Montag, 30. September 2019

Es war nicht alles Brecht: Wirklich, wir leben in finsteren Zeiten!



Wie in allen Arealen, die der Regierung und Verwaltung vorbehalten sind, ist im Brüsseler EU-Viertel das Physische rücksichtslos dem Immateriellen, der Erfordernissen der Sprache untergeordnet worden. Es ist ein Bereich mit dezenten Bürotrakten und stillen Parks, des Reichtums ohne Protzerei, des Luxus ohne sichtbare Verschwendung.

Die zurückhaltende Anonymität der Gebäude ist das äußere Symptom von etwas Tiefergehendem, das seinen Ursprung im noblen, aber ein wenig unheimlichen Ziel eines endgültigen Konsensus hat, einer Beendigung der brutalen dionysischen Geschichte des Kontinents.

Verordnungen, Statistiken, Weisungen und Aktionspläne: In der Sprache des EU-Viertels herrscht Ordnung und mit der Ordnung kommt die Gewalt, die in die Uniformen der gelangweilten Polizei übersetzt ist, die vor dem Parlament Wache stehen. Es ist eine Gewalt, die in Sprache gekleidet und von ihr zunehmend umschlossen und gezähmt worden ist, bis sie die sanfte Tönung und das gedämpfte Licht des übrigen europäischen Projekts angenommen hat.

Diskrete Gewalt wie überwachtes Privatleben und humanitärer Krieg. Typisch europäische Paradoxe, die als Gedicht eine Atmosphäre auslaufender Milch verströmen. Es war niemals schlimmer, das walte Brecht.

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!


2

In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legt ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit
Die Sprache verriet mich dem Schlächter
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.


3

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

Zur PPQ-Dokumentation von Gedichten aus DDR-Zeiten, die 2002 in einer Pappkiste im Pionierhaus Halle geborgen werden konnten: Es war nicht alles Brecht

5 Kommentare:

Frolleinwunder hat gesagt…

Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll, dass ich das ziemlich gut finde...

teu hat gesagt…

Lyrik ist fast das Einzige was heutzutage dem Lesenden positiv weh tut.
Danke dafür!

Anonym hat gesagt…

https://www.fr.de/politik/luegenpresse-drohung-gegen-medien-rechten-terror-netzwerk-12286103.amp.html

rotgrüne Relotiuspresse kotet sich ein .

besonders schlimm : Kohlchan

ppq hat gesagt…

ich wusste, dass da draußen noch empfindsame seelen wohnen

Anonym hat gesagt…

Seinen Spruch mit den drei Kriegen, die das große Karthago führte, nehme ich ihm übel. Ich heiße es intellektuelle Unredlichkeit, auch bzw. obwohl er den Wahnsinn, der seit einigen Jahren offen tobt, nicht ahnen konnte.
Um den Dritten Punischen Krieg hatten sich die Karthager nicht eben gerissen.