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Abfall auf der Straße gilt vielen als Symptom tiefer sitzender Probleme. |
Die Müllberge türmen sich. Einkaufswagen rosten still im Regen. Ratten huschen durch die Dämmerung. Papierfetzen treiben mit dem Wind durch die Gosse. Deutschland im Herbst der Reformen. Deutschland, ein vermülltes Paradies mit bekritzelten Wänden, Straßen voller Glasscherben und Kippen vor den letzten paar geöffneten Kneipen, vor denen sich die Raucher versammeln, seit drinnen Rauchverbot herrscht.
Der beklagenswerte Zustand ist nicht neu, doch er war allgemein akzeptiert. Nun ist er halt da, der Verfall, sagten sich viele. Bis Bundeskanzler Friedrich Merz das Wort "Stadtbild" in den Mund nahm und sofort auf die Abwehrreflexe der Zivilgesellschaft traf. Man wisse gar nicht, was er gemeint habe, klagte die "Tagesschau", obwohl klar war, dass selbst im Hamburger Studiokomplex und im benachbarten "Spiegel"-Hochhaus jeder die passenden Bilder vor Augen hatte.
Entgleisung des Bundeskanzlers
Die "Entgleisung des Bundeskanzlers" (Spiegel), der nach "Spiegel"-Angaben von "angeblichen Problemen im Stadtbild" sprach, hat eine lange Vorgeschichte. Seit Jahren schon hatten die größten Medienhäuser gewarnt. 2017 etwa wagten sich Reporter der Illustrieren "Stern" nach Duisburg-Marxloh. Ihre Reportage beschrieb das Stadtviertel als Mahnmal des fortschreitenden Verfalls. "Zwischen Angst, Müll und verwahrlosten Wohnungen", überschrieb "Stern TV" den Bericht.
Kameras zoomten in Hinterhöfe, in denen Unrat vor sich hin faulte. Ungeziefer lebte hier, Mäuse und Kakerlaken huschten an Fassaden voller unleserlicher Tags vorüber. Die, die inmitten der verschwindenden Zivilisation lebten, klagten: "Früher war hier Leben, jetzt nur noch Chaos." Die Sendung löste eine Welle der Empörung aus – und auf dem Fuße folgte ihr eine Debatte nicht über das Versagen der Stadtreinigung, sondern über mangelnde Integration.
Symbol Marxloh
Marxloh, einst Heimat handfester Arbeiter am Rhein, war zum Symbol geworden: Ein Viertel, in dem der Müll nicht nur einfach Abfall und Ausweis eines galoppierenden Kulturverfalls war, sondern Symptom sozialer Desintegration. Kein Einzelfall. 2018, widmete sich die Hauptstadtzeitung "Die Welt" demselben Phänomen vor ihrer eigenen ungekehrten Tür. Der Text "Verwahrlosung & Schlamperei: Die Vermüllung des öffentlichen Raums" beschrieb ein umgekipptes Land. Deutschlands Städte, ehemals gekämmt, gescheitelt und gefegt, versanken unter Müll und sie verschwanden hinter Schmutz und Schmierereien.
Das Modellbahnbild, das Besucher aus anderen Ländern nach Deutschland mitbringen, finden sie inzwischen fast nirgendwo mehr. Wer den Berliner Hauptstadtflughafen verlässt, sieht als erstes ein Feld aus zertretenen Pappbechern, Zigarettenkippen und Brötchentüten. Der Brunnen sprudelt nicht. Die Mülleimer quellen über.
Aus dem sagenumwobenen Land der Ordnung, dem Land der sauberen Straßen, der gepflegten Parks und der Fassaden ohne Makel, ist ein abschreckendes Beispiel geworden. Touristen stolpern in Berlin-Neukölln über fleckige Matratzen mitten auf dem Gehweg. Sie bestaunen zerbrochene Stühle in verdorrten Rabatten. Stolpern durch Berge von Fast-Food-Verpackungen. Und sie mühen sich vergeblich, das rätselhafte Graffiti-Geschmiere an den Wänden zu entziffern.
