Montag, 30. Juni 2025

Indoordürre: Gurken in Gefahr

Laura-Sophie mit der Gurke, dem Gemüse des Jahres für 2019 und 2020 ernannt.
Kein Regen im Gewächshaus. Laura Sophie und die Trockengurke.

Die Flüsse fallen trocken, die Wälder brennen, in den modernen Steingärten glücken die Kiesel. Ein ganz normaler Sommer in Deutschland, ein Sommer unter der selbstgemachten Klimaknute. Weil vor allem der Verkehrssektor und das Wohnen der Deutschen ihre Planvorgaben bei der CO2-Einsparung noch immer nicht einhalten, rächt sich Mutter Natur auf brutale Weise. Seit Monaten schon regnet es nicht mehr. Seit Tagen ist es viel zu heiß.

Kampf gegen Kälte 

Die Folgen lassen sich in den ersten Medien besichtigen. Angler klagen über tote Fische, Gärtner über verdorrte Feldfrüchte. Bauern müssen zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um aus viel Bürokratie wenig Einnahmen zu generieren.  Nachdem es vor drei Wochen noch zu viel geregnet hat, ist jetzt alles zu trocken. Nach einem Frühjahr, das den Gasverbrauch der privaten Haushalte in die Höhe trieb, folgt ein Frühsommer, der den Discountern keine andere Wahl lässt, als eiskalt Klimaanlagen in die Auslage zu stellen.

Dramen spielen sich ab, nicht nur auf der Pride-Parade in Budapest, bei der 200.000 Menschen nicht nur dem ungarischen Diktator Viktor Orbán, sondern auch der Hitze trotzen mussten. Auch in Gelnhausen im Südosten von Hessen erlebten Bürgerinnen und Bürger im Strömungskanal eines Freibades sommertypische Szenen. "Bei den hohen Temperaturen liegen die Gemüter manchmal blank", verwies Ortsbürgermeister Christian Litzinger auf ein bekanntes Phänomen. Geschlechtertrennung ist nötig, neue Plakate gegen Vorfälle müssen geklebt werden.

Je heißer, desto Hetze 

Je heißer, desto Hetze, je sonniger, desto mehr Gewalt.  Der UN-Weltklimarat IPCC hatte bereits 2014 darauf hingewiesen, dass der Klimawandel eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit darstellt, weil in vielen ohnehin nicht sonderlich friedlichen Ländern mit heißem Klima jedes zusätzliche Grad zu exponentiell mehr Gewalt führt.

Aber auch zu Ernteausfällen wie bei Laura Sophie. Das traurige Schicksal des Mädchens zwischen Gewächshaus und Gießverbot sorgt deutschlandweit für Aufsehen. In einem Gewächshaus war es der jungen Gärtnerin gelungen, Gurken zu ziehen. Die aber vertrocknen nun unter den Händen der 16-Jährigen. Nur das Unkraut zwischen den Fugen der Pflastersteine sind noch grün und saftig, der Rest der Plantage liegt knochentrocken brach. 

Wenn Laura Sophie eine vertrocknete Gurke anklagend hochhält, sind sie direkt zu sehen, die "ersten Folgen des ausbleibenden Regens". Kein Tropfen erreicht den Acker im Gewächshaus, die "Familie fürchtet um die Ernte". Deutschland, eines der wenigen Länder weltweit, das sich zumindest theoretisch selbst mit Lebensmitteln versorgen könnte, droht durch die Dürre eine Hungerwelle. In den Niederlanden, Italien und Polen, traditionell die Staaten, die Deutschland mit Lebensmitteln versorgen, ist es ebenso oder noch heißer. Wasser fehlt auch in Spanien und der Türkei. Jeder Sonnenstrahl spitzt die Lage zu.

Wasserspeicher Gurke 

Die Gurke, auch grüne oder Salatgurke genannt, gilt normalerweise als pfandfreie Einwegverpackung für Wasser. Jedes Exemplar besteht zu etwa 95 bis 97 Prozent aus Wasser, der Wasseranteil am Gesamtgewicht ist damit deutlich höher als der einer handelsüblichen Glasflasche. Das ist Segen, aber auch Fluch. Da der Großteil einer Gurke aus Wasser besteht, das als Träger von Vitamine der B-Gruppe, von Vitamin C, Vitamin K und Mineralstoffen wie Kalium und Eisen dient, hat die Gurke in Dürrezeiten kaum längerfristige Überlebenschancen.

Im Augenblick ist Deutschland doch noch eines ihrer Rückzugsgebiete. Die Kukumer aus der Familie der Gurkengewächse, zuletzt 2019 und 2020 vom Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt zum Gemüse des Jahres ernannt, wird durch die Indoordürre zur bedrohten Art und der kluge Schachzug der gestielten und borstig behaarten Pflanze, sie dem Menschen als Nahrung anzudienen und ihn im Gegenzug für die eigene Verbreitung weit über den ursprünglich in Indien liegenden natürlichen Lebensraum hinaus sorgen zu lassen, zeigt seine Tücke.

Auch um seine Gewächshäuser mit Folie zu bespannen und die außerhalb der Vegetationszeiten zu beheizen, befeuert der Mensch eine Klimaerhitzung weit über das Maß, das der Globus ertragen kann. Es fehlt in der Folge an Wasser. Und mit der Gurke stirbt ein Stück Nahrungsgrundlage der Welt. 

Ums Überleben: Wenigstens ist die SPD dagegen

SPD, AfD-Verbot, Volkspartei, Wahlniederlage, Neustart, Sozialdemokratie, Schadensbegrenzung
Auf eines immerhin konnte sich die abgestrafte und innerlich zerrissene SPD einigen: Könnte man die AfD verbieten, wäre die eigene Rückkehr zum Status der Volkspartei ein Kinderspiel.

Die Arbeiter verloren, die kleinen Angestellten verprellt, von den Wählerinnen und Wählern mit nicht einmal mehr 17 Prozent aus dem Kanzleramt gejagt und innerlich tief zerstritten. Als die deutschen Sozialdemokraten am Wochenende zu ihrem ersten ordentlichen Bundesparteitag nach dem Wahldesaster vom Februar zusammenkamen, galt das gesamte Bemühen der Parteiführung der Schadensbegrenzung. Wie lässt sich persönliche Verantwortungsübernahme verhindern? Wie kommen die, die den Marsch auf den Irrweg zu immer höheren Belastungen und immer weniger individueller Verantwortung anführten, am besten ungeschoren davon?

Aufarbeitung später 

Im CityCube der Hauptstadt, für die vielbeschäftigten Bewohner des politischen Berlin bequem erreichbar, sollte zu diesem Zweck ein besonderes Kunststück gelingen: Unter der Überschrift "Veränderung beginnt mit uns" schwor sich die abgestrafte Partei ein auf eine "umfassende Aufarbeitung ihrer historischen Wahlniederlage". Die unmittelbar auf eine ferne Zukunft verschoben wurde. Dann  irgendwann soll eine parteiinterne Debatte zu einer inhaltlichen Neuaufstellung führen, um 2029 mit einem neuen Grundsatzprogramm in die Wahlschlacht ziehen zu können.

"Neustart" nennt die frühere Arbeiterpartei traditionell jeden ihrer Versuche, Konsequenzen aus gescheiterten Plänen, grassierendem Vertrauensverlust und innerer Ratlosigkeit zu ziehen. Alte Genossen wissen, es wird danach nie besser, aber immer schlimmer. Neue Parteiführungen haben nur dieses eine Mittel: Immer wird sich inhaltlich und personell neu aufgestellt. Immer wird leidenschaftlich und engagiert diskutiert. Immer können sich die Flügel der Parteitag nicht einigen. Immer läuft es deshalb auf eine Vertagung der Beantwortung von Schlüsselfragen hinaus, an deren Stellen eine kämpferische gemeinsame Haltung überall dort posaunt wird, wo es schadlos möglich ist.

Gegen rechts und Reiche 

Gegen rechts und gegen die Reichen, das geht bei Sozialdemokraten immer. Und es ging auch dieses Mal. Als "Partei der linken Mitte" sieht sich der Funktionärsapparat derzeit, der die Regie im Berliner Marshall-Haus führte. Worum es sich dabei handelt, ob es eine Abspaltung der im Wahlkampf beschworenen "hart arbeitenden Mitte" oder ihre Erweiterung bis kurz vor den linken Narrensaum ist, lässt sich vorerst nur erahnen - eine eigene Definition verweigert die furchtsame Truppe um Klingbeil und Bärbel Bas, die neue Frau an seiner Seite.

Die mühte sich, nur ja keine Gräben aufzureißen. Nachdem das alte Establishment mit dem zuletzt abgetauchten Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz und der aussortierten Ex-Parteichefin Saskia Esken sich seinen letzten Applaus hatte abholen dürfen, war es die Bundesarbeitsministerin, die Esken zu einer der "Mütter des Erfolges" der deutschen Sozialdemokratie ernannte. Die 63-Jährige, in den zurückliegenden Monaten verhöhnt als das Gesicht des Niedergangs einer Partei, die den Kontakt zum Alltag der Bürger mutwillig abgebrochen habe, habe "die Partei durch stürmische Zeiten geführt".

Partei der Nische 

Doch wohin? Aus der einstigen Volkspartei ist eine Partei der Nische geworden, in der die wenigen Nutznießer der obrigkeitsstaatlichen Ideologie der SPD wohnen. Für die ist Olaf Scholz der "neben Willy Brandt besten Bundeskanzler, den die Bundesrepublik jemals hatte", so war auf den Fluren zu hören. Gerade der Vergleich "mit seinem kalten, arroganten, zynischen Nachfolger" mache das deutlich. Selbst die gescheiterte "Ampel"-Koalition habe letztlich doch viel Wegweisendes erreicht, darauf beharren die Hundertprozentigen stur. Noch mehr wäre möglich gewesen, hätte die FDP nicht mit dem Dolch im Gewand jede Bemühung um Klimaschutz, Gerechtigkeit

Kein Hohn, kein Spott, keine Persiflage. In der Parallelwelt der festen Burg von Willy Brandts Erben sind die Totengräber Superstars und eine Partei, die 21 der letzten 25 Jahre regiert hat, kann sich selbst glauben machen, dass sie es immer schon besser gemacht hätte. Und jetzt erst recht.

Führung vertröstet

Bloß keine Fehlerdiskussion! Die Basis durfte ihr Mütchen an Lars Klingbeil kühlen, der mit seinem Wahlergebnis von nicht einmal zwei Dritteln der Stimmen der Delegierten in vergangenen Zeiten keine Chance gehabt hätte, sich noch lange an der Spitze zu halten. Danach vertröstete die Führung die handverlesenen Genossen darauf, dass das Geheimnis um die Gründe für das schlechteste Wahlergebnis seit Gründung der Bundesrepublik durch eine Expertenkommission unter Leitung des neuen Generalsekretärs Tim Klüssendorf enthüllt werden soll. 

