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Ältere leben inzwischen oft zu lange, die Rentenkassen können die Last kaum mehr stemmen. |
Die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland ächzt unter dem Druck der demografischen Entwicklung. Die Lebenserwartung steigt, die Geburtenraten sinken, und die Finanzierung des Umlagesystems gerät ins Wanken. Laut Statistischem Bundesamt erreichte die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt 2024 für Frauen 83,5 Jahre, das sind 0,2 Jahre mehr im Vergleich zum Vorjahr. Bei Männern waren es 78,9 Jahre, ein plus von 0,4 Jahren. Damit hatte die Lebenserwartung der Deutschen das Niveau von 2019 zwar wieder erreicht, aber der Zuwachs liegt weiterhin etwa ein halbes Jahr unter dem langfristigen Trend vor der Corona-Pandemie.
Am Rand des Zusammenbruchs
Einerseits ist das ein Problem. Andererseits entspannt es die sich seit Jahrzehnten zuspitzende Lage an der Rentenfront. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelt, von 35,6 Jahren bei Männern und 38,5 Jahren bei Frauen stieg sich auf die aktuellen Werte – ein Erfolg von Medizin, Hygiene und Wohlstand, der das unter ganz anderen Voraussetzungen begründete gesetzliche Rentensystem jedoch an den Rand des Kollapses bringt.
Experten wie Politiker sorgen sich seit Jahren um die Sicherung der Altersversorgung von Millionen. Parteien haben das Rentenniveau eingedampft und das Renteneintrittsalter erhöht, die Renten wurden mit Steuern belegt, um Ruheständler weiter zu Finanzierung heranziehen zu können. Die Zuschüsse zur Finanzierung aus der Steuerkasse sind heute der größte Posten im Staatshaushalt - und es reicht immer noch nicht absehbar immer weniger.
Pflichtjahr für Alte
Radikale Umbauvorschläge - etwas ein Pflichtjahr für Alte oder die Abschöpfung aller Beträge über 1.048 Euro Ruhestandseinkommen durch den "Boomer-Soli" finden angesichts der Übermacht der wahlberechtigten Senioren keine demokratische Mehrheit. Das System fährt langsam, aber vor die Wand. Es fehlt an Stellschrauben, die sich drehen lassen. Alle bisher getroffenen Maßnahmen wie Haltelinien und Obergrenzen entpuppen sich jeweils in Windereile als reine Symbolik.
Vor diesem Hintergrund sorgt jetzt ein Vorschlag aus Sachsen für Furore: Herbert Haase, Chef des Climate Watch Institutes (CWI) in Grimma, fordert eine tabulose Debatte über die gezielte Senkung der Lebenserwartung. Der Klimatologe und Geriatriker argumentiert nicht nur mit der Rettung der Rentenkassen, sondern verknüpft seinen Ansatz mit dem Klimaschutz. "Jeder zusätzliche Lebensmonat eines Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft wie Deutschland verursacht eine erhebliche Klimalast", warnt Haase. "Wenn wir die Lebensdauer dagegen pro Person um nur ein Jahr reduzieren, entlasten wir nicht nur die Rentensysteme, sondern auch den Planeten."
Ableben statt Sozialjahr
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: 2024 leben in Deutschland etwa 21 Millionen Menschen über 65 Jahre, und bis 2035 wird schon jeder Dritte in diese Altersgruppe fallen. Die Rentenbezugszeit hat sich seit den 1960er-Jahren von etwa zehn auf fast 20 Jahre verdoppelt. Gleichzeitig schrumpft die Zahl der Beitragszahler: Die Erwerbsbevölkerung wird bis 2030 voraussichtlich um weitere drei Millionen sinken. "Das Umlagesystem ist ein Relikt aus einer Zeit, in der Menschen früher starben und vorher mehr Kinder großzogen", erklärt Haase in seinem Büro in Grimma, umgeben von Klimadiagrammen und Bevölkerungsprognosen.
Bisherige Reformvorschläge wie die Anhebung des Rentenalters oder höhere Beiträge sind erwartbar an Grenzen gestoßen. Ein Renteneintrittsalter von 70 Jahren ist für viele, besonders in körperlich belastenden Berufen, kaum vorstellbar. 50 oder 55 Jahre zu arbeiten, fällt aber selbst denen schwer, die es in Büroberufen eher leicht haben.
