Dienstag, 5. März 2024

Der Kandidat: Herr Niemand aus Nimmerland

Umgeben von Flaschen: Der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokratie begann seine Karriere in der Ära Breschnew, jetzt sendet er Aufbruchssignale an die EU-Bürger.

Die europäischen Sozialdemokraten ziehen mit einem völlig unbekannten EU-Kommissar aus dem kleinsten EU-Mitgliedsland in die Schicksalswahl um das nächste EU-Parlament. Der aus Luxemburg stammende Bürokrat ist 70 Jahre alt, noch nie durch nichts aufgefallen, nicht einmal seine Wahl ins EU-Parlament vor fünf Jahren hinterließ Spuren.  

Der Nachfolger des legendär lauten und bei den Medien beliebten Martin Schulz hat kein Programm, keine Ideen, nicht einmal Visionen, wie sie Ursula von der Leyen im Wochentakt zum Besten gibt. Der seit 45 Jahren in zahllosen Ämtern dienende Sozialist versucht nicht einmal, siegesgewiss zu wirken. Warum tun die Sozialdemokraten das? Was hat der Mann, was niemand sehen kann?

Europas Sozialdemokratie hatte keine große Wahl. Seit jeher muss der sogenannte "Spitzenkandidat" zur sogenannten "Europawahl" Deutsch sprechen, weil er sonst im größten Mitgliedsstaat überhaupt keine Aufmerksamkeit findet. Zudem aber muss er auch für die französische Regierung zumindest so akzeptabel sein, dass sie ihn formal laufen lässt im angeblichen Rennen um den künftigen Kommissionsvorsitz, das bisher noch nie ein Spitzenkandidat hat für sich entscheiden können.  

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Die Deutsche Katarina Barley, vor einigen Monaten und dann noch einmal vor einigen Wochen in einen Wahlkampf unter Ausschluss der Öffentlichkeit gestartet, weiß ein Lied davon zu singen, wie es ist, sich nicht einmal mehr Hoffnungen machen zu können. Ihre Konkurrentin von der konservativen Volkspartei, wie sich die linke Mitte in Straßburg nennt, tritt deshalb selbst gar nicht an, sie kandidiert, ohne auf dem Wahlzettel zu stehen, weil nur dieses hybride Angebot eine echte Chance auf den begehrten Chefsessel in Brüssel garantiert.

Für die europäischen Sozialdemokraten kein Weg. Ohne Aussichten auf eine Mehrheit im kommenden EU-Parlament bleibt der ältesten politischen Bewegung auf dem Kontinent nur die Offensive. Das letzte Hurra wird nun ein Luxemburger anführen: Nicolas Schmit ist 70 Jahre alt, seit beinahe ebenso vielen Jahren Mitglied der Lëtzebuerger Sozialistesch Aarbechterpartei, derzeit noch als Kommissar für Arbeit und Soziale Rechte in Brüssel geparkt und er hat sein ganzes Leben im Staatsdienst verbracht. 

Als "Sozialist", so bezeichnen sich die Mitglieder der LSAP selbst, ist Schmit der klassische Kompromisskandidat: Seit Jean-Claude Juncker wird immer gern ein Luxemburger genommen, weil der Zwergstaat als natürliche Brücke zwischen den Paris und Berlin gilt, die sich meist nicht einigen können. Zudem gelten Ex-Referenten, Botschaftsräte, Ex-Abteilungsleiter und Fraktionssekretäre bei der EU traditionell als sichere Bank, um den Völkern Europas ein neues Aufbruchsgefühl zu vermitteln. Sie wissen, wie der Hase läuft, sie haben das Selbstbewusstsein, einfach ihr Ding zu machen, und sie lassen sich von der sie umgebenden Wirklichkeit nicht beeindrucken.