Mit dieser Art Zeitspiel hat die Sozialdemokratie gute Erfahrungen gemacht. Schon unter der wenig später entmachteten Kurzzeit-Vorsitzenden Andrea Nahles gelang es der SPD vor sieben Jahren, alle Fehler im Wahlkampf und die gesellschaftlichen Veränderungen, die die SPD in die Defensive brachten, so lange und gründlich zu untersuchen, dass das Ergebnis kein Erschrecken mehr hervorrief. Entscheidend war damals ein "Mangel an klaren Führungsstrukturen" sowie "zu wenig Teamwork" gewesen. Ein Urteil, mit dem die aktuelle Parteispitze Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres sicher auch gut leben könnte.

Nie genug 

Man ist sich selbst genug, kann aber von anderen einfach nicht genug bekommen. Klüssendorf, der neue Kevin Kühnert, hat sich zur Amtseinführung für höhere Belastungen für die hart arbeitende linke Mitte ausgesprochen. Den Krankenkassen fehle, die Bürger hätten es. Mit einer Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze sei "noch deutlich mehr drin" für die Gemeinschaft. Klüssendorf, 33 und ohne jede störende Berührung mit einer bürgerlichen Erwerbsarbeit ins Amt geraten, hat sich selbst als bestes Beispiel genannt. Er zahle zwar den Maximalbeitrag. Wäre aber durchaus "in der Lage, auch mehr zu zahlen."

Auch die neue Co-Parteichefin Bärbel Bas, wegen in der SPD-Spitze exotischen  Herkunft aus einem nicht-intellektuellen Milieu schon als Kanzlerkandidatin gehandelt, trommelte für den weiteren Ausbau eines "Sozialstaat, der ein freies und selbstbestimmtes Leben ermöglicht – unabhängig von Herkunft oder Geschlecht" und Kosten. Nach Jahrzehnten, in denen der Anteil der Umverteilung bei den Bundesausgaben auf mehr als 57 Prozent gestiegen ist, soll mehr Umverteilung endlich das Problem lösen, dass die Armut im Gleichschritt mit dem Bruttoinlandsprodukt steigt. 

Stimme einer verschwindend kleinen Minderheit 

An den zentralen Versprechen ihrer Bundestagswahlkampge hält die SPD fest. Die Forderung nach einer Einkommenssteuerreform mit einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes, einer neuen Vermögensteuer und einer globalen Milliardärssteuer bleiben ebenso aktuell wie der Mindestlohn von 15 Euro, die Einführung von kostenfreiem Kita- und Grundschulessen, die Verlängerung des Elterngeldes auf 18 Monate und eine dauerhafte Mietpreisbremse. 

Nur noch zwölf Prozent der Arbeiter und zehn Prozent der Ostdeutschen, so hat es die SPD selbst offenbart, fanden das zuletzt richtig und wichtig genug, der alten und neuen Regierungspartei ihre Stimme zu geben. Auch die erratische außenpolitische Ausrichtung der Partei überzeugt nur die einen, die anderen dafür gerade nicht. 

Der Kremlflügel hat in einem "Friedensmanifest" eben erst für mehr Diplomatie geworben. SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius beinahe im gleichen Moment bekanntgegeben, dass die im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 festgelegte Obergrenze für die Truppenstärke des vereinten Deutschlands von maximal 370.000 Soldaten für ihn nur ein Eisch Ppaier ist. 90.000 mehr sollten es schon sein, Völkerrecht hin, Völkerrrecht her. 

"Neuausrichtung" im ZDF 

Im ZDF gilt das als "Neuausrichtung", mit der es gelingen kann, die 2,4 Millionen früheren SPD-Wähler zurückzuholen, die ihr Kreuz zuletzt lieber bei der AfD gemacht hatten. Die Debatte über Wehrpflicht, von den Jusos kritisch gesehen, und die Haltung zur NATO führte zu hitzigen Diskussionen, uneins ist die SPD auch, ob die plötzlich nötigen Investitionen in Bildung, Infrastruktur und soziale Gerechtigkeit mit Hilfe von Schulden finanziert werden sollen, wie es die Parteiführung gern hätte. Oder lieber eine neue höhere Vermögenssteuer beschlossen werden soll, um die seit 15 Jahren stabil steigende soziale Ungleichheit zu bekämpfen.  

Nur in einem einzigen Punkt waren sich die 600 Genosssinnen und Genossen wirklich einig. Einstimmig forderten sie die "Vorbereitung" eines AfD-Verbotsverfahrens. Eine "Bund-Länder-Arbeitsgruppe" im Moment noch unklaren Zuschnitts solle Materialien und genügend Belege für die vermutete Verfassungsfeindlichkeit der AfD sammeln. Die SPD - im Gegensatz zu Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung nicht befugt, einen Verbotsantrag zu stellen -  will sie dann dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. 

Auch ohne genügend Belege 

Schon heute, ohne "Materialien und genügend Belege" stuft die SPD die konkurrierende AfD als "klar rechtsextremistisch" ein. Lars Klingbeil nannte die Durchsetzung fast auf den Tag genau 90 Jahre nach der Verhängung des letzten Verbotes über seine Partei eine "histoische Aufgabe". Die SPD Sachsen, mit sieben Prozent der Stimmen bei der letzten Landtagswahl ein Zwerg gemessen an dern mehr als 30 der gesichert Rechtstremistischen, sieht das erhoffte Verbot nicht als Ersatz der politischen Auseinandersetzung mit der AfD, sondern als Ergänzung. 

"Wir dürfen nicht länger hinnehmen, dass eine verfassungsfeindliche Partei ungehindert gegen die Demokratie agiert", hatte Landeschef Henning Homann vorab mitgeteilt. Die SPD im Freistaat, so klein sie auch sei, stehe "für ein wehrhaftes, demokratisches Sachsen. Wer unsere Freiheit angreift, muss mit klarer Kante rechnen." 

Da gibt es kein Vertun. Da wenigstens sind sich Tauben und Falken, Sozialisten und Marktwirtschaftler, Identitäre und Funktionäre einig. Als "Hauptforderung" wurde das angestrebte Verbot der Konkurrenz in den "Heute"-Nachrichten gefeiert - in schwierigen Zeiten, in denen die Wirtschaft torkelt, das westliche Bündnis nur von Hoffnung zusammengehalten wird, die Kassen der versorgungssysteme leer sind und die Meinungsfreiheit von allen Seiten unter Beschuss genommen wird, hat die SPD damit nach langer Suche immerhin ein Thema gefunden, mit dem sie zu reüssieren zu können glaubt. 

Sonntag, 29. Juni 2025

Wer hat es verdient?

Es ist zum Besten aller.

2000: 6.400 Euro

2001: 6.600 Euro

2002: 6.893 Euro

2003: 7.009 Euro

2004: 7.132 Euro

2005: 7.258 Euro

2006: 7.387 Euro

2007: 7.519 Euro

2008: 7.655 Euro

2009: 7.668 Euro

2010: 7.668 Euro

2011: 7.668 Euro

2012: 8.252 Euro

2013: 8.667 Euro

2014: 8.840 Euro

2015: 9.082 Euro

2016: 9.327 Euro

2017: 9.541 Euro

2018: 9.780 Euro

2019: 10.012 Euro

2020: 10.083 Euro

2021: 10.157 Euro

2022: 10.323 Euro

2023: 10.591 Euro

2024: 11.227 Euro

2025: 11.898 Euro

Warum sich der Bundestag nach dem Nominallohnindex entlohnt  

Morbus Meinungsfreiheit: Die Zumutung

Die Lehrstelle gemahnt besser noch als der Biller-Text an eine deutsche Obsession. 

Es ist eine neue "Zeit", die die neuen Möglichkeiten der neuen Technik souverän nutzt, um Schaden vom Gemeinwesen abzuhalten. In früheren Tagen fielen Kinder in den Brunnen und eine Tragödie nahm ihren Lauf. Gedruckt war gedruckt, die Katastrophe angerichtet. Das Wort "Depublizieren" stand nicht nur nicht im Duden, es existierte nicht einmal. Eine Zeitung oder Zeitschrift, die etwas veröffentlicht hatte, von dem sie später zur Auffassung kam, sie hätte es nicht veröffentlichen sollen, konnte sie allenfalls entschuldigen. Die Zahnpaste aber wieder in die Tube zu drücken, vermochte niemand.  

Der Fortschritt marschiert 

Doch der Fortschritt marschiert und nicht nur große Parteien haben gelernt, gelenkig mit den Herausforderungen einer Ära umzugehen, in der morgen schon vollkommen falsch sein kann, was heute noch richtig war. Als "Zeit"-Kolumnist Maxim Billers seine Kolumne "Morbus Israel" abgab, schien sie beim Hamburger Wochenblatt durchaus druckreif. Biller, immer schon ein Freund zugespitzter Thesen,  hatte diesmal über die Frage nachgedacht, warum "sich die Deutschen immer so über die Juden des Nahen Ostens aufregen". 

Ein Rätsel seit Jahren, denn der Firnis zwischen Staatsräson und Antisemitismus ist dünn und die Geschichte der sogenannten "Israelkritik" lang. Nur der Judenstaat ernährt hierzulande eine eigene Branche an Genozidbesorgten, Zwei-Staatenlösungsbeseelten und engagierten Terrorverstehern - deutschlandweit gibt es keinen einzigen Japankritiker, keinen Mexikokritiker und keinen Sudankritiker, aber Heerscharen an Experten, die jeden Morgen aufstehen und wissen, was Israel tun müsste, tun darf und was ganz sicher nicht.

Das schlechte Gewissen der Guten

Biller, selbst Jude, hat das in seinem Text "Morbus Israel" genannt. Dem schweren Thema nähert er sich mit Ironie, Sarkasmus und Zynismus. Er schreibt von Täterenkeln und ihrem schlechten Gewissen,  ein streichelt die empfindliche deutsche Seele mit der Drahbbürstem und erzählt jüdische Witze, überf die zu lachen sich verbietet, und er griff sich den Fernsehmoderator Markus Lanz heraus, um die jüngst neu erblühte deutsche Sehnsucht nach einem "Völkerrecht", das für alle gilt, wenn Deutschland gerade meint, es müsste, auf ihre Ursachen zu untersuchen.

Das Ergebnis präsentiert die "Zeit" in der gedruckten Ausgabe, im Internet aber nur kurz. Der Raum dort, grenzenlos, aber nicht rechtsfrei, wurde schon nach kurzer "Zeit" von Billers Text befreit. Der "an dieser Stelle erschienene Text", hieß es, habe "mehrere Formulierungen enthalten, die nicht den Standards der "Zeit" entsprächen. "Unsere aufwändige redaktionelle Qualitätssicherung hat leider nicht gegriffen", erläuterte die Redaktion. man habe den Text deshalb "nachträglich depubliziert".

Leichen im Archivkeller 

Die Wortwahl ist interessant, erscheint doch eine vorsorgliche Depublizierung schon logisch unmöglich. Nachträglich aber geht es, nur traut sich auch die früher liberale Wochenzeitschrift seit Jahren nicht, den Weg konsequent zu gehen. Im Hamburger Archivkeller wimmelt es bis heute von N-Worten und "Negerhäuptlingen", Polygamie-Klischees und "Negern, die schneller laufen". 