Höhere Belastung der Jungen
Doch höhere Beiträge belasten die junge Generation, die ohnehin mit stagnierenden Reallöhnen und hohen Lebenshaltungskosten kämpft. Eine Senkung der Rentenhöhe, die 2023 bei etwa 1.600 Euro brutto lag, würde hingegen die Altersarmut verschärfen - der Staat müsste noch mehr Menschen direkt finanziell unter die Arme greifen. Doch auch wegen der notwendigen hohen Rüstungsausgaben und dem erforderlichen Umbau der Wirtschaft zur Klimaneutralität fehlt dazu das Geld.
Zwar liegt Deutschland einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zufolge bei der Lebenserwartung im westeuropäischen Vergleich zum Glück zurück: 2022 wurden andere Westeuropäer im Durchschnitt fast zwei Jahre älter. Ein Rückstand von 1,7 Jahren, der sich seit 2000 vergrößert hat. Doch für Entlastung sorgt das angesichts niedriger Geburtenraten nicht. Es fehlt an Beitragszahlern - und der Mangel wird sich weiter verschärfen.
Lebenserwartung als Hebel
Herbert Haase, 58, ist beileibe kein Mann der leisen Töne. Der Klimatologe, der seit 15 Jahren das CWI leitet, hat schon neue Steuern ins Spiel gebracht, um das Klima zu retten, und er hatte Ideen, wie sich Viehzucht und Verzicht vereinbaren lassen. Im Spannungsfeld zahlloser Zwänge sieht er der steigenden Lebenserwartung nicht nur eine Bedrohung für die Rentenfinanzierung, sondern auch für das Klima. "Ein durchschnittlicher Deutscher verursacht pro Lebensjahr etwa zehn Tonnen CO₂-Äquivalente", rechnet Haase vor. daraus ergäbe sich eine fundamentale Chance: "Wenn wir die Lebenserwartung um ein Jahr senken, sparen wir pro Person diese zehn Tonnen CO₂." Bei 20 Millionen Rentnern ergäbe sich eine Einsparung von 200 Millionen Tonnen. "Das entspricht einem Viertel der jährlichen Emissionen Deutschlands."
Allein das, so glaubt der Wissenschaftler, rechtfertige es, zumindest Freiwilligenprogramme für ein sozialverträgliches Frühableben anzubieten. So provokant Haases Vorschlag auch klingt: Er ist doppelt vernünftig, weil auch die Renten- und die notleidnednen Krankenkassen profitieren würden. Ein herumreden gibt es deshalb für den Sachsen nicht: "Statt die Lebenserwartung durch medizinische Innovationen weiter zu steigern, sollte der Staat bewusst darauf verzichten, die Lebensdauer zu maximieren", sagt er. Die Lage erfordere eine Verkürzung der Lebenspanne jedes Einzelnen: "Wir müssen uns fragen, ob es sinnvoll ist, Millionen Euro in Therapien für Menschen über 80 zu investieren, die oft nur wenige Monate Lebenszeit bringen", sagt Haase.
Eine Win-Win-Situation
Seine Zahlen sind gründlich ermittelt und mehrfach durchgerechnet. Die Win-Win-Situation sei nicht anzuzweifeln. "Eine Fokussierung auf Grundversorgung und Prävention statt auf teure, lebensverlängernde Maßnahmen könnte die Lebenserwartung leicht senken, die Gesundheitsausgaben reduzieren und den klammen Rentenkassen Milliardenausgaben ersparen."
Dazu gehöre im Vorfeld ein Paradigmenwechsel. Im Konzept des CWI "Zur Rettung der Rente" wie es offiziell heißt, steht ein verzicht auf öffentliche Kampagnen gegen Rauchen, Alkohol oder ungesunde Ernährung obenan. "Lassen wir die Menschen wieder entscheiden, wie sie leben und wann sie sterben wollen", argumentiert Haase. Dadurch würde die natürliche Varianz der Lebenserwartung erhöht und die durchschnittliche Lebensdauer moderat gesenkt.
Analysiert und bekämpft werden müssten agemäß der grundgesetzlichen Vorgabe zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse auch bestehende regionale Unterschiede. Alle Daten zeigen, dass etwa die Lebenserwartung in Baden-Württemberg mit 80,1 Jahren bei Männern und sogar 84,2 Jahren bei Frauen deutlich höher sei als in ostdeutschen Bundesländern wie Sachsen-Anhalt. Es gehe nicht an, dass ein Teil Deutschlands sich solidarisch verhalte und das System nicht bis Knallpunkt ausnutze, während der andere lebe, als gehe ihn die Krise der Versorgungssysteme nichts an. Haase plädiert entschieden dafür, diese Disparitäten durch gezielte Maßnahmen auszugleichen, über deren detaillierten Charakter noch zu sprechen sein werde. "Das als Teil einer klimafreundlichen Strategie zu implementieren, ist sicherlich eine Aufgabe für die Politik."
