Donnerstag, 11. September 2025

Von der Leyen: Rede zur Lage in Wolkenkuckuckshausen

Ursula von der Leyen Anführerin Europa Kümram Ölgemälde
Die Eiserne Lady: Ursula von der Leyen ist einmal mehr in eine neue Rolle geschlüpft. Für den jungen Maler Kümram hat sie in einer typischen Pose als Heldin für ein Bild Porträt gestanden.

Es ist ihr großer Auftritt, ihr Stunde, ihre Schlacht. Vor Tagen schon hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, sie werde am 10. September eine wegweisende Rede zur Lage der Union halten. Das Datum ist kein Zufall, genau 72 Jahre zuvor war in Straßburg erstmals die Gemeinsame Versammlung der Montanunion zusammengetreten - ein Tag, den die EU in ihrer bekannt traditionsbewussten Art heute als Geburtstermin für des Europäischen Parlaments betrachtet.

Aufrüttelnder Aufrut 

In dessen prächtigem Plenarsaal, umgeben von einem bunten Meer aus Flaggen und einem Auditorium aus Parlamentariern aller Länder tritt Ursula in Rosébluse mit passendem, Kettchen, malvenfabenem Blazer und schwarzer Hose an, um die erste "State of the Union"-Rede der neuen Legislaturperiode zu halten. Es wird weniger Ansprache als Aufruf, weniger Bericht zur Lage der Dinge als Beschreibung der Welt, die Ursula von der Leyen vor sich sieht. Von Tech Leadership, dem von vielen vermuteten neuen Kernkampfbegriff der zweiten Amtsperiode der 66-Jährigen, so viel sei vorweggeschickt, wird nicht die Rede sein. 

Dafür aber viel von Kampf, Schicksalsstunden, Krisen und Wendepunkten. Von der Leyen gibt den Winston Churchill, ohne von Blut, Schweiß und Tränen zu sprechen. Kämpferisch will sie wirken, sie simuliert emotionale Aufladung und will den Eindruck vermitteln, die schon wieder notwendige  Krisenbewältigung dank eines neuen großen Planes im Griff zu haben. Anzumerken ist der EU-Chefin, dass sie schon nach ihrem als "Wiederwahl" bezeichneten Verbleib im Amt unter Druck steht, endlich mehr zu liefern als weitere Krisenbeschreibungen und Durchhalteparolen.

Immer wieder große Würfe 

Zu viel hat Europa bereits gehört, zu oft hat die frühere deutsche Vielministerin große Würfe versprochen und anschließend zuverlässig kleines Karo geliefert. Die EU, schon unter Vorgänger Jean-Claude Juncker ein unbeweglicher Riesendampfer, der sich gerade so noch über Wasser hielt, hat unter der Frau aus Niedersachsen auch die letzten Reste an Respekt verloren. 

Brüssel gilt als Bremse, Brüssel gilt als Bevormundung, Brüssel wird bis in die Regierungszentralen der Mitgliedsstaaten für allen Unsinn verantwortlich gemacht, der dafür sorgt, dass der selbsternannte "größte Binnenmarkt der Welt" wirtschaftlich Monat für Monat weiter nach hinten durchgereicht wird. Dagegen versucht Ursula von der Leyen auch bei ihrer großen Rede Jahrgang 2025 wieder anzureden, indem sie sich als Kämpferin positioniert – für Frieden, Unabhängigkeit und all die Dinge, die üblicherweise "europäische Werte" genannt, aber nie genau beschrieben werden.

Ursulas Unabhängigkeitserklärung

Alles ist groß, alles ist wichtig. Für diesmal heißt die zentrale These, die ihr ihre Leute aufgeschrieben haben: "This must be Europe's Independence Moment." Isolationismus statt Westbindung, Brandmauern statt Freihandel. Von der Leyen droht, EU-Firmen mit neuen Importabgaben vor Konkurrenz schützen zu wollen, sie stellt in Aussicht, dass bereits geführte "strategische Dialoge" mit wichtigen Industriezweigen den Niedergang der EU bremsen werde. Alles dreht sich um Gegenwehr, Abwehr, Abschottung und Sanktionen, Förderprogramme, zentrale Pläne und riesige EU-Vorhaben, die das Blatt wenden sollen. 

