüchtig über ihre Herrschaftsgebiete wachten.

Als der amerikanische Präsident vor einem Jahr in Panik geriet und die Einreise zuerst von Reisenden aus China, dann auch von welchen aus Europa untersagte, sprangen Brüssel und Berlin im Quadrat. Ungeheuerlich. Unabgesprochen. Unmöglich in einer globalisierten Welt, die auf freien Waren- und Personenverkehr angewiesen ist.

Zugbrücken hoch

Es dauerte mehrere Wochen, bis Europa nachzog, auf die solidarische Weise, die Lebensart des Gemeinschaftskontinent geworden ist: Erst zog das eine Land die Zugbrücken hoch, dann folgte das nächste, niemand sprach auch nur mit seinem unmittelbaren Nachbarn vorher darüber, niemand entschuldigte sich, und wenn, dann ausschließlich mit der Angst, der Not und der Gefahr, die das ungeregelte Zusammenleben mit Menschen von außerhalb der eigenen Nation unweigerlich herausbeschwor.

Deutschland wehrte sich lange, denn in Deutschland galt seit einem Kanzlerinnenwort aus dem 2016, dass sich Grenzen überhaupt nicht und niemals, unter gar keinen Umständen, schließen lassen können. Und schlösse man sie dennoch, wie sollte man sie denn schützen? Überwachen? Die ganzen 3.000 Kilometer? Wo man doch nicht einmal die paar Flughäfen im Lande unter Kontrolle halten konnte?

Zähneknirschende Grenzziehung

Es dauerte dann bis Mitte März, ehe auch Deutschland zumachte. Zähneknirschend zwar und untröstlich. Aber mit dem Versprechen auf den Lippen, dass das nie wieder passieren werde. Nie wieder Grenzen. Nie wieder Krieg. Schengen, der Vertrag über die offenen Grenzen, sei ein konstituierendes Element der Friedennobelpreisgemeinschaft. Nur weil die Lage so ernst sei, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer, sei eine Ausnahme nötig. Die Ausbreitung des Coronavirus müsse verlangsamt werden.

Die EU drängte die Mitgliedsstaaten deshalb auch recht bald, die Schotten wieder hochzuziehen. Mit Erfolg: Schon im Juni fielen die meisten Restriktionen. Und in Europa waren nun durch Millionen und Abermillionen unkontrolliert herumreisende Menschen alle Bedingungen gegeben, eine zweite und diesmal wirklich richtig prächtige Corona-Infektionswelle aufzutürmen.

Jeder wusste das. Jeder hätte es zumindest wissen können. Doch der Schwur vom Frühjahr stand bis in den Januar: Nie wieder! Lieber zusammen sterben, als einsam leben! Bei einem Videogipfel waren sich die Staatenlenker einig, einen quadratischen Kreis als Grenze zu zeichnen. Reisen bleiben möglich, Grenzen bleiben auf. Es solle aber besser nicht gereist werden, um das Virus nicht unnötig zu verbreiten.

Clowns als Helden

Ein Kaspertheater, in dem Clowns die Helden spielen. Keine drei Wochen hielt der Grenzschwur von EU-Gipfel, der die Sorge ausgeräumt hatte, dass die EU-Staaten wieder untereinander die Grenzen schließen könnten, im Kampf gegen besonders aggressive Corona-Varianten. Was Mitte Januar galt, ist Mitte Februar Schnee von gestern, denn von draußen droht nun wieder Gefahr, vor allem die, jemand könnte im Nachhinein behaupten, die Gefahr sei von draußen gekommen.

Also schottet sich Deutschland nun wieder ab. Wie gehabt ohne Rücksprache mit den europäischen Partnern, nicht einmal die EU-Kommission wurde untertänigst um Zustimmung gebeten, wie das früher schöner Brauch wenn, wenn auch ausbleibende Genehmigungen nie bedeuteten, dass sich irgendwer um entsprechende Auskünfte aus Brüssel scherte. In einem rücksichtlosen Soloritt schließt Europas größte Gemeinschaftsmacht ihre Grenzen zu den Nachbarn in Tschechien und Österreich und entsolidarisiert sich damit endgültig vom Leiden in den Partnernationen, die Hilfe mehr gebrauchen könnten  als die kalte Schulter des wohlhabenden Nachbarn.

Schweigen in Brüssel

Bezeichnend für die veränderte Betriebstemperatur in Berlin: Diesmal entschuldigt sich niemand mehr bei den Bürgerinnen und Bürgern, denen zuletzt noch unterstellt wurde, ihnen sei die Symbolik offener Grenzen allemal wichtiger als die Kontrolle über die Corona-Situation. Und die EU, die jahrelang darauf bestand, die Praxis zeitweiliger Grenzschließungen mit ihrem propusk erst ermöglichen zu können, sieht der neuen Lage wortlos zu. Der bürokratische Überbau, noch verschreckt von der nur wegen ein paar hunderttausend zusätzlicher Toter herniederprasselnden Kritik, sitzt im Schneckenhaus, halb gnatzig, halb froh, nichts mit dem allem zu tun haben.

 

Update: Pflichtgemäß hat die EU-Kommission sich inzwischen über die deutschen Grenzschließungen beklagt. In einem unselig großdeutsch anmutenden Anfall an Grenznationalismus hat Bundesinnenminister Horst Seehofer die Vorwürfe zurück- und nach guter alter blame-game-Sitte auf das Impfstoffversagen der EU verwiesen.


2 Kommentare:

Schlau.meyer hat gesagt…

Glück heißt, seine Grenzen kennen und sie lieben.
Romain Rolland

ppq hat gesagt…

sehr schön