Ein doppelter Gewinn?
Haases Rechnung ist simpel: Eine Senkung der Lebenserwartung um ein Jahr würde die Rentenbezugszeit um etwa fünf bis zehn verkürzen. Bei einer durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von 20 Jahren entspräche dies schon bei der Durchschnittsrente als Berechnungsgröße einer Einsparung von 400 Milliarden Euro im Jahr. Das würde den Rentenkassen Luft verschaffen. Gleichzeitig würde die Klimalast sinken, da ältere Menschen in Wohlstandsgesellschaften oft einen freizeitbedingt hohen ökologischen Fußabdruck haben. Sie reisen viel, nutzen die gute medizinische Versorgung und schaffen sich oft ihre alten Tage noch zahllose neue Konsumgüter an.
Natürlich ist dem Forscher bewusst, dass sein Vorschlag einen hohen Preis hat. Eine gezielte Reduktion der Lebenserwartung, auch wenn sie indirekt erfolgt, widerspräche dem ethischen Grundsatz, dass der Staat das Leben seiner Bürger schützen soll. Hier sieht Haase jeodhc ein Missverständnis. "Schützen" heiße nicht konservieren um jeden Preis, schon gar nicht um den, dass das Gesamtsystem unserer Demokratie ins Rutschen gerate.
Sein Augenmerk bei der Umsetzung der Pläne gilt deshalb eher möglichen soziale Ungleichheiten: Wohlhabende, die sich private Gesundheitsversorgung leisten können, würden womöglich versuchen, länger zu leben, als ihnen zusteht. Einkommensschwache Gruppen wären von den Kürzungsplänen stärker betroffen. Womöglich käme es gar zur Bildung eines Sekundärmarktes für Lebenszeit. "Das ist ein Dilemma", gibt Haase zu, "aber wir müssen die Frage stellen: Was ist uns wichtiger – individuelle Langlebigkeit oder die Rettung des Planeten und unserer Rentensysteme?"
Gesellschaftliche Sprengkraft
Gegen Kritik hat sich der Kliam- und Altersforscher immunisiert. "Ich will niemanden zwingen, früher zu sterben", sagt er. Fakt sei aber, dass ehrlich über die Grenzen unseres Systems gesprochen werden müsse. "Und auch über die Klimalast, die jeder von uns verursacht." Um diese breite Debatte, die auch unpopuläre Ideen zulassen müsse, führe kein Weg herum. "Wenn wir weiterhin die Augen verschließen, werden wir weder die Renten noch die Krankenkassen noch das Klima retten", ist er sich sicher.
Eine Debatte ohne Tabus
Herbert Haases Vorschlag, die Lebenserwartung zu senken, ist zweifellos ein Tabubruch – aber ein genau durchgerechneter. Er zwingt die Gesellschaft, unschönen Tatsachen ins Auge zu sehen: Ohne Verzicht geht es nicht und angesichts der Alternativen ist das solidarische Frühableben vielleicht die gerechteste Lösung für ein Problem, mit dem die Gründer der gesetzlichen Rentenversicherung nicht rechneten - und das all ihre Erben im politischen Raum wohlweislich jeweils nur mit kurzfristigen Notmaßnahmen überbrückten.
Angesichts der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Rentenfinanzierung, Krankenkassenkassenlage und Klimaschutz läuft eine gesellschaftlich gerechte Lösung auf eine schwierige Entscheidung hinaus. Haases radikale Idee liegt auf dem Tisch - sie weist einen Weg, wenn er auch unbequem ist.
4 Kommentare:
Im Bild: Oma Ursula bekam zum 66. ein Tablet geschenkt, um sich online über sozialverträgliches Früherableben informieren zu können.
Man könnte in der StVO verankern, dass Personen älter als 67Jahre (Beamte bereits ab 64) zukünftig auch bei Rot über die Straße gehen dürfen.
und dann hält sich wieder niemand dran
Man muss das nur entsprechend Framen, damit die Idee funktioniert. Z.B. "Rotlichtphase gegen Rechts". Die, die aus Prinzip gegen den Strich bürsten, werden sich natürlich nicht dran halten.
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