Samstag, 12. Januar 2008

Die Erfindung der Wirklichkeit

Der Ablauf ist stets derselbe. Etwas geschieht und alle schauen hin. Kaum ist es vorüber, geschieht es wieder. Und noch einmal. Und noch einmal. Mal fällt ein Kampfhund ein Kind an und die Schlagzeilen werden wie zum Signal an alle Kampfhunde der Republik, es ihm eilig nachzutun. Mal lässt eine Mutter ihr Kind verhungern und umgehend tauchen in allen Blumenkästen und Kühltruhen zwischen Hamburg und Hellerau tote Kinder auf. Egal ob Klimawandel oder verschobenes Fußballspiel, Sturmflutwarnung oder Hurrikanalarm, Schmiergeldskandal in einem Großkonzern oder rechtsextremer Überfall, Eisbärengeburt oder U-Bahn-Überfall, Terrordrohung oder Sexskandal – einmal ist kein Mal, immer kommt etwas vom selben Kaliber nach, immer folgt auf den ersten Schuss ein Echo in der gleichen Tonlage, das zwei, drei oder vier Wochen anhält.

Wie aber kommt das? Sind vor Knut tatsächlich niemals Eisbären ins Zoos geboren worden? Haben junge Männer mit „Migrationshintergrund“ (Claudia Roth) niemals alte Herren an U-Bahnhöfen zusammengeschlagen? Woher wissen Kampfhunde, die doch nicht lesen können, dass sie ein Thema sind und durch stures Zubeißen eines bleiben können? Wodurch bilden Ereignisse, die völlig getrennt voneinander geschehen, auf der Zeitleiste unübersehbare Cluster? Und ist all das überhaupt Realität – oder doch nur Erzählung, die auf das passende Empfinden trifft?

Ein halbes Jahr nach dem Abebben der Welle von Meldungen über misshandelte, ermordete Kinder glauben selbstverständlich neunzig Prozent der Deutschen, dass die Zahl der von ihren Eltern ermordeten Kinder in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich gestiegen ist. Dabei ist das Gegenteil richtig: 202 gewaltsam zu Tode gekommene Kleinkinder sind der niedrigste Wert seit Jahren. Den Klimawandel, den selbst die hysterischsten Wissenschaftsdarsteller irgendwo weit in der Zukunft verorten, glaubt eine Mehrheit der von "Brennpunkt"-Sendungen und Experten-Interviews sensibilisierten Mediennutzer hierzulande dennoch bereits heute am eigenen Leibe spüren zu können. Gewaltsame Übergriffe von Jugendlichen gab es vor dem zufällig ins Fernsehen geratenen Überwachungsvideo aus der Münchner U-Bahn nicht weniger häufig als seitdem. Nur vermochte es eben erst die unermüdliche Endlosschleife der drastischen Bilder, der Realität zur Wahrnehmung zu verhelfen: Nach zwei Wochen voller Politikergeschwätz, Patentrezeptverschreibung, Expertenstatistik und Talkshowgeseier fühlt sich ein ganzes Land bemüßigt, Strategien gegen etwas zu erörtern, das sich bisher wunderbar einfach nicht zur Kenntnis nehmen und so fugenlos ins Alltagsleben integrieren ließ.

Die Nachrichtenstatistikmaschine romso.com vermerkt genau, wie die Wellen sich aufschaukeln, gegenseitig verstärken. Und versanden, wenn alles gesagt, das ursprüngliche Problem aber selbstverständlich noch lange nicht gelöst ist. Die Klimakatastrophe etwa, die über die außergewöhnlich lange Strecke von einem halben Jahr Anlaß war für Gebirge aus Analysen, Kommentaren und Berichten, segnete als medialer Gegenstand das zeitliche, als die Weide abgegrast war: Vom Badewannenbesitzer über das Flugzeug, vom Vielesser bis zum Milchvieh war jede nur denkbare Quelle von Kohlendioxid als „mitverantwortlich“ gebrandmarkt worden. Die verheerende Ökobilanz von Fußgängern, deren Gang zum nächsten Tante-Emma-Laden angeblich mehr Schadstoffe freisetzt als die Fahrt des Nachbarn mit dem Auto zum nächsten Supermarkt, versetzte dem Thema den – zumindest vorläufigen – Todesstoß.

Das Klima hat sich deshalb nicht einen Moment erholt, ebenso gibt es heute nicht weniger verschobene Fußballspiele, geschmierte Bauauftragsvergaben, Vorstandsetagen auf Puffbesuch und rechtsextreme Überfälle. Doch ier greift ein Phänomen, das aus der Quantenphysik bekannt ist: So lange die Kiste geschlossen bleibt, kann niemand wissen, ob Schrödinger Katze tot oder lebendig oder gar nicht zu Hause ist. Geht aber der Deckel erstmal auf, lässt sich der zutage tretende Fakt vermarkten.

Ähnlich verhält es sich mit der Erfindung der Wirklichkeit durch erfolgreiche Ereignisse, deren Blaupause bis zur Ermüdung des Publikums allerlei gleichgelagerte Fälle folgen, weil das Muster danach schreit, als Schablone benutzt zu werden.

Erfolgreich sind Erzählungen, wenn sie Aufmerksamkeit erhaschen wie der Eisbär Knut, es liegt folglich auf der Hand, dass der nächste Knut als Wiederauflage der Ursprungsgeschichte verbreitet wird wie die Handball-WM als „Wintermärchen“ dem emotional noch präsenten „Sommermärchen“ der Fußballer folgen musste.

Erst wenn die verwendeten Codes und Schlagworte sich erschöpft haben, wenn der Zauber des Entsetzens prosaischer Gewöhnung gewichen ist, sattelt Schrödingers Katze ein neues Pferd: Kampfhunde, die dann noch beißen, tun es im Kleingedruckten, Kinder, die aus Kühltruhen fallen, fallen nicht mehr auf, und der Sturmflutlarm ist allenfalls noch ein leises Zirpen. In der Wetterspalte.


2 Kommentare:

Eisenschwein hat gesagt…

"die welt als wille und vorstellung" von schopenhauer - ich kann den text nur empfehlen.

Eisenschwein hat gesagt…

toller text übrigens. wie sich überhaupt der geschätzte autor in der vergangenen zeit durch kluge argumente, mal mehr, mal weniger subtile ironie und ordentlichen fleiß hervorgetan hat.