Am wunden Punkt
Friedrich Merz hat mit seiner "Stadtbild"-Aussage einen wunden Punkt getroffen. Unbeabsichtigt sicher, denn der Kanzler ist nicht dafür bekannt, sich wie der Abbasiden-Kalif Harun-al-Raschid verkleidet unter sein Volk zu mischen, um nach dem Rechten zu sehen. Doch die Reaktionen geben dem CDU-Chef recht: Nicht nur er riecht den Gestank der Müllhaufen und nicht nur er hört das Klappern der entführten Einkaufswagen. Die Verwahrlosung des öffentlichen Raums ist kein Randphänomen mehr, sondern ein Symptom des gesellschaftlichen Verfalls, den viele spüren.
Immer mehr leere Läden, immer mehr Ersatz der einstigen Angebotsvielfalt durch mehr vom Selben. Döner und Späti, Wettshop und Nagelstudio, daneben ein Oxfam-Laden und die Kleiderkammer mit dem Roten Kreuz. Der Müll hinter den Häusern, an den Zäunen um die Kinderspielplätze und noch mehr in den billigeren Vierteln an der Peripherie, spiegeln den großen Riss quer durch die Republik wider. Die gutbürgerlichen Viertel zeigen noch wie eingefroren die alte Zeit. Drumherum vermüllt das "Stadtbild", wie die Autoren der "Welt" 2018 beklagten.
Slalom um zerbrochene Bierflaschen
Damals empfanden 70 Prozent der Berliner die Verschmutzung als akut, sieben Jahre später ist der Müll selbst für tolerante Taz ein "Aufregerthema", dass den Berichterstatter zu Gewaltfantasien verleitet, wenn er mit dem Fahrrad "Slalom um zerbrochene Bierflaschen fahren muss": "Wenn ich einen von denen erwische, denke ich dann, werde ich ihn zwingen, die Scherben mit bloßen Händen wegzuräumen". Dit is Berlin!
Niemand hat es gewollt, es hat nicht einmal jemand bemerken wollen. Dabei hatte das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" schon 2013 den Finger in die brandige Wunde gelegt. Es drohe die Verwahrlosung deutscher Städte, ganze Wohngebiete stünden leer und es sei nicht mehr weit bis zu "Zuständen wie in Detroit". Weggeworfene Einweggrills und Bierdosenberge waren unübersehbare erste Anzeichen für eine "Vermüllung der Städte", die als "ist typisch deutsch" beschrieben wurde, weil sie herrühre von der umweltverachtenden deutschen Wegwerfmentalität. Zeugenberichte von Spaziergängern aus Hamburg ließen Leser gruseln: "Vor 2010 war der Alsterufer makellos; heute schwimmt der Müll darin", hieß es.
Sauerei im öffentlichen Raum
Als Ursache wurden seinerzeit noch "Individualismus und Freiheit" identifiziert, die "zwangsläufig zu Vermüllung und Verrohung" führen müssten. In ihren Wohnungen pflegten die Deutschen ihr Eigentum. "Aber im öffentlichen Raum geht die Sauerei los: Alles wird entsorgt, abgelegt, weggeworfen – vor allem in den Städten und Parkanlagen." Aber auch der Staat bekam sein Fett weg: "Die Bürger setzen jene Lieblosigkeit um, die der Staat vorlebt."
Das Panorama der Veränderungen springt vielen Bürgern ins Auge, gerade wenn sie aus dem Urlaub anderenorts zurückkehren. Automatisch vergleichen Rückkehrer Musterbeispiele urbaner Sauberkeit mit den slumähnlichen Zuständen daheim. Es reicht dann ein von Haus aus harmloses Wort wie "Stadtbild", um eine Aufregung zu verursachen, die die beklagten Zustände selbst nie erregt haben.
