Sonntag, 10. August 2025

Gefährliche Rede: Freiheit, die sie meiden

 Ursula von der Leyen lobt die grenzenlose Meinungsfreiheit, während ein Missbraucher abgeführt wird.

"Die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim."

Bundesverfassungsgericht, 4. November 2009,  1 BvR 2150/08

Die ältere Frau steht auf der Bühne, flankiert von zwei großen Männern, und sie hat sichtlich sehr gute Laune. Ursula von der Leyen hat zuletzt jeden Wahlkampf gescheut, doch nicht, weil sie kein Talent für große, wirkungsmächtige Auftritte vor großen Menschenmengen hat. Die EU-Kommissionsvorsitzende hält es mit der alten Weisheit der Pferdezüchter ihrer niedersächsischen Heimat: Ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss.  

Ins Amt hineingeboren 

Und von der Leyen musste gar nicht springen. Die geborene Europäerin durfte sich sicher sein, dass sie alle Kräfte der Bewahrung der Stabilität auch so hinter sich hat. Nach einem neuen Chef für die Nato hatten die europäischen Mitglieder, die diesen Frühstücksdirektorenposten an der Seite des US-Oberbefehlshaber der Nato-Truppen in Europa traditionell besetzen müssen, so lange gesucht, dass der Vertrag des Inhabers des Sessels mehrfach verlängern musste. Noch eine Baustelle, auf der Kesselflicker um den rechten linken Kandidaten zanken, konnte Europa nicht gebrauchen. 

Von der Leyen gewann also im Spaziergang eine Wahl, bei der sie nicht kandidiert hatte, bei der sie aber zweifellos auch als strahlende Siegerin vom Platz gegangen wäre, hätte sie sich entschieden, der Form halber anzutreten. Denn dass die 69-Jährige bei öffentlichen Auftritten so souverän agiert, dass ihr Wählerinnen und Wähler aus der Hand fressen, zeigt ein kurzer Ausschnitt aus einem Film, der die Triumphatorin im Zollstreit mit den USA bei einem Besuch in Finnland zeigt. 

Die ihre Seele herausbrüllen 

Von der Leyen ist zu sehen, wie sie den Finnen die Vorteile der freiheitlichen Verfasstheit ihrer Union erklärt, vor allem denen vor der Bühne, die, wie sagt "schreien und ihre Seele herausbrüllen". Gemeint sind einige Protestierer, denen Ursula von der Leyen von oben herab ins Stammbuch schreibt, wie froh sie sein sollten, in einem Land und einer Gemeinschaft zu leben, "in der das Recht auf freie Rede keine Grenzen hat". Wären sie in Moskau, schiebt die Chefin der größten und in sämtlichen Belangen erfolgreichsten Staatengemeinschaft der Menschheitsgeschichte nach, "wären sie in zwei Minuten im Gefängnis". 

Die Kamera schwenkt daraufhin weg von der Bühne und dorthin, wo die Schreie herkommen. Und zu sehen ist, wie ein Polizeibeamter einen der Protestler mit sanftem Druck abführt. Freiheit, die sie meinte, denn Ursula von der Leyen schaut von oben zu. Sie macht keine Anstalten, den Polizisten davon abzuhalten, den Störer in Gewahrsam zu nehmen oder zumindest vom Platz entfernen. 

Von der Leyen und ihr Freiheitsbegriff 

Als "Synchronizität" hat der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung das Phänomen beschrieben, bei dem scheinbar unzusammenhängende Ereignisse so zusammentreffen, dass sie einen neuen Sinn ergeben oder eine neue Erkenntnis zutage fördern. Von der Leyen und ihr Freiheitsbegriff, bisher ausgedrückt durch komplizierte und kaum einem gewöhnlichen Menschen vollständig bekannte EU-Richtlinien, Erlasse zur Einrichtung von Meldestellen und Versuche, dem allgemeinen Begriff von "freier Rede" eine Art europäische Deutung entgegenzustellen, treffen hier im Norden, am Rande der EU, auf die tatsächliche Auslegung des theoretischen Prinzips. 