Allerdings sind das Petitessen, keine Juden. Maxim Biller wurde wegen seiner Erwägungen umgehend von denen, die er gemeint hatte, als "chauvinistisch" und "bellizistisch" verdammt, ein shitstorm im Wasserglas des deutschen Wohlfühlmilieus, dem noch nie eine Hamas-Rakete auf den Kopf zu fallen drohte. Gut vorbereitet und motiviert durch die zuletzt wieder verstärkte Berichterstattung über wahllos auf hungernde Familien vor Essenausgabestellen schießende israelische Soldaten und von "Gesundheitsministerium" in Gaza gemeldete Todesopfer, war der Aufschrei der am schlimmsten Betroffenen laut genug, die "Zeit" neu über die Grenzen der Meinungsfreiheit nachdenken zu lassen.

Heimatfront der Heuchler 

Zack und weg. Billers garstiger Humor passt nicht in eine "Zeit", in der die Mehrheit der Deutschen sich wünscht, dass ihre Regierung den Juden mit ordentlich Druck klarmacht, was sie dürfen und was nicht. Der jüdische Blick auf die Lage an der Heimatfront der Heuchler passt nicht zum deutschen Anspruch auf die moralische Hoheit weltweit. 

Nach erneuter aufwändiger Qualitätssicherung verschwand Billers Kolumne. Sie wurde nicht gelöscht, nur "nachträglich depubliziert". Der Schriftsteller ist damit kein Opfer einer Meinungslenkungsmaßnahme, mit der eine unangenehme Stimme zum Schweigen gebracht wird, sondern selbst schuld. Hätte er nicht geschrieben, was er geschrieben hat, hätte niemand seinen Text  verschwinden lassen müssen. 

Triump der Qualitätssicherung 

Die Löschung ist ein Triumph der Qualitätssicherung, ein Akt journalistischer Tugend, der der Gefahr begegnet, dass Leserinnen und Leser sich mühevoll selbst ein Urteil bilden müssen. Wer die "Hungerblockade von Gaza" als "strategisch richtig, aber unmenschlich" bezeichnet, der missbraucht seine privilegierte Position als Publizist dazu, nicht klar Stellung zu beziehen. Unmenschliches Handeln, darüber ist sich die Mehrheit der Deustschen einig, kann nicht richtig sein, weil es unmenschlich ist. Gelegentliche Ausnahmen regeln Pandemieverordnungen.

Falsche Vergleiche, historisch krumme Gleichsetzungen, all das gehört zum Handwerkszeug des Kommentäters. Die Grenze aber liegt dort, wo Gefühle von Menschen verletzt werden, die ihre Illusionen ernst meinen. In einer Zeit, in der Worte staatsamtlich für ebenso gefährlich gehalten werden wie Taten, braucht es nicht nur Messerverbotszonen, sondern auch Meinungsverbotbereiche. Es gilt, die Demokratie vor sich selbst zu schützen, nicht nur bei den feierlichen Festtagen gegen Hass und Hetze, sondern auch dort, wo die sensible Seele der Nation "Genozid-Apologetik" und - besonders passend - "Stürmer-Niveau" entdeckt.

Traum aller Diktatoren 

Die Moral darf nicht schlafen und wenn sie einmal müde wird und ein Text durchrutscht, der für Irritationen sorgt, muss schnell reagiert werden. Die Depublikation, Traum jedes Diktators, radiert den Fehler nicht gänzlich aus, hinterlässt aber nur einen blauen Fleck in  Form eines bürokratischen Vermerks. Hier stand etwas, aber jetzt nicht mehr. Für euch da draußen ist es besser so. Und schon ist die Welt wieder ein Stück sicherer. 

Ein Texte-TÜV, der über die allgemeine Moral wacht, wäre früher das Gegenteil des linken Ideals von absoluter Meinungsfreiheit gewesen, wie es in der alten SPD-Hymne "Die Gedanken sind frei" besungen wird. Bis in den wilden Tagen der 68er war die Linke der Vorreiter für Redefreiheit, sie löckte wider den Stachel, stichelte gegen die Verhältnisse und reklamierte für das Recht, zu provozieren und zu kritisieren. 

Zumutung Redefreiheit 

Dasselbe Milieu empfindet dieselbe Redefreiheit heute als Zumutung, weil Menschen sie für falsche Zwecke nutzen: Als Demonstranten gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik auf die Straße gingen und später gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen, stand sofort fest, dass es sich um einen Missbrauch der vom Staat so großzügig gewährten Meinungsfreiheit handelt. 

Die Löschung von Billers Text ist ein Symbol für diesen Meinungsumschwung. Jeder darf alles sagen, aber wenn es nicht das Richtige ist, eben nicht überall. Unbequeme Stimmen sind nicht verboten, aber eine Plattform bieten muss ihnen niemand. An die Seite staatlicher Tugendwächter sind in der neuen  Ordnung Aufsichtsgremien getreten, die aus eigener Anmaßung handeln: Staatslich finanziert sind sie Teil eines nichtstaatlichen Systems, das Menschen vor sich selbst schützt, in dem es sie sanft, aber bestimmt dazu erzieht, es mit den eigenen Ansichten nicht zu übertreiben.

Ein Klick und weg 

Der Online-Journalismus macht es möglich, das Kind aus dem Brunnen zu holen. Ein Klick, der Text ist weg und der Skandal da. Aus einer Debatte über den deutschen Anspruch darauf, besser zu wissen, was Israel tun sollte als Israel selbst, ist eine über mangelnde Qualitätssicherung geworden. Künftig könnte das die KI übernehmen, trainiert mit 40 Jahrgängen des Neuen Deutschland. Nur noch Texte, die den Standards entsprechen! Nur noch Meinungen, die tagesschaugeprüft sind. Maxim Biller mag im Moment wie ein Opfer aussehen, aber sein Text beweist, dass deutschland aus den fehlern der vergangenheit gelernt hat. Und wenn später einmal wieder Enkel fragen, Opa, Oma, warum habt ihr damals nichts getan?, werden "Zeit"-Redakteure gelassen antworten können: „Haben wird doch, denn haben Maxim Biller depubliziert."

 

Morbus Israel

Warum regen sich die Deutschen immer so über die Juden des Nahen Ostens auf? 

Eine Kolumne von Maxim Biller 

Kommt ein Deutscher zum Arzt und sagt: "Herr Doktor, immer, wenn ich über Israel rede, geht sofort mein Puls schneller, und nach dreißig Sekunden brülle ich jeden an, der nicht meiner Meinung ist. Ist das normal? Und wie gefährlich ist es für meine Gesundheit?" "Was ist denn Ihre Meinung zu Israel?", sagt der Arzt. "Hören Sie auf!", schreit der Patient den Arzt an. "Wollen Sie mich umbringen?! Ich sollte mich doch nicht mehr so aufregen!" 

Ja, wenn es um Israel geht, um Benjamin Netanjahu und die strategisch richtige, aber unmenschliche Hungerblockade von Gaza oder die rein defensive Iran-Kampagne der IDF, kennen die meisten Deutschen keinen Spaß.

Das Drama, das sie dann aufführen, begleitet von der bigotten Beschwörungsformel "Das Völkerrecht! Das Völkerrecht!", mit der sie niemals Leute wie Sinwar oder Ali Chamenei belegen würden, hat nichts mit einer zivilisierten politischen Auseinandersetzung zu tun. Es ähnelt eher einer Teufelsaustreibung am eigenen Leib, ohne Priester und Handbuch, und die Frage ist nur, wer oder was hier der Teufel ist: das schlechte Gewissen des Täterenkels? Oder der ewige Opa und willige Wehrmachtsspieß, der für immer in solchen Leuten steckt?

Neulich zum Beispiel, bei Lanz, der politischen Talkshow für politische Anfänger, das war noch kurz vor dem Israel-Iran-Krieg. Gerade ging es um die EU, Flüchtlinge und den opaken Minister Dobrindt, als sich im entspannt fragenden Gastgeber plötzlich alles zusammenzog. Denn jetzt war der Nahe Osten dran! 

Er ging in seinem Moderatorenstuhl in eine raubtierhafte Angriffshocke, er zischte und fauchte, statt zu sprechen, und versuchte immer wieder, von seinen Gästen die Aussage zu erpressen, dass Israel im Gazastreifen der Al-Kassam-Brigaden "Kriegsverbrechen" begehe. Und während der bayerische Ministerpräsident Markus Söder ihm erklärte, wie selbstkritisch und demokratisch die israelische Gesellschaft sei und dass er dieses Land nie aufgeben würde, rollte der nervlich stark angegriffene Moderator mit den Augen wie Elon Musk auf Ketamin. 

Was ist sein Problem?, fragte ich mich. Welcher Dybbuk ist in den freundlichen Südtiroler gefahren, der ausgerechnet seit dem 7. Oktober davon besessen ist, die Israelis als mittelalterliche Kindermörder und moderne Kriegsverbrecher zu überführen? Und warum regt er sich nie ähnlich leidenschaftlich über die Endlösungsmullahs von Ghom oder über die dschihadistischen Steinzeitserienkiller der Hamas auf, die seit Jahrzehnten die Menschen von Gaza, Be’eri und Tel Aviv terrorisieren, töten, vergewaltigen? 

Vielleicht, dachte ich, sollte sich die Lanz-Redaktion zum Beispiel einmal zu einer Sendung über die Hamas aufraffen, über die Hamas und nichts als die Hamas, die ja den ewigen Gazakrieg ganz allein angefangen hat und durch ihre bedingungslose Kapitulation und die Überstellung ihrer noch lebenden Führer nach Den Haag ganz allein beenden könnte. 

Bei so einem Hamas-Special wäre dann die Schuldfrage von Anfang an hundertprozentig geklärt, nicht wahr, überlegte ich weiter, und der nervöse Moderator müsste endlich einmal beim Thema Nahost nicht ausflippen. Außerdem könnten seine Redakteure noch ein paar andere leicht entflammbare Islamversteher wie Tilo Jung, Ralf Stegner, Kai Ambos, Kerstin Hellberg und jemanden von Amnesty International einladen – damit auch sie endlich herunterkommen können von ihrem pathologischen, psychisch bestimmt sehr belastenden Anti-Israel-Horrortrip. 

Ich selbst habe zum Glück privat mit dem Morbus Israel der Deutschen kaum zu tun, denn bei der Auswahl meiner Freunde achte ich immer darauf, dass kein faules Ei dabei ist, kein Juden- und Israelhasser, aber auch kein eifriger Philosemit, denn bei Eiferern weiß man nie, welcher Glaube ihnen gerade passt. Womit ich beim Kern der neugermanischen Orient-Neurose wäre – der enttäuschten Liebe der Deutschen zu ihren Opfern von früher, locker formuliert. 

Wie rief vor ein paar Wochen der selbsterklärte Anti-Antisemit und Martin-Walser-Sohn Jakob Augstein in einem Streit-Podcast stocksauer aus? "Ich werde mir von niemandem erklären lassen, was die deutsche Verantwortung für den Holocaust ist!" Dass er dabei genauso enttäuscht klang wie sein biologischer Vater, der einst dem Schoah-Helden und größten deutsch-jüdischen Politiker der Nachkriegszeit Ignatz Bubis vorwarf, ihm seien seine Geschäfte wichtiger als Vergangenheitsbewältigung, wies Augstein jr. – Vorsicht, Ironie! – schon mal als engagierten Freund der Juden aus. 