Merz' neun Buchstaben
Merz' neun Buchstaben erzählen die Geschichte eines sozialen Kontrollverlusts. Der Kampf gegen die Zustände wird geführt, aber meistenteils vergebens. Hamburg stellte 2019 440 neue Stadtreiniger ein, Stuttgart pocht auf 100-Euro-Bußen für Kippen. In Berlin, einer "Stadt des Engagements", gibt es eine Bürgerinitiative namens "Clean Up Berlin", die Freiwillige versammelt, die Grünflächen und Straßen von liegengebliebenem Müll zu befreien.
Es ist ein Kampf nach dem Motto "Think global – cleanup local", der nicht zu gewinnen ist. Die Transformation ist brutal: Wo einst Cafés mit Blumenkübeln lockten, dominieren heute die traurigen Reste elitärer "Stadtmöbel" und Spraydosen-Spuren. In Berlin-Kreuzberg, einst Hippie-Enklave, haben Graffiti die bunten Murals der 90er abgelöst – wilde Tags, die Fassaden wie Narben zeichnen. In frühen Brennpunkten wie Duisburg-Marxloh sind die isolierten Abfallhügel zu Halden zusammengewachsen. ; Sofas, Schränke, Kinderbetten, alte Reifen formen neue Landschaften, unter denen ganze Straßenzüge verschwinden.
Deutsche Sekundärtugenden
Statistiken untermauern das: Nach Angaben des Umweltbundesamtes hat sich das sogenannte "Littering" seit 2010 verdoppelt, allein Mannheim zählt 270 illegale Müllhalden jährlich. Der Begriff "Stadtbild" vermag so zu provozieren, weil er an Verlustgefühle rührt. Müll korrespondiert mit Armut, aber eben auch hohem Zuzug aus Kulturen ohne die deutschen Sauberkeitsnormen, auf die sich viele Deutsche in früheren Zeiten so viel einbildeten.
Ordnung und Sauberkeit, das waren einmal Sekundärtugenden, auf die sich die Schonlängerhierlebenden viel einbildeten. Inzwischen lösen sie Verlustgefühle aus: Der Abfall auf der Straße, die "Zu verschenken"-Kisten voller Lumpen und der folgenlos um sich greifende Vandalismus gelten vielen als Symptom tiefer sitzender Probleme.
2 Kommentare:
Ist halte so ein Sache, wenn Regeln nicht durchgesetzt werden.
Chatgpt:
In Singapur gelten für das Wegwerfen von Müll (Littering) im öffentlichen Raum folgende Strafen (nach dem Environmental Public Health Act – EPHA):
Für den ersten Verstoß: Geldstrafe von bis zu S$ 2.000.
Für den zweiten Verstoß: Geldstrafe von bis zu S$ 4.000.
National Environment Agency
Für den dritten oder weiteren Verstoß: Geldstrafe von bis zu S$ 10.000.
National Environment Agency
Zusätzlich kann eine sogenannte Corrective Work Order (CWO) verhängt werden: Der Täter muss dann z. B. in einem öffentlichen Gebiet für bis zu 12 Stunden Reinigungs- bzw. Aufräumarbeiten leisten.
Tembusu Law
Für schwerere Littering-Verstöße, z. B. unerlaubte Entsorgung sperriger Gegenstände oder Müllablagerung aus Fahrzeugen, gelten viel höhere Strafen (z. B. Geldstrafe bis S$ 50.000 und/oder Freiheitsstrafe) nach weiteren Paragrafen.
Besonders drollig fand ich Fritzens Idee, dem Problem mit vermehrten Abschiebungen zu begegnen. Das dürfte sich bei den seit 2014 im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit zugewanderten Werktätigen mit Ungarnbezug (bekannt von der beliebten Paprikasauce) als schwierig herausstellen.
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