Freitag, 31. Oktober 2025

Merz und der Mikroelektronikplan: Der Ritt auf dem Papiertiger

Chips Act: Der elektrische Papiertiger
Der Chips Act ist die Gründungsurkunde der Technologiehochburg Europa.

In Berlin geht es jetzt um Kopf und Kragen. Nachdem der Bundeskanzler die Stimmungswende auf den Sommer kommendes Jahres und den Herbst der Reformen auf den Herbst danach verschieben musste, sind die Möglichkeiten beschränkt, bis Weihnachten  Geschenke an Bürgerinnen und Bürger zu verteilen. 

Die Senkung der Stromsteuer, die das abgesagte Klimageld ersetzen sollte, musste ausfallen. Die Senkung der Netzentgelte beim Strom wird durch die Erhöhung der Netzentgelte beim Erdgas aufgehoben. Die Kassenbeiträge, die Preise, die Steuern und die kommunalen Abgaben klettern ungebremst. Die Menschen weigern sich inzwischen störrisch, ihr Konsumverhalten an die Erfordernisse anzupassen und wie früher  auszugehen, einzukaufen  und Geld auszugeben, das sie nicht haben.  

Eine verfahrene Situation 

Selbst dem mächtigsten Regierungschef Europas bleibt da nicht mehr viel Entscheidungsspielraum. Friedrich Merz hat ihn genutzt, um bei den Klassiker nachzuschauen, was in einer solch verfahrenen Situation zu tun übrig bleibt. Etwas brauchen die Leute da draußen, das weiß der kantige Populist Merz ganz genau. Mit einem Stadtbild allein sind die Landtagswahlen im Osten im kommenden Jahr  keinesfalls zu gewinnen. Gehen sie aber verloren, dann könnte nach der sozialdemratischen Ära, die 2021 begann und 2024 endete, auch die Ära des anständigen Progressivkonservatismus  mit grüner Kappe vorzeitig auslaufen.

Pünktlich zwie Jahre nach der Verabscheidung des als "Chips Act" weltwit bewunderten europäischen Chip-Gesetz hat  Friedrich Merz deshalb jetzt nach kurzer Beratung die "Hightech-Agenda der Bundesregierung" vorgestellt. In gleich sechs High-Tech-Bereichen, in denen Deutschland bisher keinerlei globale Bedeutung hat, soll der frühere Exportweltmeister zum "führenden Standort für neue Technologien" werden. Gedacht ist an Künstliche Intelligenz, an Quantentechnologien, an Mikroelektronik, Biotechnologie, Kernfusion und - eine kleine Verneigung vor Nostalgikern - auch an "klimaneutrale Energieerzeugung" und "Technologien für klimaneutrale Mobilität". 

Ein Trainer am Tabellenende 

Dass es um Dinge geht, die sehr gut klingen, ist kein Wunder. Friedrich Merz steht bereits nach einem halben Jahr im Amt vor einem Scherbenhaufen an zerschlagenen Erwartungen. Wie ein Fußballtrainer, der um die Meisterschaft spielen wollte und nun am Tabellenende steht, muss der 69-Jährige mit Plänen für einen kurz bevorstehendenGewinn der Champions League vom eigenen Versagen ablenken. Die geschichte lehrt: Nichts eignet sich dazu besser als haltlose Versprechen, mit denen ein großer Sprung zur Weltspitze oder ein schneller Sprint vorbei an allen derzeit führenden Nationen angekündigt wird.  

Die neue "Hightech-Agenda" der Bundesregierung ist eine Blaupause der großen Mikroelektronikstrategie, mit der die Führung der DDR ihre nicht mehr konkurenzfähige Wirtschaft in ab Ende der 70er Jahren hatte auf Augenhöhe mit Hightech-Nationen wie Japan, der USA und der Bundesrepublik bringen wollen. Wie damals umfasst die Strategie auch heute die gesamte Wertschöpfungskette der Mikroelektronik: Von der Forschung und Entwicklung über die Produktion von Halbleitern und integrierten Schaltkreisen bis hin zur Integration in Rechentechnik, Automatisierung und Exportprodukte.
 
Alles kann, alles muss, alles wird. Zumindest wenn die Wirtschaft auf den Kanzler hört und zu "mehr Kooperation mit der Wissenschaft" bereit ist, "um Innovationen im Land zu fördern". Nur dann könne man nämlich "eine Gestaltungsmacht sein", sagte Merz. 