Alt, unbekannt, aber aus Luxemburg

Dass die Luxemburger Sozialistische Arbeiterpartei winzig klein ist und der neue Spitzenkandidat ebenso alt wie unbekannt wie langweilig, fällt dagegen nicht ins Gewicht. Da Nicolas Schmid gegen Ursula von der Leyen antritt, die selbst nicht antritt, darf sich der "absolut trittsichere" (Spiegel) Kommissar nach dem Wahlgang im Sommer sein neues Kommissariat aussuchen: Seit der Sozialist, über dessen Privatleben nur sehr wenig bekannt ist, die "Verteidigung der europäischen Werte" und den "Kampf gegen den Rechtsruck in Europa" als "eines seiner wichtigsten Ziele" (Spiegel) bezeichnet hat, fliegen ihm die Herzen nicht nur eingeschworener Sozialdemokraten zu.

Bei seiner Wahl auf dem Parteikongress der Sozialdemokraten, demonstrativ abgehalten in Rom, der Hauptstadt des faschistisch regierten Italien, scheute sich Schmit nicht, klipp und klar zu sagen, dass "Respekt und keinen Hass" wolle. "Die beste Antwort auf die extreme Rechte ist unsere Vision und unser Projekt für Europa, damit jeder Bürger und jedes Kind ein besseres Leben haben kann", sagte der Mann, der seine politische Laufbahn in der Ära des sowjetischen Diktators Leonid Iljitsch Breschnew startete. Schmit betonte aber auch die Wichtigkeit einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ein Punkt, den seine Gegenkandidatin derzeit versucht, auf den europäischen Tisch zu ziehen: "Wir als Europäer müssen unsere Sachen in die Hand nehmen", kündigte Nicolas Schmit Konsequenzen an.

Wursteln bis zum Wahltag

Das Format dazu hat er, der promovierte Wirtschaftswissenschaftler, dem die SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley ihren Segen gegeben hat. Unter 440 Millionen Europäern sei der 70-Jährige "der Kandidat, der am besten zur Sozialdemokratie passt", freute sich die am Ende der Ära Nahles nach Straßburg expedierte frühere Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Arbeit und Soziales sowie Justiz und für Verbraucherschutz. Wenn Europa um den 7. Juni herum zu den Wahlurnen gerufen wird - auf einen einheitlichen gemeinsamen Wahltag konnten sich die 27 Mitgliedsstaaten bislang nicht einigen - wird Nicolas Schmit bestimmt nichts gewinnen. Aber als Altersrentner, der schon fünf Jahre lang nebenbei weiterwurstelt, hat auch nichts zu verlieren.


4 Kommentare:

Spaziergänger hat gesagt…

Ich hoffe wenigstens, daß er nicht so starke Ischiasprobleme hat, wie sein berühmter Landsmann ...

Anonym hat gesagt…

Nicht schlecht. Mit der Bio können nicht viele mithalten. Bloß schade, dass Elmar Brok nicht mehr am Start ist.

Funfact https://www.elmarbrok.de/ gibt's noch, wo olle Elmar noch als MdEP auftritt.
Seit 2019 ist auf der Seite nicht mehr passiert. Schätze, dass die EU die Domäne bezahlt. Wenn es von seinem Geld abginge, wäre das seit 2019 offline.

Anonym hat gesagt…

“… damit jeder Bürger und jedes Kind ein besseres Leben haben kann”

Schützengraben 1. Klasse.

Die Amis auf Kurs
Grüsse
kosh

PS: Man tut was man kann und man kann was man tut.

Anonym hat gesagt…

OT

>> OPArettte 5. März 2024 at 19:32

Als dreiundachzig jähriger erinnere ich mich genau noch an das BUM,BUM,BUM, wenn mein perverser Opa, der mich täglich 3 mal, wegen Nichtigkeiten verprügelt hatte, die Nachrichten von BBC hörte.
Diese alte SOZI SAU, bekam zu seinem Tot noch einen Kranz von der SPD, für über 50 Jahre Mitgliedschaft! <<
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War die Senge nicht doch, wenigstens manchmal, berechtigt?