Als er dann – gedämpft, aber immerhin – die Hamas eine "Terrororganisation" nannte und die Israelis "unsere Verbündeten", wusste ich endgültig, hier spricht kein Judenhasser, sondern ein Freund, der nur gerade sauer ist, dass es seinen rachitischen, hochgebildeten Idealjuden nicht mehr gibt, der höflich vor der für ihn vorbereiteten Gaskammer ansteht. Oder sich von den iranischen Revolutionsgarden in Atomstaub verwandeln lässt. 

Kommt ein Israeli zum Arzt und sagt: "Herr Doktor, ich war gerade vierzig Tage mit meiner Einheit in Gaza und hab keine Lust mehr, auf Araber zu schießen. Was soll ich tun?" "Sie könnten damit natürlich sofort aufhören, wenn Sie wollten", sagt der Arzt, "aber raten würde ich es Ihnen nicht. Auch nicht nach unserer Therapie."

Samstag, 28. Juni 2025

Zitate zur Zeit: Kompromisslos glauben


Unsere Sekte ist sehr streng und unser Glaube so kompromisslos, dass man es einem Ungläubigen nicht erklären kann. 

Aber ich kann Ihnen eines sagen: Wir können nicht in der modernen Welt leben, weil die moderne Welt alle unsere Gesetze verletzt. 

Deshalb muss sie vernichtet werden.

Robert Ludlum, Eric van Lustbader, Das Bourne-Attentat 

Das P in SPD steht für Opportunismus: Die Vergesslichen

Lars Klingbeil Umbau SPD veränderung
Im zurückliegenden Vierteljahrhundert hat die SPD nur vier Jahre nicht mitregiert. Die Bilanz ihrer Bemühungen kann sich sehen lassen.

Es hätte niemals so weit kommen müssen. Die richtige Politik an der richtigen Stelle, die richtigen Weichen im passenden Augenblick herumgeworfen, klug investiert, smart entschieden, vorausschauend und nachhaltig umgesetzt... So viel war drin. So viel ist falschgelaufen.  "Unser Land ist kaputtgespart worden an vielen Stellen, der Investitionsstau ist groß", musste Bundesfinanzminister Lars Klingbeil gerade erst eine bittere Bilanz ziehen. 

Desaströse Bilanz 

Der seit der krachenden Niederlage seiner Partei quasi allein amtierende SPD-Parteichef kann offenbar kaum fassen, wie unverantwortlich das ehemals so starke, stolze und selbstbewusste Herzland der Europäischen Union geführt wurde. Die Bundeswehr im Eimer. Der Wohnungsbau zum Erliegen gekommen. 

Die Kommunen von der Zuwanderung überfordert, pleite und kaum mehr in der Lage, ihre Pflichtaufgaben zu erfüllen. Der Sozialstaat ein Moloch, der regelmäßig den halben Bundeshaushalt frisst. Der Mindestlohn zu niedrig, Gehälter, Strompreise, Steuerlast und Bürokratieauflagen zu hoch, um auf dem Weltmarkt noch bestehen zu können. 

Klingbeil machte sich und seine traditionsreiche Partei ehrlich, kaum dass er mit Friedrich Merz über eine Koalition zur konservativen Wende bei Migration, Klimapolitik, Kriegs- und Wirtschaftsmobilisierung einig geworden war. Kritik an der desaströsen Bilanz der Regierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte soll nicht mehr nur eine Angelegenheit von rechten Hetzern und enthemmten Internettrollen sien. Sondern sozialdemokratische Sache.

Der eiserne Besen 

Die "rote Axt aus Niedersachsen" schlug zu, dass es krachte, der eiserne Besen fegte einmal brutal durch das ehrwürdige Willy-Brandt-Haus. 

Saskia Esken, lange Co-Parteivorsitzende und von vielen Genossen als Gesicht der sozialdemokratischen Krise geschätzt, wurde abgesägt. Hubertus Heil, der pausbäckige Sozialpolitiker, der als Hauptautor des aktuellen Grundsatzprogramms der SPD mehr Verantwortung für die schlechtesten Wahlergebnisse und inzwischen noch schlechtere Umfragewerte aller Zeiten hat, wurde zum sogenannten "Religionsbeauftragten der SPD" degradiert. Karl Lauterbach, immer schon ein Mann, der in seinem Kosmos am liebsten um sich selbst kreiste, bekam einen Posten als Weltraumpolitiker.

Klingbeil räumt auf, aber nicht nur personell. Der 47-Jährige scheint bereit, die SPD ganz neu aufzubauen und er setzt dabei gezielt auf das kollektive Vergessen, das bisher schon so viele politische Neustarts erst möglich gemacht hat. Wenn er da sitzt, charismatisch, bestimmt und zu allem entschlossen, steht Klingbeil für eine neue alte Sozialdemokratie. 

Der Niedersachse ist nicht mehr nur ein ideologisch gestählter SPD-Nachwuchskader ohne jede Berufserfahrung außerhalb des sozialdemokratischen Biotops, der zum Chef einer früheren Volkspartei wurde. Sondern Vizekanzler und Finanzminister.

Alles hätte anders 

Und es ist ihm anzusehen, wie schwer es ihm fällt, zu glauben, was er im 20. Jahr seiner Karriere in der höchsten Etage der Bundespolitik plötzlich erkennen muss: Es hätte alles anders gemacht werden müssen. Es hätte doch nur die richtigen Politiker gebraucht, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Dazu aber hätte die richtige Partei regieren müssen. Klingbeils SPD war im zurückliegenden Vierteljahrhundert aber eben nur 21 Jahre lang an Bundesregierungen beteiligt. Die eine Hälfte der Zeit regierte sie, die andere Hälfte regierte sie mit. Und im Moment der Machtausübung hatte sie nie Zweifel daran, auf Kurs zu liegen.

Unter Schröder wurde Leistung großgeschrieben, unter seinen Nachfolgern das Geschriebene mühevoll ausradiert. Zusammen mit Angela Merkel, der im Herzen sozialdemokratischen Kanzlerin der CDU, führten die Sozialdemokraten die große Schuldenbremse ein und gemeinsam mit Union und den Grünen  schafften sie sie nur 15 Jahre später wieder ab. Dafür war die SPD von Anfang gegen eine Abschaffung der Wehrpflicht. Prinzipienfest stimmte sie dem "Wehrrechtsänderungsgesetz" nicht zu, das die Aussetzung von Wehr- und Ersatzdienst regelte. 

Kurzer Prozess mit der inneren Opposition 

Dafür aber ist sie jetzt mindestens ebenso beinhart gegen eine Wiedereinführung. Unter Entlastung der "hart arbeitenden Mitte", einer in Parteikreisen mystisch verehrten Milieugruppe, die der ideologisch gestählte SPD-Funktionär aus "Spiegel-TV"-Reportagen und "Tagesschau"-Einspielen kennt, versteht die Partei im Augenblick höhere Belastungen für Überverdiener und Strompreissenkungen ausschließlich für die fossile Großindustrie, die mit ihren großzügigen Sponseringbeiträgen die SPD-Parteitage finanziert.

Mit den renitenten Friedenspolitikern in ihren Reihen, die im Stil von Egon Bahr und Willy Brandt für eine neue Ostpolitik werben, hat die Führung kurzen Prozess gemacht. Die Verfasser des "Manifests" wurden wegen Verrats an den westlichen Verteidigungswerten abgekanzelt, ausgegrenzt und abgestraft. 

Alternativlose Einheitspolitik 

Neue starke Stimmen einer neuerdings bellizistischen Partei widersprachen dem Versuch, die Gesprächspolitik des Kalten Kriegs wiederbeleben zu wollen. Adis Ahmetovic, ein nach den geltenden Ausbildungsvorschriften der früheren Arbeiterpartei direkt vom Studium in eine vielversprechende Funktionärskarriere gestartet, sprach von einem "fragwürdigen Papier", Verteidigungsminister Boris Pistorius gar von "Realitätsverweigerung". 

Das Papier missbrauche "den Wunsch der Menschen in unserem Land nach Ende des furchtbaren Krieges in der Ukraine", indem es so tue, als gäbe es zur bisherigen Politik der erfolgreichen Sanktionen, Waffenlieferungen und Durchhalteparolen eine Alternative. Gibt es nicht. Und wer das anders sieht, darf sich momentan nicht Sozialdemokrat nennen.

Neustart ohne Altlast 

Es soll ihnen und allen anderen eine Lehre sein. Rund um Klingbeil, der sich von progressiven Presse pünktlich vor Beginn des SPD-Parteitages als "Alleinunterhalter der deutschen Sozialdemokratie" feiern lässt, arbeitet die neue Generation der Klüssendorf, Bas und Miersch an einem Neustart ohne Altlasten.  

Was war, soll nie gewesen sein. Wer stört, wird verboten. Die Jahre des "Fordern-statt-Fördern"-Schrödersozialismus verschwinden ebenso aus der Parteigeschichte wie Sigmar Gabriels lange, glücklose Amtszeit als Parteichef, die Ära des Gottkanzlers Martin Schulz und die quälende Zeit der Partei-Pipi Andrea Nahles. Die neue SPD, es ist die vierte neue des neuen Jahrtausends, war nicht dabei. Jedenfalls nicht, dass sie wüsste.

Im Auftrag der Gutsituierten 

Es war einmal eine Volkspartei und sie kämpft heute mit allen Mitteln um Relevanz. Mit Umfragewerten von 15 Prozent, Tendenz sinkend, steht die deutsche Sozialdemokratie vor einer strategischen Zwickmühle: Sie kann weder bleiben, wo sie ist, noch sich nach links oder rechts bewegen, ohne in Konkurrenz zu anderen Parteien zu treten.

Die Partei, die einst die Bundesrepublik prägte, ist derzeit eine Interessenvertretung von Studienräten und anderen Wohlsituierten, die es sich finanziell leisten können, links zu wählen, aus nostalgischen Gründen aber weder die Grünen noch die Linke noch das BSW wählen wollen. 

Sozialdemokrat sein, das bedeutet heute, sich als traditionsbewusster Fortschrittsfreund zu sehen. Man ist Teil der politischen Klasse, progressiv und Fundament "unserer Demokratie", für Klima, Impfung und gemeinsame Werte, durchaus westlich, aber amerikaskeptisch, solidarisch mit Israel, aber im Grunde nur, weil man weiß, dass alles andere als antisemisch gewertet würde. 

Politiker aus dem Backautomaten 

Das P im Parteinamen steht für Opportunismus. Vom Erbe der alten Sozialdemokratie ist bei genauer Betrachtung ein Apparat übrigeblieben, der sich selbst ernährt und sich selbst durchaus genug ist. Das P im Parteinamen steht auch für Posten: Wie Backautomaten spucken die Wahlkreisbüros der Landtags- und Bundestagsabgeordneten frisch vermasterte Politologen aus, die alles mitbringen, um alles zu können. Niemand muss rechnen könne, wenn er weiß, was zählt. Lebenserfahrung ist verzichtbar, wo vor allem Haltung gefordert wird.

