Sonntag, 22. August 2010

Entsetzlich unersetzlich

Für das Kulturmagazin SZ ist es "als ob das Leben selbst gestorben wäre", das Hamburger High-Tech-Blatt "Die Zeit" dagegen weiß noch gar nicht, wie es weitergehen soll: Christoph Schlingensief war schließlich "Der Unersetzliche".

Seit dem Unfalltod des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski, der nach Recherchen des Fernsehsenders n-tv die größte Tragödie aller Zeiten war, hat die Menschheit solche Schlagzeilen nicht mehr gesehen. Schlingensief war zuvor alles gewesen, Skandalnudel, Irrer, Berserker, Visionär - unersetzlich zu sein aber hatte ihm ausweislich der Google-Archive noch niemand vorgeworfen, nicht einmal "Die Zeit". Nun aber! Eine Welt ohne den umtriebigen Theatermacher, der nie einen Hit hatte, seinerzeit aber mit dem deutschen Beatle Klaus Beyer zusammenarbeitete, ist den Feuilletonisten schlicht nicht vorstellbar. Man ist "erschüttert bis ins Mark" (SZ), weil da jetzt keiner mehr ist, der wie er "den Boden aufriss, auf dem er stand" (Die Zeit).

Der "Rebell der Republik", der sein Leben lang Kunst vor allem für Künstler machte, wird amtlicherseits auch Bernd Neumann fehlen, obwohl bis zum Todestag des "Unersetzlichen" keinerlei Äußerungen des Kulturstaatsminister zum Thema Schlingensief überliefert sind. "Zu seinen Stilmitteln gehörte nicht selten die Provokation, mit der er ganz bewusst auch über den Kulturbereich hinaus Kontroversen auslösen und irritieren wollte", hat der CDU-Politiker das Schlingensiefsche Schaffen jetzt ml analysieren lassen. "Er wollte ein Aufklärer sein, ein Bußprediger und Mahner", hat auch der "Spiegel" herausgefunden, doch "die größte Wirkung hatte Christoph Schlingensief, wenn er mit genialem Blödsinn die Republik aufwühlte".

Am Ende bekommt der Konsensverweigerer, der der deutsche Wiedervereinigung im "Deutschen Kettensägenmassaker" als Schlachtfest schilderte und zuletzt in Afrika ein Festspielhaus bauen wollte, während in Deutschland die Kleinstadttheater schließen, von überallher Blumen nachgeworfen wie einstWalter Kempowski. Alles habe er gewollt, nur nicht den Tod, berichtet die ehemals ernsthafte FAZ völlig Überraschendes aus dem Leben des Künstlers, der nicht in den Himmel gewollte habe. "Jetzt ist er dort. Und stört. Und bringt Bewegung in den Himmel. Uns fehlt er jetzt schon." Der Unersetzliche.

9 Kommentare:

Die Anmerkung hat gesagt…

Ja, wenn das deutsche Feuilleton mal von der Leine gelassen wird und aus dem Vollen schöpfen darf, dann schleudern sei ein Unmenge Narkotika unters lesende Volk.

Gut, daß ich mir das nicht angetan habe, denn weiter als bis zum Lebenskünstler hat's bei Schlingensief nicht gereicht.

VolkerStramm hat gesagt…

Hatte Schlingensief nicht die wahnsinnig originelle Idee, Hamlet in Stöckelschuhen über die Bühne laufen zu lassen?

Da bin ich aber total traurig, dass dieser originelle Mann(?) nicht mehr lebt.

waulmurf hat gesagt…

Na ja, mit Talk 2000 hat er PPQ quasi vorweggenommen. Das kann man nicht genug würdigen.

ppq hat gesagt…

gegen schlingensief ist ja auch nichts zu sagen. ein gesitesverwandter, zweifellos.

aber es durch permanentes rebellionsvermarktendes danebenstehen und dadurch teil sein zu wollen dorthin zu kommen, dass einem bescheinigt wird, man sei "unersetzlich", ist nun doch mindestens vier numemrn zu groß.

schlingensiefs künstlerische wirkung beschränkte sich auf die, die "künstlerische wirkung" unfallfrei ins französische übersetzen können. da muss ja die kirche mal im dorf bleiben.

aber er wäre sicher höchst amüsiert.

auch von der tatsache, dass das "festspielhaus in afrika", das er imaginiert hatte, in den nachrufen schon steht. dabei ist, soweit ich sehen kann, bisher gerade mal der grundstein gelegt

ppq hat gesagt…

sollte geistesverwandter heißen

derherold hat gesagt…

Ich bin Schlingensief mehrfach über den Weg gelaufen, weil er sich häufiger als man glauben sollte in seiner Geburtsstadt Oberhausen aufgehalten hat.

Er hat übrigens - ein paar Jahre vor mir - nur 400m Luftlinie entfernt am Nachbargymnasium sein Abitur gemacht.

Interessant wäre es gewesen, wenn man (zuvor ?) auf- und nachgezeichnet hätte, wie er *plötzlich* zum Liebling des Kulturteils werden konnte ... quasi als Seiteneinsteiger.

Gustav Fröhlich hat gesagt…

@derherold

Schlingensief ist durch infantilen klamauk groß geworden..und da der infantile klamauk plötzlich nicht mehr gesellschaftskritisch sondern gesellschaftsfähig war - weil jeder davon etwas abhaben wollte - war Schlingensief niemals angehalten, soewtas wie künstlerische und persönliche reife zu entwickeln..

Am ende war er auch nur eine andere version des "Kleinen Prinzen", wobei ich mich immer wieder wundere, daß die typen seines schlages alle mit ca. 50 jahren von der großen bühne des lebens abtreten..

derherold hat gesagt…

@Gustl, das war mE schon ein bißchen gravierender.

Einerseits brauchte die verachtete Ex-DDR-Kulturkarriereszene ein antifaschistisch-westdeutsches Aushängeschild - ohne einen Hegemann und devote Fäuletonisten wäre S. sicherlich nicht zum shooting-star geworden, da gerade "Seiteneinsteiger" wenn sie nicht aus der Pornobranche kommen, eher weniger wohlgelitten sind.

Andererseits griff er ja auch schwärende studentische Diskussionen auf wie "Biomacht" ... Man erinnere sich, daß kurz nach der Jahrtausendwende jede zweite kulturbeflissene Dame im Westen "irgendetwas mit Behinderten" machen wollte.

VolkerStramm hat gesagt…

Schlingensief mit dem Kleinen Prinz gleichsetzen?
Bitte nicht!
Nein, ich will den Kleinen Prinz nicht größer machen als er ist; doch dort kann man ab und zu was Gescheites lesen.
Aber Schlingensief, was hat der denn zu bieten außer seinen Blödeleien?