Die Tonart ist martialisch, denn die Aussichten sind selbst durch von der Leyens Brille betrachtet dramatisch. Von der Leyen eröffnet mit "Europe is in a fight" – Europa ist im Kampf. Immerhin nicht Krieg. Doch das Schlüsselwort wird mehrmals wiederholt: Kampf für einen ganzen Kontinent, für Freiheit, für Demokratie. Der Tonfall soll aufrütteln, motivieren, er ist bewusst schrill und alarmierend, als wolle Ursula von der Leyen den Wecker geben für eine EU, die sie selbst mit in den Schlaf gewiegt hat.

Kein Konsens, keine Kompromisse 

Konsens, Kompromisse, die ausgestreckte Hand - all das kennt die Frau nicht mehr, dass die Bilder von Trump und Putin beim Versuch, einem Frieden in der Ukraine näherzukommen, für sie "nicht leicht zu verdauen" gewesen seien. Von der Leyen, die in China nur durch die Hintertür vorgelassen wird, in Ankara auf dem Beistellsofa sitzen muss und im Weißen Haus einen Zoll-Deal heraushandelte, der der EU dieselben Sätze wie Afghanistan beschert, setzt auf Polarisierung. 

Sie malt das Bild einer belagerten Festung, spricht zwar von abwanderndem Wohlstand und flüchtenden Arbeitsplätzen. Mit Omnibus-Pakete, also Gesetzen, die mit einem Trick durch den normalen Gesetzgebungsprozess geschleust werden, werde bald alles besser. "Weniger Papierkram, weniger Überschneidungen, einfachere Vorschriften."

Das ist die EU der Präsidentin. So steif und unbeweglich, dass die, die die Gesetze gemacht haben, sich selbst austricksen müssen, um sie zu umgehen. Von der Leyen überspielt die bizarren Volten, die die Gemeinschaft notgedrungen schlagen muss, mit einer offensiven Ansprache und versprechen von einem neuen "Drohnenwall" gegen Russland, einer "weltraumraumgestützte Echtzeit-Überwachung und der Einführung eines "Europäischen Semester der Verteidigung". Wortgeklingel wie von Kirchenglocken. 

Honig ums Maul 

Als "honourable Members" geht sie den Abgeordneten um den Bart. Das englische "We" ist ihr Synonym für die EU als Ganzes, obwohl seit dem Austritt der Briten in der Gemeinschaft nur ein verschwinden kleine Gruppe englischer Muttersprachler leben. Europa aber ist abhängig von der Sprache, die sich nicht seine ist, weil es zu viele eigene hat und sich keine der großen Nationen von ihrer trennen wird, um eine gemeinsame zu pflegen. Welche das sein sollte? Der Streit wäre episch. An ihm würde die EU zersprechen.

Unbeeidnruckt von solchen Realitäten hält Ursula von der Leyen ihre Rede zur Lage im Wolkenkuckcucksheim. An die vermeintliche "kollektive Identität" der Europäer appelliert sie, abgewürzt mit sorgsam entworfenen persönlichen Anekdoten, einer traurigen Kriegskindergeschichte aus der Ukraine und der überraschenden Mitteilung, dass die Handelsbarrieren im EU-Binnenmarkt so hoch seien, dass sie "nach Schätzungen des IWF sie einem Zoll von 45 Prozent" entsprächen.

Pathos und künstliche Emotionen 

Das ist dreimal so hoch wie die neuen Trump-Zölle, geht aber in Pathos und künstlichen Emotionen unter. Leyens Schwerpunktsetzung verrät ihre Prioritäten. Die ersten 15 Sätze sind dem Frieden und der Unabhängigkeit gewidmet, dann folgen Verteidigung und Ukraine mit  20 Sätzen und einem neuen Kampfruf: "a fight for our values and our democracies". Europa hat, von der Leyen zufolge, mehrere. Die Wirtschaft folgt darauf, mit 25 Sätzen der größte Block, die Betonung aber liegt auf Wachstum und Sozialem, ohne dass von der Leyen Hinweise darauf gibt, wo die Ursachen für die Misere der EU liegen. 