Ein Erbe in Trümmern. Mit der Auslöschung Schröders aus den Parteiannalen distanzierte sich die Schulz-SPD von ihren letzten Erfolgen. Mit der Bereinigung der jüngeren Geschichte um die eigene Mitverantwortung für alle politischen Entscheidungen seit 2013 radiert die Klingbeil-SPD nun auch das peinliches Scholz-Kapitel aus der Chronik. 

Der quengelnde linke Narrensaum und die Riege der um den Machterhalt bedachten Parteistrategen haben aus der ältesten deutschen Partei eine gemacht, die weder ihre Basis begeistert noch neue Wählergruppen erreicht. 

Inmitten eines Trümmerfeldes 

Inmitten dieses Trümmerfelds aus verratenen Traditionen und den Zumutungen der Tagespolitik steht Lars Klingbeil. Der Niedersachse, vom Parteitag mangels irgendwelcher Alternativen mit einem deprimierenden Ergebnis von zwei Dritteln der Stimmen im Amt bestätigt, hat in all denen Jahren, in den der Niedergang schon andauert, keine kleine Rolle in der SPD gespielt hat. 

Seine Karriere begann ganz links, der Aufstiegswille führte ihn nach rechts. Geliebt wird "der Lars", wie sie ihn nennen, weder auf der eine noch auf der anderen Seite.

"Er ist kein Brandt, kein Schmidt, nicht einmal ein Gabriel" sagt die Genossen über ihn. Aner sie räumen auch ein, dass die SPD eine besseren Mann im Augenblick nicht habe. In Straßenumfragen nach den zehn bekanntesten Sozialdemokraten rangiert Klingbeil weit unterhalb der Top Ten, natürlich hinter Ikonen wie Schmidt, Wehner und Müntefering, aber auch hinter Beck, Gabriel und Scholz. 

Verlorene Strahlkraft 

Das Willy-Brandt-Haus, einst das pulsierende Zentrum weltverändernder sozialdemokratischer Ideen, wirkt heute wie eine Gruft. Die SPD hat nicht nur an Wählerstimmen, sondern auch an Strahlkraft verloren. Die jähen Wendungen, mit denen sie versucht, auf Ballhöhe mit dem Zeitgeist zu bleiben,  lassen die  Mitgliederbasis schrumpfen. Die Wähler entscheiden sich im Zweifel für das Original – sei es die Union, die Grünen oder - neuerdings - die Linke. 

Die strategische Lage der SPD ist vertrackt, die Auswege sind vernagelt. Nach links zu rücken, wo Grüne und Linke mit Klima- und Gerechtigkeitsversprechen sich in linkem Populismus versuchen, wäre riskant. Nach rechts auszuweichen, verbietet sich aber ebenso: Angela Merkel hat die CDU so weit nach links geführt, dass ihre Partei die SPD der Schröder-Ära links überholte. Ihr Nachfolger Friedrich Merz blinkt nun demonstrativ rechts, ohne mehr als symbolische Veränderungen vorzunehmen. 

Den Laden am Laufen halten 

"Veränderung beginnt mit uns", überschreibt die Partei ihren laufenden Parteitag, um einen Neuanfang zu beschwören, als habe es Parolen wie "Mit Sicherheit mehr Wachstum" und "Scholz packt das an" nie gegeben. Die Partei, deren Parteitagsdelegierte vor zwei Jahren noch "Rot Front" riefen und den "Kampf gegen rechts" für ihre wichtigste Mission hielt, erwartet, dass Wählerinnen und Wähler ihr die nächste Häutung abkaufen und sie zur Abwechslung mal wieder für ein Kraft der Mitte halten, für die nichts wichtiger ist als die Interessen der Menschen "die den Laden am Laufen halten".

Freitag, 27. Juni 2025

Berliner Verkehrsbremse: Verbot tut not

Berliner Verkehr autofrei Initiative Stehathen
Der Berliner Verkehr ist gefürchtet. Nicht ohne Grund trägt die Stadt den Beinamen "Stehathen".

Wird das endlich der große Durchbruch zur autofreien Zukunft? Seit Jahren schon verpasst Deutschland seine Emissionsziele im Bereich des Verkehrs, außer ab und an laut darüber zu klagen, wagt es die Politik aber nicht, entschlossen gegen Autofahrende vorzugehen. 

Zu viel Rücksicht auf Berufspendelnde, zu viel Rücksicht auf Spaßfahrer, die die Vorteile des 59-Euro-Tickets leugnen und lieber mit ihrem Privatauto fahren, als den vom Steuerzahler geförderte bundesweiten Monatsfahrschein zu nutzen. Klimaschützende warnen schon lange, dass die Pariser Klimaziele so nicht zu erreichen sind. Dennoch verhallten bisher alle Forderungen, wenigstens mit einem Tempolimit auf die Verkehrsbremse zu steigen.

Das Volk tritt in Aktion 

In Berlin will die Initiative "Berlin autofrei" dem nicht weiter tatenlos zusehen. Wenn die Politik nicht handelt, dann muss das Volk selbst in Aktion treten, glauben die Initiatoren. Ihre Idee ist ebenso simpel wie sie wirksam wäre: Die Einwohner der deutschen Hauptstadt soll es künftig nur an maximal zwölf Tagen im Jahr erlaubt sein, mit dem eigenen Auto durch die Stadt zu fahren. 

Eigenverantwortlich dürften die betroffenen 1,2 Millionen Halter privater Pkw entscheiden, ob sie das Angebot zwölf Tage in einem Monat oder die zwölf erlaubten Fahrten verteilt über das gesamte Jahr in Anspruch nehmen wollen.

Gemessen an der Anzahl der Fahrten, die im Augenblick stattfinden, würde die Lösung in jedem Fall für Entspannung auf den Straßen sorgen: Momentan nutzt jeder fahrzeughaltende Berliner sein Auto etwa 167 Mal im Jahr. Künftig wäre das nicht mehr notwendig, denn die Lizenz zum Bewegen des eigenen Fahrzeugs gilt dann nur noch in notwendigen Fällen, etwa für Umzüge oder den Transport sperriger Güter. Die Folgen eines Erfolgs der Initiative, die das entsprechende Gesetz mit Hilfe eines Volksbegehrens verabschieden lassen will, würde allerdings viel weiter reichen als auf den ersten Blick ersichtlich ist. 

Eine logische Konsequenz 

Heute schon ist Berlin das Bundesland mit der geringsten Quote an zugelassenen Privatfahrzeugen. Unterlägen die einem weitgehenden Verbot, innerhalb der Stadt bewegt zu werden, wäre eine Abmeldung zweifellos für viele Berliner die logische Konsequenz. Bei nur zwölf möglichen Fahrten im Jahr rechnet sich ein eigenes Fahrzeug nicht. Allein die jährlich anfallenden Versicherungskosten würden jede Fahrt teurer machen als den Transport in einer Sänfte.

Hinzu kommt die steigende Attraktivität der weltweit als touristischer Leuchtturm geltenden ehemals geteilten Stadt. Heute wagen sich viele Auswärtige, die Berlin gern einmal besuchen würden, nicht im eigenen Auto ins berühmte Spreeathen, das wegen seiner häufigen Staus auch als "Stehathen" berühmt ist. Abschreckend wirken einerseits der aus der Sicht der ländlichen Bevölkerung oft brodelnde Verkehr und die in vielen Stadtvierteln katastrophale Parkplatzsituation. Andererseits aber herrscht auch Angst vor den häufigen Einbrüchen in parkende Fahrzeuge oder dem Totalverlust durch Diebe haben.

Abwicklung des Autoverkehrs 

Das wegweisende "Autofrei"-Urteil des Berliner Verfassungsgerichts, das das Volksbegehren zur Abwicklung des Berliner Autoverkehrs nach langem Abwägen endlich als zulässig bezeichnet hat, wäre der Startpunkt einer grundlegenden Veränderung. Ohne die Fahrzeuge der Einheimischen auf den Straßen hätte Berlin endlich genug Parkraum für auswärtige Besucher. Zudem müssten die sich keine Gedanken mehr machen, wie lange es dauert, sich durch die Rush Hour zum Ziel durchzukämpfen.

Das Urteil, das einem Faktencheck der Medienplattform Correctiv zufolge keineswegs die Grünen erkämpft haben, verspricht, Berlin als erste deutsche Stadt in eine Zukunft zu katapultieren, in der es "kein Grundrecht aufs Autofahren" mehr gibt, wie der hauptstädtische "Tagesspiegel" analysiert hat. Die "bunt zusammengewürfelte Gruppe von Privatpersonen, die sich im Herbst 2019 zu einer Initiative zusammengeschlossen haben“, wie es auf der Webseite der Initiative heißt, ist "unabhängig von Verbänden oder Organisationen, unabhängig von staatlichen Geldern und parteipolitisch neutral". Eine Graswurzelbewegung nicht nur gegen den Verbrenner, sondern gegen jede Art Vierradfahrzeug.  

Gelingt es den Aktivisten, nun noch 170.000 Unterschriften zu sammeln und anschließend eine Mehrheit der Berliner Wählerinnen und Wählen von ihrem Plan zu überzeugen, wird nicht nur "das Bild verändert, wie wir über das Privatauto denken". Sondern eine neue Stadt gebaut, in der neben Bus und Bahn der Fußgang, Fahrrad, Moped und womöglich auch das Pferd die Hauptlast der Transportleistungen tragen.

Ein Fanal für die Welt 

Berlin könnte nach 1945 und 1989 zum dritten Mal zu einem leuchtenden Fanal für die ganze Welt werden. Großstädte, die den Individualverkehr auf Boote verlagert haben wie Venedig oder kleine Innenstadtbereiche für Autos sperren, gibt es einige. Dass sich die Bürgerinnen und Bürger einer Metropole aber selbst das Recht nehmen, jeden Punkt in ihrer Stadt mit dem eigenen Pkw zu erreichen, wäre einmalig. Technischer Fortschritt wie der Umstieg auf Elektroautos würde in Berlin vorbeugend ausgesperrt. Die Berliner und ihre Wahlberliner Gäste würden den Entwicklungsschritt einfach überspringen und direkt auf kollektive Mobilität, Lastenrad und E-Roller umsteigen.

Noch ist das freilich nur ein Traum, den die bunte Koalition  von Berlin-Autofrei träumt. Vorwürfe, die Pläne seien zu restriktiv, weisen die Initiatoren zurecht zurück. Das von ihnen ausgearbeitete Gesetz sieht im Gegensatz zu dem, was skeptische Medien berichten, recht großzügige Regelungen vor. Zwölfmal im Jahr sind Privat­fahrten erlaubt, die aber dürfen jeweils 24 Stunden dauern - und zwar pro Kopf. Das gilt auch für Kinder - eine vierköpfige Familie dürfte damit 48 Mal vom eigenen Auto Gebrauch machen. Sie müsste die geplante Privatfahrt zuvor nur beim zuständigen Aufsichtsamt für den privaten Autoverkehr (AAPA) anzeigen und genehmigen lassen. 