"Standort stärken" 

Die kargen 45 Zeilen, mit denen die Bundesregierung ihre "Agenda" offiziell ankündigt, sollen offenbar noch nicht zu viel über die Einzelheiten verraten. Feind hört mit! Die Überschrift "Standort für Mikroelektronik stärken" verspricht jedoch einen ähnlich erfolgreichen Siegeszug wie damals, als Erich Honecker als Reaktion auf den globalen Boom der Halbleitertechnologie daranging, den technologischen Rückstand zum Westen aufzuholen. 
 
Die DDR pfiff auf dem letzten Loch. Die Infrastruktur verfiel, die Straßen bestanden aus Löchern, das Stadtbild erinnerte vielerorts an die unmittelbare Nachkriegszeit. Dennoch mobilisierte Honecker 100 Milliarden Mark, die er nicht hatte - eine Summe, die gemesssen am Bundeshaushalt heute rund 150 Milliarden Euro entsprechen würde - um Chipsfabriken zu bauen, Prozessoren und Logikschaltkreise zu etnwickeln und eine Computerfabrikation anzuschieben. 

Höchste Priorität

40 Jahre später hat "Innovationspolitik" wieder "die höchste Priorität!" und diesmal ist es ein Bundeskanzler, der mit seiner Entdeckung der Hochtechnologien die "Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz Europas in puncto Halbleitertechnologien und -anwendungen stärken und so zur Verwirklichung des digitalen und ökologischen Wandels beitragen" will. 
 
Es hat etwas gedauert bis zu dieser Erkenntnis, denn seit die als  "Chips Act" bekanntgewordene EU-Verordnung 2023/1781 am 21. September 2023 in Kraft trat, ist europaweit gar nichts passiert. Alle Neubauprojekte - etwa von TSMC und Infineon in Dresden - gab es vorher schon. Alle Hoffnungen, allein eine ausgerufene Initiative  namens "Chips für Europa" werde "den groß angelegten Aufbau technologischer Kapazitäten und Innovationen unterstützen", wurden enttäuscht.  

Europas technologische Führungsrolle 

Essig war es mit dem Vorhaben, "Europas technologische Führungsrolle in diesem Bereich auszubauen" (Ursula von der Leyen), doch das war keine Überraschung, denn eine solche "Führungsrolle" existiert nicht. Kaum verwunderlich, dass alle 27 Mitgliedsstaaten schon zum zweiten Geburtstag des Papiertigers "Chips Act" forderten, ihre ausgerufenen Ziele an die Realität anzupassen. Mit 43 Milliarden Euro an Investitionen wird aus der europäischen Halbleiterindustrie kein Gigant werden, wenn in China und den USA zugleich Billionen investiert werden. 
 
Die erklärte Absicht der europäischen Staatengemeinschaft, den EU-Marktanteil an der globalen Chip-Produktion bis 2030 von 10 auf 20 Prozent zu verdoppeln, hat genauso große Erfolgsaussichten wie Honeckers Traum, mit seiner DDR die Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft zu zeigen und den corporate Kapitalismus der Großkonzerne mit seinen Halbleiterkombinaten zu überholen.

Weit entfernt von der Wirklichkeit

Die Größenordnungen, die Gemeinsinnsender und die übrigen angeschlossenen Abspielstationen der Regierungspropaganda wohlweislich nie erwähnen, zeigen, wie weit weg Merz' Parolen von der Wirklichkeit entfernt sind. So hat die Bundesregierung als Ziel ausgerufen, dass Staat und Wirtschaft bis 2030 "mindestens 3,5 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aufwenden" sollen. Bis 2030. Und für Forschung und Entwicklung in allen sechs High-Tech-Bereichen, die die Agenda als entscheidend benennt. 
 
Die mobilisierte Summe, käme sie denn zusammen, entspräche etwa 160 Milliarden Euro. Allein die drei Hightech-Riesen Alphabet, Microsoft und Meta planen für kommendes Jahr Investitionen in Höhe von 230 Milliarden Euro nur für neue Rechenzentren. Halbleiterhersteller investierten zwischen 2022 und Frühjahr 2024 rund 450 Milliarden US-Dollar in Neu- und Ausbau von Chipfabriken in den USA.  Die EU plant ihre Aufholjagd mit einem Zehntel.