Technologie wird als Drittes abgehandelt, kurz in zehn Sätzen, die auch für  Energie und Innovation reichen müssen. Der Nahe Osten kommt als Vierter, ebenso in zehn zehn Sätzen, gepfeffert mit scharfer Kritik an Israel. Ursula von der Leyen weiß, das kommt immer gut an. Und sie weiß auch: die Verkündigung der Einstellung aller EU-Finanzhilfe für den bedrohten Judenstaat wird es sein, die von ihrer Rede übrig bleibt und alle Schlagzeilen bestimmt. 

Und sie wird noch größer 

Der Rest ist Routine. Es geht noch um Enlargement genannte nächste Erweiterungsrunde einer EU, die vor lauter Größe heute schon keinen Schritt mehr vorankommt. Um den Klimawandel, acht Sätze, ganz hinten. Und Migration und Soziales, mal hier, mal da, zusammen in 15 verstreuten Sätzen. Pandemie und Gesundheit, lange die Themen, mit denen Ursula von der Leyen der EU Bedeutung verschaffen wollte, kommen nicht vor. Die Weltraumfahrt, die Wissenschaft, die Demokratie, die Bedrohung von rechts, Medien und Halbleiter - all die Modethemen, die zuletzt durch Brüssel schwappten, haben sich bereits wieder aufgelöst. Zu Polen und dem vermeintlichen Drohnen-Angriff Russlands sagt sie etwas Aufrüttelndes. Zu den Unruhen in Frabkreich natürlich nicht.

Der Aufbau der Rede und ihre Schwerpunkte zeigen, dass Reihenfolge Verteidigung, Wirtschaft, Unabhängigkleit, Technologie, Ukraine, Naher Osten, Klima die augenblickliche Prioritätensetzung einer zusehends panisch agierenden Kommission abbildet. Sicherheit vor Umwelt, Idealpolitik vor Realismus, Festhalten an Illusionen statt des Eingeständnisses, dass der falsche Weg auch nicht ans Ziel führt, wenn man ihn mit doppelter Geschwindigkeit und unter Absingen trotziger Lieder weitergeht.

Sie malt sich ihre Welt 

Stattdessen malt Ursula von der Leyen eine Welt an die Wand, in der die "unabhängig" werden muss – von Russland, China und sogar den USA. Und in der sie das auch kann, wenn alle nur fest daran glauben und eifrig mittun. Ideen zur Umsetzung hat sie einige dabei: Sie fordert eine "reparations loan" aus eingefrorenen russischen Auslandsvermögen für Ukraine, einen Gipfel zur Rückführung entführter urkainischer Kinder und einen Ausstieg aus dem Einkauf russischem Öl und Gas. Kein Wort dazu, wie. Kein Wort dazu, was stattdessen.

Geht es nach der studierten Ärztin, kann die finanziell dauerklamme EU mit ihren reihenweise am Rand der nächtsen Finanzkrise taumelnden Mitgliedstaaten ihre Krise lösen, indem sie sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Es brauche dazu soziale Maßnahmen und Investitionen in Infrastruktur,  schon sei die Rezession besiegt. Die EU-weit nicht vorhandenen Technologieunternehmen ersetzt die Brüsseler Bürokratin durch die Behauptung, es gebe sie. 

Deprimierende Aussichten 

Die deprimierenden Wirtschaftsaussichten würden sich aufhellen, sobald das grüne Wachstum beginne, dass Europa zurück an die Weltspitze katapultieren werde. Bis dahin müsse die EU einfach "härter, einiger und investitionsstärker" werden, etwa durch eine "Roadmap für common defence projects", einen "Fokus auf Innovation" und eine möglichst balödige Erweiterung um weitere malade Balkanstaaten. "Let's make the next reunification of Europe happen", ruft von der Leyen und meint die Ukraine und Moldawien. 