Ausnahmen bestätigen die Regel 

Wem das nicht reicht, der kann sich als Gründer einer offenen Fahrgemeinschaft registrieren lassen. Sofern er regelmäßig andere Menschen mitnimmt, könnte er faktisch das ganze Jahr durch die Innenstadt fahren. Weitreichende Ausnahmen sieht das  Gesetz für gemeinwohl­orientierte Straßennutzung auch für Personengruppen vor, die aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkte mobil sind oder "typischerweise zu ihrer Berufsausübung ein Kfz nutzen, etwa weil sie Waren oder Werkzeug transportieren müssen". Kein Handwerker oder Lieferfahrer muss gänzlich auf das Auto verzichten. Auftrag sollen Ausnahmegenehmigungen erteilt werden, die auch dafür sorgen werden, dass die Stadt weiter mit Waren versorgt wird.

Zweifel bleiben, doch der Anfang ist gemacht. Nachdem Berlins oberstes Gericht es für verhältnismäßig und durch das Grundgesetz gedeckt hält, private Autofahrten nicht nur hier und da, sondern im gesamten Berliner Zentrum zu verbieten, öffnen sich Perspektiven, die weit über die Hauptstadt hinausreichen. Findet Berlin-Autofrei mit den Vorschlägen zum Autoverbot eine Mehrheit unter den bekanntermaßen progressiv eingestellten Berlinern, finden sich sicherlich schnell weitere Städte und Gemeinden, die dem Vorbild nacheifern. 

Aus einzelnen Straßenzügen, die für den Kfz-Verkehr gesperrt sind, aus den überall entstandenen Labyrinthen aus Einbahnstraßen und den gezielt beseitigten Parkplätzen könnten Landschaften wie Parks werden, in denen Kinder spielen, allenfalls gestört von einem Vogelzwitschern, einem Elektrobus oder einem Schwerlastrad. 

Projekt Zuversicht: Augen zu und durch

"Zuversicht" ist seit Jahren eine der beliebtesten Parolen im politischen Berlin.

Es ist wieder so ein grauer Morgen in Blankenwein, einem kleinen Dorf im sächsischen Pleiße-Sprotte-Aschehügelland. Die Straße, staubig nach Jahren ohne einen Tropfen Regen, wirkt wie ausgestorben, nur das Knirschen von Kies unter den Schuhen ist zu hören. Jan Malazek, 52, läuft mit gesenktem Kopf vorbei an den gepflegten Vorgärten, in denen schon lange niemand mehr Unkraut gezupft hat.  

Die Nachrichten der letzten Tage, Wochen, Monate, Jahre – Entlassungswellen, steigende Preise, neue Klimaziele, Krieg in Europa – hallen in seinem Kopf nach. Der Wind trägt den Staub der letzten Monate mit sich, und die Schlagzeilen der Tageszeitung, die er unter dem Arm hält, scheinen ihn zu verfolgen: Wirtschaftskrise, Klimawandel, politische Spaltung. 

Wie geht's, Horst 

Aus einem geöffneten Fenster ruft ihm Frau Lehmann zu: "Na, Horst, wie geht es?" Jan Malazek, den im Dorf alle Horst rufen, ohne dass er sagen könnte warum, antwortet, wie er es seit Monaten fast jeden grauen Morgen tut: "Muss ja." Das war nicht immer so. Malazek war bis vor einem halben Jahr ein echter Gewinner. Haus, Garten, Auto. Er war Monteur in einem mittelständischen Fensterbaubetrieb am Ortsrand. Doch dann entschied der westdeutsche Inhaber sich, trotz aller Warnungen, gegen die Umstellung auf grünen Wasserstoff entschieden. Angeblich zu teuer, zu riskant, zu wenig Förderung. 

Wenig später kam das Aus: Kurzarbeit, dann die Kündigung. Seitdem ist Jan Malazek einer von über 140.000 Arbeitslosen in Sachsen, Tendenz steigend. Die Arbeitslosenquote lag zuletzt bei 6,5 Prozent, für das laufende Jahr wird ein weiterer Anstieg erwartet. Es ist immer noch wenig gemessen an früher, Aber viel gemessen an den guten Zeiten, die sie hier auch hatten, kurz dazwischen, wie ja Malazek grimmig sagt. Viele Betriebe kämpfen ums Überleben, neue Jobs sind rar. 

Im Stich gelassen 

Doch nicht nur Mazalek es so und nicht nur Sachsen. In vielen Teilen Deutschlands fühlen sich die Menschen von der Politik im Stich gelassen. Die Preise für Lebensmittel und Energie steigen, während Löhne und Renten kaum hinterherkommen. Der Mindestlohn liegt seit Januar 2025 bei 12,82 Euro, doch das reicht kaum für ein sorgenfreies Leben, vor allem nicht im Osten, wo die Einkommen trotz Zuwächsen weiter niedriger sind als im Westen.

Die CO2-Emissionen bleiben hoch, die Energiewende stockt, und die große Transformation der Wirtschaft droht, ganze Regionen abzuhängen. Das Land ächzt unter einer Last, die schwerer wiegt als bloße Zahlen. Die Wehrbereitschaft ist auf einem Tiefpunkt; selbst der "Tatort", jene sonntägliche Institution, die mehr Deutsche anzieht als die Kirche, wird zunehmend kritisch beäugt. 

Gespräche am Gartenzaun 

In den Gesprächen am Gartenzaun, im Bäcker oder im Vereinsheim dominiert das Gefühl, dass das Land auf der Stelle tritt und langsam abrutscht. Die Stimmung ist gedrückt, die Zuversicht schwindet. Der „Tatort“, für Millionen Zentrum des eigenen Deutschland-Gefühls, steht plötzlich in der Kritik. „Früher war das noch ein Stück Heimat“, sagt Jan Mazalek, „heute wird da nur noch gestritten. Sogar der Krimi macht keinen Spaß mehr.“ 

Nicht nur diese Institution verliert Vertrauen, gerät ins Wanken. Die Menschen fühlen sich allein im kalten Wind der Wirklichkeit, von Politik und System im Stich gelassen. Ukraine und Russland, Israel und Iran; Putin, Chamenei und Netanjahu, jeden Tag Donald Trump, Hetze, Hass und Klimaangst, Dürre, drohende Hitzerekordsommer und in den Nachrichten kaum noch andere Themen als wo überall Geld fehlt, welche Firma schließt und welcher Politiker welche dunklen Geschäfte gemacht hat. Kaum ist eine News verdaut, folgt schon der nächste  Brennpunkt.

Menschen werden mürbe 

Das macht mürbe. Immer mehr Menschen wenden sich ab, ziehen den Stecker, verweigern den Nachrichtenkonsum. 71 Prozent der erwachsenen Internetnutzer vermeiden mindestens gelegentlich Nachrichten, der Weg von Ignoranz zu Naivität und Verführbarkeit ist kurz geworden. Wissenschaftler sprechen von "Selbstschutz", doch der Schaden ist unermesslich: Aus dem informierten Bürger, der verantwortliche Entscheidungen auf der Basis profunder Kenntnisse trifft, wird nach den vom Leibniz-Institut für Medienforschung (Hans-Bredow-Institut) erstellten "Reuters Institute Digital News Report 2025" der aus dem Hollywood-Film "Idiocracy" bekannte Schwachkopf. 

Ein Mensch, der sich von der Menge an Nachrichten erschöpft fühlt, obwohl eine "Tagesschau" heute immer noch dieselben 15 Minuten lang ist und im Vergleich zu früher deutliche weniger Informationen enthält.

Zuversicht nach Plan 

Diese überaus ernste Lage hat die Initiatoren des "Projekt Zuversicht" auf den Plan gerufen. Eine neue, tiefenpsychologisch fundierte Studie zeigt: 78 Prozent der Deutschen glauben, dass das Land "vor die Wand fährt", wenn alles bleibt wie bisher. 67 Prozent fühlen sich von der Politik verraten. Nur zehn Prozent haben noch die Hoffnung, etwas bewirken zu können. 

Die wirtschaftliche und politische Gesamtlage wird schlecht beurteilt, das Vertrauen in Institutionen ist auf einem Tiefpunkt. Die Folge: Rückzug ins Private, in die Familie, ins eigene Haus. Paradox: 85 Prozent sagen, dass es ihnen und ihrer Familie eigentlich noch gut geht – Betonung auf noch. Doch für das Land sehen sie schwarz. Vor allem das Gefühl der Ohnmacht wiegt schwer.

Zusammenhalt und Hoffnung 

Doch wer sinnstiftende Gemeinschaft erlebt – etwa im Verein, in der Nachbarschaft, im Ehrenamt – und dazu Nachrichten konsumiert, die von zuhörenden, konstruktiven und lokal unterstützenden Herstellern Journalismus angefertigt worden sind, berichtet von mehr Zusammenhalt und Hoffnung. Auch die Jüngeren, die Generation Z, sehen die Lage zwar kritisch. 

Doch sie sind bereit, die Kreditlasten zu schultern, die die Älteren ihnen aufhalsen. Ihnen fehlt es noch an Lebenserfahrung, um die Lage wirklich bewerten zu können. Doch wenn es gelingt, mit positiven Nachrichten das von den Menschen herbeigesehnte Gemeinschafts- und Wirksamkeitsgefühl wieder entstehen zu lassen, dann wird Unwissen zu Zuversicht führen.

Namensvetter aus Berlin 

Die Macher des Projektes, das nach einer im politischen Berlin der zurückliegenden Jahre vielgenutzten Parole benannt wurde, wollen die erreichen, die gar keine Nachrichten mehr konsumieren. Dies zwei Dritteln der Gesellschaft seien empfänglich für weniger Panikmache und mehr konstruktivem Journalismus, für das Versprechen, nicht nur aus-, sondern zu überblenden. Statt Bomben und Raketen Tiergeschichten und Berichte über die Schönheit der Natur. Statt Bedrohungen, Zollkriegen und Börsenkursen angenehme Informationen, die die Gesellschaft gegen die großen Bedrohungen unserer Zeit vereinen. Eine große Mehrheit will es. Und fast zwei Drittel sagen: Wenn die Medien nicht immer alles so negativ berichten würden, hätten sie mehr Hoffnung. 

Positive Beispiele 

Genau hier setzt das "Projekt Zuversicht" an. Medien, Verbände und Werbewirtschaft wollen gemeinsam Wege finden, wie wieder mehr Optimismus, Gemeinschaft und Selbstwirksamkeit entstehen können. Regionale Medien sollen zum Kitt der Gesellschaft werden, indem sie nicht nur Probleme schildern, sondern auch Lösungen und positive Beispiele aufzeigen. Bundeskanzler Friedrich Merz hat für den Sommer eine Stimmungswende versprochen – das kann nur funktionieren, wenn es gelingt,  die Auswahl der Nachrichten, die die Bevölkerung erreichen, anders zu gestalten.

Der bekannte Journalist Tilo Jung hat es auf den Punkt gebracht. "Journalisten müssen nicht berichten, was Menschen wissen wollen, sondern das, was sie wissen sollen." Ein Satz wie in Stein gemeißelt, denn er zeigt auf, dass der die Stimmung auf der Party bestimmt, der die Musik aussucht. Jan Malazek in Blankenhain wäre dankbar, wenn er es nicht sein müsste. "Ich wüsste das gar nicht", sagt er nach seiner Idee befragt. Er suche einfach Arbeit, schraube so lange an seinem alten Moped, treffe sich abends mit den Nachbarn im Vereinsheim. 