Kleingeld für Wachstum 

Friedrich Merz Vorhersage, dass "die Mikroelektronik der Schlüssel für eine gute Zukunft unseres Landes" sein werde, weil nur sie "Freiheit und Wohlstand" sichern könne, sollte lieber falsch sein. Denn "die Wachstumschancen, die unsere Industrie dadurch hat" (Merz), hat sie nicht, weil sämtliche Umfeldbedingungen nicht stimmen. Energie ist zu teuer, die Steuern sind zu hoch und die Genehmigungsverfahren dauern zu lange. 
 
Selbst Karl Lauterbach, derzeit anschlussverwendet als Chef des Bundestagsausschusses für Weltraumfahrt und Hightech Made in Germany, beklagt sich inzwischen über "fehlendes Risikokapital". In der Parallelwirklichkeit des Sozialdemokraten ist Deutschland mit dem Roboter "Toro" des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt "bei dieser Technik führend". Doch Lauterbachs Hoffnung, das ungeschlachte Einzelstück in Gestalt des Eisernen Holzfällers aus "Der Zauberer von Oz"  könnte "einen großen Markt erschließen", trifft auf eine Realität, in der Lauterbachs Partei gemeinsam mit CDU, CSU, FDP, Grünen und EU aus ganz Europa eine perfekte Todeszone für Geldanleger gemacht haben.  

Unmoralische Investitionen

Hohe Steuern sorgen dafür, dass den Deutschen wenig zum Anlegen übrig bleibt. Sozialistischen Wanderprediger beschwören nachhaltig Unmoral und Unsicherheit nahezu jeder Investition. Gewinne werden mit fast einem Viertel besteuert. Freibeträge sind seit 20 Jahren nicht erhöht worden. Statt eines einfachen und teuerbegünstigten Anlagesystems, wie es die USA mit dem 401(k)-Plan haben, experimentieren Bundesregierungen seit Jahrzehnten mit trickreichen und teuren "Riesterrenten" und "vermögenswirksamen Leistungen", deren Erträge fleißigen Sparern im hohen Alter helfen, zwei, drei Monate Pflegeheim zu bezahlen.
 
⁩Karl Lauterbach ist überzeugt, dass Deutschlands Holzfäller-Nachbau den Weltmarkt erobern wird. "KI wird Roboter massiv in die Industrie drücken", sagt der frühere Gesundheitsminister. Friedrich Merz glaubt, dass das Dresdner Halbleiterunternehmen GlobalFoundries, eine Firma im Besitz der Advanced Technology Investment Company (ATIC), dem Staatsfonds von Abu Dhabi, "Schlüsseltechnologie für Wohlstand, Freiheit und Sicherheit" liefere. Kerntechnologie des Unternehmens ist der 22FDX-Prozess, der Experten zufolge "eine kostengünstige Alternative zu komplexeren Designs" darstellt. Ausweis des Erfolges der Firma ist der Aktienkurs, der sich seit 2022 halbiert hat.
 
So führt Deutschland: Eine USA-Firma in arabischem Besitz, die hinter den Giganten der Branche zurückgeblieben ist wie das Silicon Saxony hinter Taiwan und seiner Taiwan Semiconductor Manufacturing Company.  Der Siegeszug der KI hat gerade begonnen, schon aber hat Europa mit seinem weltweit einmalige "KI Act" eine Anwendungsbremse eingeführt. Über eigene große Sprachmodelle verfügt der gesamte Kontinent nicht und es wird sie auch nie haben. Im Wettlauf mit den US-Riesen setzt die EU auf sechs "Gigafabriken", in die sie in den kommenden Jahren "mehr als 500 Millionen Euro" stecken will. 
 
Das sind 0,2 Prozent der Summe, die allein Meta, Alphabet und Microsoft im kommenden Jahr investieren.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lauterbach>
KI wird Roboter massiv in die Industrie drücken. Noch sind wir bei dieser Technik führend und könnten einen großen Markt erschließen.

Das sagt er beim Fotoshoot mit einem DLR-Nachbau des depressiven Roboters Marvin.
Die These, dass Lauterbachs Aussagen nie mehr als 0% Wahrheit enthalten sind, bleibt unwiderlegt.

Mikroelektronik-Strategie im Kabinett beschlossen

Was noch fehlt, ist eine europäische Mikroelektronikbehörde mit Außenstellen bis hinunter in den Bezirksstädten. Redet mal mit Ursula.

Anonym hat gesagt…

"Eine verfahrene Situation"
Mitnichten*. Es läuft wie am Schnürl'.

* (... hat die Nase meiner Wirtin, deren Name Eulalia, wie Sie die Güte, sich zu erinnern ... )