Die Grundausrichtung der künftigen EU-Politik ist damit klar. Von der Leyen baut an einer "Festung Europa", die in den Kampf gegen die restliche Welt ziehen soll. Sie soll sich selbst verteidigen können und dazu eine Rüstungsindustrie aufbauen, die den Namen verdient hat. Sie soll sich unabhängig von Energieimporten machen, aber auch bei neuen Technologien auf eigenen Beinen stehen. Sie soll zudem weiter an ihrem Klimakurs festhalten, auch wenn daraus resultierenden Wettbewerbsnachteile weiterhin  auf den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger durchschlagen.

Eine Politik des Immerweiterso 

Bloß keine Fehlerdiskussion. Ursula von der Leyens Politik ist eine des sturen Immerweiterso. Die Christdemokratin, einst eilig nach Brüssel abgeschoben, weiß, dass erst ihr Nachfolger die Scherben von Jahren und Jahren verbohrter ideologischer Fantasiepolitik aufkehren kann. Sie selbst muss hoffen, dass es bis dahin reicht, auf Krisen mit markigen Worten und großen Ankündigungen zu reagieren.

Dass die in sich widersprüchlich sind, ist längst egal: Frieden predigen, aber Sanktionen verschärfen; ein Ende des Krieges fordern, aber Verhandlungen ablehnen, Wachstum und wirtschaftliche Dynamik versprechen, aber soziale Umverteilung fördern, Technologieführerschaft reklamieren, aber jede neue Technologie behindern und kaputtregulieren - für Ursula von der Leyen ist das nur konsequent.

Strategie Steuergeld und Schklden 

Ihre Strategie sind wie immer neue Förderprogramme, finanziert aus neuen Schulden. Diesmal kündigt sie gleich beeindruckende acht neue Vorhaben mit wunderbaren Namen an – ein Feuerwerk an Initiativen, das einer erneuten Milliarden-Regen verspricht, nach dem auch wieder nichts wachsen wird. Einen "mit mehreren Milliarden Euro ausgestatteten Scaleup-Europe-Fonds" werde man auflegen, "massiv in europäische KI-Gigafabriken" investieren, ein "Batterie-Booster-Paket starten", einen Industrial Accelerator Act zur "industriellen Beschleunigung für wichtige strategische Sektoren und Technologien" vorschlagen und  mikt einem "neuen, langfristig angelegten Handelsinstrument" europäische Hochpreisproduktionen vor ausländischer Konkurrenz abschirmen.

Nie zuvor hat die Ankündigungskünstlerin von der Leyen in kürzerer Zeit mehr Versprechen gemacht.Vieles ist umverteilt, nicht neu. Die meisten "Investitionen" sind ein Euphemismus für konsumtive Ausgaben aus neuen Schulden. Die meisten großen Programme haben nicht mehr Gehalt als ein Windbeutel -- Von der Leyens Rede ist auf einer Apple- oder Windows-Software entstanden und auf Jahre hinaus wird sich nichts daran ändern, dass sich Europa allein weder verteidigen noch wirtschaftlich oder technologisch am Leben halten kann.

Sie kämpft wie immer nur für sich 

Von der Leyen Weckruf, der die EU in einen inneren Kampfmodus versetzen sollte, um vom systemischen Versagen der Brüsseler Planwirtschaftsbürokratie abzulenken, wirkt vor dem Hintergrund der "uns umzingelnden Wirklichkeit" (Robert Habeck) wie der letzte Pfiff im Walde. Niemand hat ihn gehört: Kein einziger Fernsehsender in der EU übertrug die Ansprache. Und in den Leitmedien bleiben vom großen Wurf nur ein paar Zeilen über einen beginnenden "Überlebenskampf" Europas (Handelblatt) und die "Anführerin" (Spiegel), die nur "für sich" (Taz) kämpft.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Sie wird wie immer keine Probleme haben, Empfänger für ihre Milliardenpakete zu finden. Das zumindest klappt reibungslos.