Motivieren statt meckern 

Grundsätzlich aber stehe sein Leben für das Projekt Zuversicht. "Wir müssen zusammenhalten", sagt er, "und hier im Dorf tun wir das." Die Hoffnung, dass es wieder aufwärts geht, stirbt zuletzt und mit dem Konzept des Projektes Zuversicht bekanntgemacht, nickt er nachdenklich. "Klingt vernünftig", sagt er, "denn sonst bleibt uns nur noch das Meckern." Noch will der Sachse nicht so recht glauben, dass es klappen wird mit der Stimmungswende.

"Der Sommer hat doch schon angefangen", zeigt er sich skeptisch. Aber vielleicht, so hofft er, bringt das von der Initiative 18 für "freie, sichere und nachhaltige Medien" angeschobene Unternehmen  ja wirklich etwas in Bewegung – nicht nur in den Medien, sondern über den Treibriemen des geschriebenen, gesprochenen und gesendeten Wortes auch im Alltag der Menschen. Denn am Ende entscheidet sich das Schicksal des Landes nicht in den Talkshows oder auf den Titelseiten, sondern auf den Straßen von Blankenhain, in den Werkstätten, auf den Feldern und in den Wohnzimmern. 

Dort, wo Menschen wie Jan Malazek auf die Frage "wie geht's" Tag für Tag sagen: "Muss ja." Und dabei hoffen, irgendwann wieder "toll" oder "super" sagen zu können.

Donnerstag, 26. Juni 2025

Gesprochene Verbrechen: Wieder kein Klimageld

Lars Klingbeil Friedrich Merz Energiepreisentlastung
Zwei Mann, ein Wort: "Für schnelle Entlastungen um mindestens fünf Cent pro Kilowattstunde werden wir in einem ersten Schritt die Stromsteuer für alle so schnell wie möglich.

Prinzipiell sind alle schon immer für das Klimageld. Theoretisch wäre es schon in der vergangenen Legislaturperiode mehrfach so weit gewesen.  Praktisch scheiterte die Umsetzung immer nur an diesem oder an jenem und als die Probleme schließlich ausgeräumt waren, konnten die versprochenen Überweisungen nicht mehr rausgehen. Nach zwei Jahren Recherche war es dem Bundesfinanzminister endlich gelungen, von den ihm unterstellten Finanzämtern die Kontonummern der Bürgerinnen und Bürger zu bekommen. Aber noch ehe die Umsatzträger geschrieben werden konnten, schied FDP-Chef Christian Lindner aus der Ampel-Koalition aus.

Neuanfang mit der Union 

Die Auszahlung des Klimageldes, auf die sich SPD, Grüne und Liberale 2021 im Koalitionsvertrag geeinigt hatten, sollte aber trotzdem erfolgen. Nicht als Klimageld zwar. Zu kompliziert, zu ungerecht.  CDU und CSU hatten im Wahlkampf eine einfachere Variante gefunden, um die Verbraucher von den rekordhohen Stromkosten zu entlasten. 

Sofort nach Amtsantritt würden sie die Stromsteuer einfach auf das von der EU vorgeschriebene Mindestmaß von 0,1 Cent pro Kilowattstunde senken. Der durchschnittliche Privathaushalt werde damit mehr als zwei Cent pro Kilowattstunde sparen. Das summiert sich: Eine vierköpfige Familie zahlt rund hundert Euro weniger. Ein Einzelhaushalt fast 50.

Die SPD, im Herzen immer noch eine Partei der kleinen Leute, die für die Belange der hart arbeitenden Mitte über manches Stöckchen springen würde, stimmt zu. Im Koalitionsvertrag wurde das Vorhaben zementiert: "Für schnelle Entlastungen um mindestens fünf Cent pro Kilowattstunde werden wir in einem ersten Schritt die Stromsteuer für alle so schnell wie möglich auf das europäische Mindestmaß senken und die Übertragungsnetzentgelte reduzieren", schrieben Friedrich Merz und Lars Klingbeil. 

Zwei Mänenr, ein Wort 

Zwei Männer, ein Wort. Für viele Menschen war das nicht der erhoffte Ersatz für die 200 Euro Klimageld, die Friedrich Merz auch schon mal versprochen hatte. Aber nach den vielen Enttäuschungen, gebrochenen Versprechen und ausgefallenen Ausgleichszahlungen wäre irgendeine Entlastung als Gegengewicht zu den fortwährend erhöhten Belastungen durch zusätzliche Netzentgelte, schneller steigende Kohlendioxidsteuern und durch die Umstellung auf LNG bedingten Rohstoffpreisen immer noch besser als keine. 

Für viele Familien geht es ja ums Eingemachte - jeder fünfte in Deutschland kann sich schon keine Woche Urlaub mehr leisten. Die Hälfte der Menschen in Bürgergeld verzichtet auf Essen, um seine Kinder satt zu bekommen.

Zwischen Leben und Überleben 

2.400, hundert oder fünfzig Euro haben oder nicht haben, markiert für Arme und Armutsbedrohte die Grenze zwischen Leben und reinem Überleben. Für die "hart arbeitende Mitte", eine gesellschaftliche Gruppe, für die sowohl Union als auch SPD zeitweise im Minutentakt warme Worte zur Verfügung stellten, sind hundert Euro symbolisch. Aber als Zeichen unbezahlbar, dass es endlich mal andersherumgeht.

Ohne zu Murren hatten sie alle, für die höheren Lebenshaltungskosten einen sinkenden Lebensstandard bedeuten, das Hinhaltespiel um das Klimageld hingenommen. Merz war die Hoffnung, sein Versprechen, hier und da und eigentlich überall kräftig zu entlasten, weckte Erwartungen. Könnte Merz es ernstgemeint hatte, als er eine Stimmungswende bis zum Sommer vorhersagte? Wie würde der große Plan aussehen, auf dessen Umsetzung der Christdemokrat seine Regierung einschwört?

Sie hatten nie einen Plan 

Es gibt wohl keinen, es gab ihn nie. Noch vor dem Einzug ins Kanzleramt räumte Friedrich Merz die Schuldenbremse ab, danach verabschiedete er sich eilig vom Zwei-Prozent-Ziel der Nato und der Zusage, das Heizungsgesetz abzuschaffen. Mit seinem Vizekanzler Lars Klingbeil liefert sich Merz seit Wochen ein Wettrennen darum, wer frühere Versprechen schneller einmotten und entsorgen kann. Klingbeil ist über die rote Linie bei der Migrationspolitik gesprungen, beim Mindestlohn nimmt er gerade Anlauf. Merz änderte die Beschreibung seiner "Aktiv-Rente", die Ruheständlern die Möglichkeit geben sollte, neben der Rente 2.000 Euro steuerfrei hinzuzuverdienen. Das gilt nach derzeitiger Zusagelage nur noch für Rentner, die nicht in Rente gehen, sondern weiterarbeiten.

Auch die Entlastungen beim Strompreis fällt aus. Zwar sollen Industrieunternehmen und Landwirtschaftsbetriebe weniger zahlen, für Privathaushalte aber wird es keine Stromsteuersenkung geben, nicht auf das anvisierte "europäische Mindestmaß" und auch nicht auf irgendeinen Wert darüber. Das Land mit den höchsten Strompreisen in der EU - viermal so hoch wie in Ungarn - zahlen Nutzer von Elektroenergie weiterhin das Zwanzigfache des von der EU vorgeschriebenen Steuersatzes. 

Fünf Prozent des Strompreises in Deutschland entfallen auf diese Steuer, mehr als 40 Prozent auf andere Steuern und Abgaben. Zum Vergleich: Österreich erhebt eine Elektrizitätsabgabe in Höhe von 0,015 Euro pro Kilowattstunden.

Kein Ausgleich, niemals 

Das Klimageld, umgebaut zur "Energiepreisentlastung", wird zur unendlichen Geschichte aus Verzögerungen, Vertröstungen und gebrochenen Versprechen. Es sei kein Geld da, hat Lars Klingbeil zur Begründung der im Zuge der Erstellung des Haushaltsplanes verkündeten Entscheidung mitgeteilt. Inzwischen haben weite Teile der Bevölkerung bereits vergessen, dass die Entlastungen als Ausgleich für den neu eingeführten CO₂-Preis zugesagt worden waren. Und natürlich schaut jemand wie Lars Klingbeil, für den einen achtstellige Zahl die kleinste Einheit ist, mit der sich zu rechnen lohnt, anders auf einen Hundert-Euro-Schein als der prekär beschäftigte Familienvater in Sachsen.

Erstmal müsse die Industrie steuerlich entlastet werden, damit sie in Schwung kommt. Für die Privathaushalte muss eine Senkung der gerade erst gestiegenen Gasnetzentgelte reichen, die mittlerweile bereits zehn Prozent des Endpreises ausmachen. Das ist nicht nur ein Signal an die Wähler, denen einmal mehr klargemacht wird, dass sie gegen gebrochene Wahlversprechen gar nichts machen können. Sondern auch ein Zeichen für eine erneute Klimawende: Elektroautos haben es noch schwerer, im Betrieb günstiger zu sein als Verbrenner. Der Anreiz, die alte Gasheizung gegen eine Wärmepumpe auszutauschen, sinkt, weil es noch länger dauert, bis sich die entsprechende Investition amortisiert. 

Am schwersten aber wiegt, dass es nur 50 Tage gedauert hat, bis Schwarz-Rot sich ehrlich gemacht und zugegeben hat, dass die jähen Wendungen bei Schuldenbremse, Aufrüstung und all den andere Themen kein Zufall waren. 

Der Hassautomat: Je härter, desto Hetze

Die wirkliche Welt ist kein rechtsfreier Raum, doch wer solche Plakate unter dem Schutz der Anonymität klebt, muss kaum Konsequenzen fürchten.

Sie beschimpfen Staatsorgane, verunglimpfen Regierungsmitglieder, meckern über notwendige Maßnahmen und machen sie mit Hohn und Spott lustig über gebrochene Versprechen von Wahlkämpfern, kurzfristig zurückgezogene Entlastungszusagen und in den Stürmen der Zeit gekippter Grundüberzeugungen. Ihre Taten sind nur Worte, doch das macht sie nicht weniger gefährlich, wie schon der frühere Bundesjustizminister Heiko Maas festgestellt hatte. Wer spricht, der schießt auch. Wer meckert, der mordet.

Eine Erfolgsgeschichte 

Der Kampf gegen Hass im Netz hat keine lange, aber eine überaus erfolgreiche Geschichte. Erst vor zehn Jahren gingen Beamte beim ersten "Bundesweiten Aktionstag gegen Hasspostings im Netz" gegen ein Milieu vor, das der Ansicht ist, das Internet sei ein rechtsfreier Raum. Jener erste Aktionstag unter dem Motto "Entschlossen gegen Hass und Hetze" war ein voller Erfolg, auch wenn sich im Netz keine Spuren der bundesweiten Durchsuchungsaktion des Jahres 2015 erhalten haben. 

Doch sie begründete eine schöne deutsche Tradition: Seit jenem Jahr 2016 gehen Behörden immer wieder gegen strafbare Hasspostings und Hasskriminalität im Netz vor. Rituell werden im frühen Morgengrauen mutmaßliche Täter aufgesucht, Wohnungen durchsucht, Rechner und Smartphones beschlagnahmt und Pressemitteilungen über den jeweiligen harten Schlag gegen die Hassszene verbreitet.

