Mittwoch, 10. Mai 2023

Kanzler auf der Flucht: Plus zum Plan

 
Damit die Mieten bald wieder fair werden, will Olaf Scholz mehr abschieben.

Wie früher alle Jahre wieder treffen sich Bund und Länder auch in diesem zu einem sogenannten Flüchtlingsgipfel. Kurz war die Tradition dieser thematischen Krisengipfel  durch die Corona-Jahre unterbrochen worden, eigentlich aber gehörten die entsprechenden Zusammenkünfte bereits seit der Jahrtausendwende zur deutschen DNA. Bewährterweise erfolgen sie nie, wenn gerade nichts ist und Zeit wäre, Vorbereitungen zu treffen. Sondern stets dann, wenn es zu spät ist, um noch etwas zu tun. Ist es soweit, wird noch einige Monate gewartet, ehe es ums Geld geht und wer wie viel von wem bekommt. 
 
In der Regel läuft es für die Öffentlichkeit aber auf einen Zehn-Punkte-Plan hinaus, der je nach Stimmungs- und sonstiger Nachrichtenlage und als "ehrgeizig" oder aber auch als "umstritten" gelobt oder aber harsch gebrandmarkt wird. Zehn-Punkte-Pläne werden nie umgesetzt, zumindest ist die historische Forschung bis heute auf keinen einzigen Fall gestoßen, in dem ein Zehn-Punkte-Plan nach seiner Verkündigung von der Kanzel jemals überhaupt wieder erwähnt worden ist.Die eigentliche politische Funktion von Zehn- aber auch von den gelegentlich in freier Wildbahn auftauchenden Zwölf-, Acht- und Fünf-Punkte-Plänen besteht in der Befriedung des öffentlichen Interesses an einem Bekenntnis zur Befassung mit einer bestimmten Problemlage. 
 
Mal ist der Osten das Sorgenkind, mal der Migrant, mal geht es um hohe Preise, mal um das Erd-Klimakterium. Und immer hilft eine kurze Liste, mehrere Gedankenstriche untereinander, hinter denen eine Reihe von Worthülsen aufmarschiert, die als sogenannte "Beschlussvorlage" die "größten Baustellen" (n-tv) beschreiben und zugleich Handwerkszeug und Material anführen, die benötigt werden würden, wollte man das Problem lösen, aber auch nicht verschweigen, warum es dazu nicht kommen kann.
 
Vor dem neuerlichen "Flüchtlingsgipfel", dessen fragwürdiger Name bereits von einem archaischen Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten zeugt, hat auch der amtierende Kanzler Olaf Scholz seine Notizen vorab als "Pläne" durchsickern lassen. Danach beabsichtige auch er wie immer und alle seine Vorgängerinnen und Vorgänger, Abschiebungen künftig schneller und effektiver vonstattengehen zu lassen, abgeschobene Personen, die sich wieder ins Land schleichen, zu inhaftieren und zwar bis zu 28 Tage lang, Abschiebungen effektiver vorzubereiten und laufende Strafprozesse gegen Ausreisepflichtige nicht mehr als Hinderungsgrund anzuerkennen.
 
Das sind Knallhart-Maßnahmen aus dem 19-Punkte-Forderungskatalog der Pegida-Bewegung von 2015, die absolut zeigen, dass der Bund sich der "hohen Herausforderungen" bewusst ist, die die hohe Anzahl an Schutzsuchenden an das Land stelle. Kompromisslos verabschiedet sich der Kanzler deshalb in dieser schicksalhaften Situation vom Fünf-Punkte-Plan seiner Partei aus dem Jahre 2018. 
 
Damals, Olaf Scholz war gerade frisch ins Bundeskabinett aufgerückt, legte die deutsche Sozialdemokratie ihren letzten Plan zur Bekämpfung der Zuwanderung vor. Dem damaligen Zeitgeist folgend, stand seinerzeit die sogenannte Bekämpfung von Fluchtursachen im Mittelpunkt. Dazu plädierte die SPD entschlossen für Abschiebehaft, allerdings ausschließlich für "ausreisepflichtige Gefährder". Zudem zeigte sich die ehemalige Arbeiterpartei bereit, in einem nationalen Alleingang mehr Geld an Staaten überweisen, die bereit sind, Menschen, die sich aus Verzweiflung, Angst und wegen Verfolgung und Krieg und auf den Weg nach Europa machten, auf ihrer Reise nach Deutschland unterwegs aufzuhalten. Das sogenannte türkische Modell - Geld gegen Inobhutnahme - sollte auf alle südeuropäischen und die meisten afrikanischen Staaten ausgeweitet werden.
 
Eine Anregung, an die Bundesinnenministerin Nancy Faeser fünf Jahre später gerade entschlossen angeknüpft hat. Die Idee einer europäischen Lösung, die jede Verantwortung auf eine Ebene ohne greifbare Verantwortliche verlagert, gilt bis heute als Favorit zur verbalen Kontrolle des "Zustroms" (Angela Merkel).Und nie standen die Chancen auf eine Chance einer erneuten Vertagung so hoch wie heute: Galt es damals für Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt hatten,  ein beschleunigtes Verfahren durchzuführen, ist mittlerweile sogar klar, wie lange das dauern wird: Höchstens zwölf Wochen sind vorgesehen. 
 
Die bisher zuständigen Ausländerbehörden werden dabei wie schon 2018 vorgeschlagen entmachtet, die Schnellverfahren wickelt eine noch zu gründende neue Verwaltungsorganisation ab, die "an den Außengrenzen" (Faeser) ihren Sitz hat, aber wohl grenzüberschreitend außerhalb der EU entscheiden muss, ob mer se rinnlasse wie es in Köln heißt.Manches hat sich auch erledigt. Im neuen Punkteplan wird kaum noch die Rede sein von Hilfen für Italien und Griechenland. Der Partnerstaat ist derzeit postfaschistisch, der andere seit geraumer Zeit gerettet. 
 
Vom Prinzip bliebt es bei der SPD-Linie: Offene Grenzen ja, aber keine, die "Flüchtlinge" (Taz) einfach so überschreiten dürfen.Der "starke Schutz der Außengrenzen" der vor fünf Jahren als überraschende und smarte Idee galt, die am Widerstand in der SPD gegen geschlossene Lager in den Transitländern scheiterte, wird jetzt ergänzt um das Projekt der auch 2018 bereits ins Spiel gebrachten freundlichen, halboffenen Wartecamps, die "den humanitären Standards unseres Kontinents entsprechen". 
 
Zuwarten, das zeigt sich hier exemplarisch, ist immer die beste Lösung. Der Fünf-Punkte-Plan von 2018 ist einerseits heute noch so frisch wie damals, andererseits konnten zentrale Problemlagen handlungsfrei bewältigt werden. Nie kam es zur Gründung des Free Europe Network, das IS-Anhänger aufklären und abschrecken sollte, nie ist die SPD auf ihre Forderung nach noch mehr Videoüberwachung zurückgekommen, nie hat die Partei jemals wieder versucht, mit Thomas de Maizieres (CDU) Vorschlag der Schließung von "radikal-islamistischen Moscheen" bei einfachen Arbeitern und Agnostikern zu punkten.
 
Was damals gut war, so gut sogar, dass es entscheidend half, ohne umgesetzt werden zu müssen, kann heute nicht schlecht sein. Das meiste ist vergessen, also wie neu, der Rest kann mit Begriffen wie "effektiver", "schneller" oder "besser" aufgewertet und zu einem "Booster" (Scholz) für die Vertagung einer Lösung gemacht werden. Politik wie aus dem Bilderbuch.

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