"Hetze im Internet aller Art" 

Der Erfolg gibt der Strategie recht. Schon beim  zweiten "Bundesweiten Aktionstag zur Bekämpfung von Hasspostings"  im Jahr 2017 gingen den Fahndern von Bundeskriminalamt (BKA) und den 23 eingesetzten Polizeidienststellen 36 Beschuldigte ins Netz. Die Akteure, "überwiegend aus dem rechten Spektrum" bekamen am frühen Morgen Besuch. Wohnungen wurden durchsucht, Computer beschlagnahmt, erste Vernehmungen vorgenommen. Die Botschaft war klar: Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, "Hetze im Internet aller Art dulden wir nicht", verdeutlichte der bayrische Innenminister Joachim Herrmann, dass selbst die Grammatik nicht im Wege steht, wo es um deutliche Signale geht.

Der Kampf war seitdem ein ungeheurer.  Immer wieder rückten die Fahnder aus, um der Hassszene ihre Grenzen aufzuzeigen. Das gemeinsame Vorgehen gegen Hass im Netz, bundesweit koordiniert und auf bestimmte Aktionstage konzentriert, zeigt im achten Jahr der morgendlichen Razzien Wirkung: Wurden 2017 in den Fallzahlen zur Politisch motivierten Kriminalität (PMK) noch 2.270 Fälle von Hasskommentaren gezählt, meldete das BKA als federführende Behörde schon 2024 eine Vervierfachung der Zahl der Fälle auf nun über 8.000. Zugleich konnte der Kreis der Verdächtigen ausgeweitet werden: Aus den 36 Beschuldigten des Jahres 2017 waren jetzt 70 geworden, der Hass im Netz musste bereits mit "130 Maßnahmen" zugleich zurückgedrängt werden.

Effektiver Hassausbau 

Die Zahlen, die offiziell zu mehr oder weniger strafbaren Hasspostings vorgelegt werden, sprechen eine deutliche Sprache. Mit jedem einzelnen Aktionstag und jeder morgendlichen Razzia ist die Anzahl der aufgeflogenen Hetzer gestiegen. Auch der parallel verfolgte Ausbau der Meldestellen für Hass und Hetze ist effektiv. Allein die hessische Anlaufstelle für besorgte Bürger konnte die Zahl der entgegengenommenen Hinweise auf mutmaßlich hassenthaltende Einträge im Netz in nur sechs Jahren von nicht einmal 700 auf mehr als 19.000 steigern. Auch mehr wäre drin, doch die derzeit knappe Personalausstattung mit nur acht Vollzeit- und sieben Teilzeitstellen setzt dem Engagement der vom Land Hessen mit einer Million Euro finanzierten zivilgesellschaftlichen Überwachungsstelle Grenzen.

Umso mehr muss der Aktionstag abschrecken und die eines Besseren belehren, die "den Unterschied zwischen Hass und Meinung verlernt haben", wie Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul die neue Front zwischen der erlaubten Nutzung von Artikel 5 Grundgesetz und dessen Missbrauch beschrieben hat. Erstmals gab es beim Aktionstag in diesem Jahr mehr als 180 polizeiliche Maßnahmen zu mehr als 140 Ermittlungsverfahren, eine Steigerung um mehr als Drittel in nur einem Jahr. 65 Wohnungen wurden durchsucht, zahlreiche Beschuldigte demonstrativ vernommen. 

Vermuteter Hintergrund 

Ihnen werde unter anderem Volksverhetzung und Beleidigung von Politikern vorgeworfen, heißt es offiziell, bei zwei Dritteln der aufgedeckten "strafbaren Hasspostings" lasse sich ein rechtsradikaler Hintergrund vermuten. Nur einzelne Fälle kommen aus den anderen Phänomenbereichen der linken, religiösen und ausländischen Ideologie oder seien gar ohne Zuordnung.

Eine vorläufige Bilanz, die bereits klar macht: Der massive Ermittlungsdruck, das Netz neuer Meldestellen, die Demonstrativprozesse gegen Verleumder und Verhetzer und die Etablierung des von der EU vorgeschriebenen staatlich lizenzierten Systems der Trusted Flagger, sie zeigen Wirkung. Als BKA-Chef Holger Münch damals die Erwartung formulierte, dass man zwar "nicht die Einstellung der Menschen ändern" könne, die ihren Hass ins Netz und auf die Straße trügen, aber mit Strafandrohungen immerhin deren "Verhalten im Netz ändern" werde, schmunzelten viele Beobachter. 

Münch hatte recht 

Heute zeigt sich: Münch hatte recht. Immer mehr Hetzparolen im Internet missbrauchen und untergraben das Verständnis von Meinungsfreiheit und sie unterminieren die staatlichen Anstrengungen für ein sauberes Netz. Aktuelle Zahlen bestätigen die Befürchtung, dass "verbale Gewalt" (Münch) weiter ungehindert einer breiten Öffentlichkeit aufgezwungen werden kann, so lange die zuständigen Organe die "digitalen Brandstifter" (Mimikama, BKA) gewähren lassen. 

Als würden sie die regelmäßigen Aktionstage als Einladung auffassen, verstärken die Netzhasser, Delegitimierer und Hetzposter ihre Aktivitäten immer mehr. Seit zehn Jahren schon scheint der Hass im Netz unkontrollierbar zu wachsen. Je entschiedener die strengen Maßnahmen gegen die Verursacher ausfallen, desto mehr scheinen die sich ermutigt zu fühlen, ihre verbale Gewalt  auszuüben. 

Vervierfachung seit 2021 

Die Zahl der Beschuldigten in einschlägigen Verfahren hat sich seit 2017 nahezu verhundertfacht, die Zahl der mutmaßlichen Straftaten stieg laut BKA von zuletzt noch 8.000 auf 11.000. Im Vergleich zu 2021, als die Statistik nur etwa 2.500 Fälle verzeichnete, entspricht das einer Vervierfachung. Das prozentuale Wachstum von 330 Prozent in nur vier Jahren liegt nur geringfügig unter dem Stellenaufwuchs bei HateAid, HessengegenHetze und anderen zivilgesellschaftlichen Einsatzorganisationen.

Aufrüstung an allen Fronten

Doch was bedeuten diese Zahlen? Ist der Hass im Netz tatsächlich so stark gewachsen, oder sind es die Mittel zu seiner Erfassung, die ihn sichtbarer machen? Tritt die Bedrohung durch die Bekämpfungsoffensive der vergangenen Jahre aus dem Dunkelfeld? Oder sorgt der massiv erhöhte Ermittlungsdruck dafür, dass das gesellschaftliche Bewusstsein für eine Bedrohung wächst, die als "Bademantelangst" längst zum höhnisch feierten Internetmeme wurde?

Fakt ist: Die Zahl der Polizeibeamten, die an den bundesweite  "Aktionstagen gegen Hasspostings im Netz" gezielt an die Haustüren Verdächtiger klopfen, hat sich verdoppelt. Waren 2017 noch einige hundert Beamte involviert, sind es 2025 mehrere tausend. Unterstützt von der Vielzahl der zivilgesellschaftlichen Anlaufstellen für virtuelle Gewaltopfer und der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI) ist der Hochlauf der Erfassung Kurs auf die "circa 250.000 Meldungen, aus denen sich rund 150.000 Ermittlungsverfahren ergeben könnten", genommen, die BKA-Chef Holger Münch vor drei Jahren vorhergesagt hatte. 

Zentraler Feiertag 

Der "Tag gegen Hasspostings" ist der zentrale Feiertag der medienwirksamen Darstellung der staatlichen Entschlossenheit, die Öffentlichkeit für ein Problem zu sensibilisieren, dem der Großteil der Bürgerinnen und Bürger im Alltag kaum jemals begegnet. Was früher mit einem Kopfschütteln abgetan wurde – ein beleidigender Kommentar, ein grenzwertiger Post, eine unhöfliche Entgegnung  – wird heute ernst genommen und als Versuch bekämpft, die gesellschaftliche Spaltung zu vertiefen. Was früher im digitalen Rauschen verschwand, allenfalls bemerkt von vier, fünf Facebook-Lesern oder Twitter-Followern, landet heute in der bundesweiten Hassstatistik.

Auch, weil es gelungen ist, einen definitorischen Wandel durchzusetzen: Die Schwelle dessen, was als "Hass", "Hetze" oder "Zweifel" gilt, ist gesunken. Neben strafrechtlich schon immer relevanter Beleidigung und übler Nachrede zählen auch Hohn und Widerspruch zu Äußerungen, die das Spannungsfeld der zulässigen Meinungsfreiheit verlassen haben und auf eine sensibilisierte Gesellschaft strafbar wirken.  

Freiheit nicht zum Nulltarif 

Dass damit auch die Zahl der erfassten Fälle wächst, unabhängig davon, ob am Ende tatsächlich strafbare Hetze oder ein Ausbruch an "Hass" nachgewiesen werden kann, ist ein Kollateralschaden des notwendigen Kampfes gegen das Internet als rechtsfreier Raum. Altkanzlerin Angela Merkel hat früh davor gewarnt, dem Irrglauben aufzusitzen, man dürfe in Deutschland nicht mehr sagen, was man denke.  Das sei falsch, richtig hingegen sei, dass es Meinungsfreiheit nicht zum Nulltarif gebe. Wer sich im Ton vergreift, der muss zahlen, mit Geld und gutem Ruf. In einer freiheitlich-demokratischen Ordnung könne es eben "keinen regulationsfreien Raum geben", hat Merkel eben erst wieder bekräftigt. 

Dass die Begriffe "Hetze" und "Hass" im Strafgesetzbuch nicht auftauchen, regulatorisch also bislang nicht erklärt sind, ist kein Versehen oder Versäumnis. Der ungewisse Zustand schafft erst die Basis für die Aktionstage als Paradebeispiel für Symbolpolitik: Das BKA betont, dass die tatsächliche Hetze im Netz wächst. Der Verfolgungsdruck wird erhöht. Mehr mutmaßliche Täter gehen den Fahndern ins Netz. Und so bestätigt sich immer wieder die Diagnose, dass die Hetze im Netz wächst.

Der Hassautomat 

Ein perpetuum mobile, das nicht nur durch eine polarisierte gesellschaftliche Debatte, durch einen Verlust an guter Erziehung und eine Verachtung für traditionelle Höflichkeitsrituale befeuert wird, sondern auch durch die durch die breite Medienbegleitung gesteigerte Sichtbarkeit. Aus den Großredaktionen gesehen ist das Internet ein Hassautomat, dem Vater Staat nur mit noch mehr Durchsuchungen, Festnahmen und Pressekonferenzen beikommen kann. 

Die tatsächlichen Zahlen bleiben bei dieser Betrachtung sicherheitshalber außen vor. 67 Millionen Deutsche sind im Netz unterwegs. Sie unterhalten mehrere hundert Millionen Konten bei sozialen Netzwerken. Dort hinterlassen sie Tag für Tag so viele Milliarden Posts, dass es unmöglich ist, den Anteil der mutmaßlich hassenthaltenden Einträge in Prozent anzugeben.