Das eine hat mit dem anderen so viel zu tun wie die EU mit Wirtschaftswachstum, neuen Technologien und gemeinsamen Werten. Mit Blick auf Ungarn hat von der Leyen die Schließung der Grenzen immer scharf kritisiert. Nach Finnland hatte sie für die Grenzschließung ein dickes Lob mitgebracht.

Immer, wie es gerade passt. Moral ist keine starre Kategorie, sie fluktuiert je nach Nützlichkeit, sie beruht auf Prinzipien, die so fest sind wie die Entschlossenheit der 27 Mitgliedsstaaten zur Solidarität mit dem von Terrororganisation Hamas angegriffenen Israel. 

Die personifizierte EU 

Doch das zufällige Zusammentreffen der personifizierten Europäischen Gemeinschaft, einer Frau im Rentenalter, die sich straff gehalten hat, aber schwer darunter leidet, von Staatschefs rund um den Globus nur ernst genommen zu werden, wenn sie mit Geschenken kommt, und der Realität ist alles andere als ein Zufall, der nicht durch Kausalität erklärt werden kann. 

Weil Ursula von der Leyen Schwierigkeiten mit Meinungsfreiheit hat, bekanntermaßen schon lange vor ihrer Notabordnung nach Brüssel, musste ein solcher Moment geschehen. Ihre private Ansicht darüber, dass jeder sich glücklich fühlen muss, der unter ihrer Ägide leben darf, und die reale Ausprägung dieses Glücks, sie liegen so weit auseinander, dass eine friedliche Koexistenz faktisch nur möglich ist, solange sich beide nicht zufällig doch einmal über Weg laufen. 

Ein  Aha-Graben überall 

Wenn es dann passiert, wird ein Abgrund kenntlich, der zuvor nur durch günstigen Lichteinfall nicht zu sehen war. Am Bundestag in Berlin wird das Prinzip in Gestalt eines sogenannten Aha-Grabens architektonisch umgesetzt: Ein Zaun und eine zehn Meter breite Grube sollen in Bälde "das Praktische mit dem Ästhetischen verbinden" (Der Spiegel). 

Der Graben zwischen dem Haus, in dem die Volkstreter tagen, und ihrem Volk wird aus der Ferne nicht einmal zu erahnen sein, obwohl er einer Seite mit einer Böschung und auf der anderen mit einer steilen Wand versehen ist. Der Name Aha-Graben leitet sich daraus ab: Erst der entschlossene Schritt ganz in die Nähe des architektonisch mit allen Denkmalschutzregeln gewaschenen Abgrunds, wachsam geht der Blick dabei zu den patrouillierenden Streifen, löst das Aha-Erlebnis aus. Dann erst sieht der Besucher, wie tief die Kluft zwischen Volk und Volksvertretern wirklich ist.

Die Siegerin gegen Street View 

Ein Aha-Erlebnis, das Rückkehrer von einem Berlin-Besuch den Daheimgebliebenen eines unaufhaltsam nahenden Tages kaum mehr beschreiben können werden. Ilse Aigner, die heutige Präsidentin des bayrischen Landtages, hatte in ihrer Zeit als Bundesverbraucherschutzministerin dafür gesorgt, dass Deutschland sich von technischen Neuerungen und Internettrends erfolgreich abkoppelte. Der große Kampf der Frau aus Oberbayern gegen den amerikanischen Internetriesen Google und dessen Street-View-Programm war ein Lehrstück in politischem Populismus und intellektuellem Versagen. 

Wie ein Indio-Medizinmann, der in einem Fotoapparat ein Gerät erkennt, das Seelen raubt, beschwor die gelernte Rundfunkmechanikerin vor 15 Jahren den Untergang des Abendlandes. Der sei unumgänglich, wenn deutsche Häuserfassaden im Netz zu sehen seien.  

Aigner trommelte monatelang gegen Google und für härtere Maßnahmen, sie ließ eine elektrische Einspruchsmaschine als überhaupt ersten deutschen Beitrag zur Digitalisierung erfinden und fand am Ende tatsächlich zehntausend besorgte Bürger, die bei Google  datenschutzrechtlich Bedenken einreichten. Gemeinsam sorgten Ministerin und beunruhigte Immobilienbesitzer damit sorgten, dass Deutschland fast anderthalb Jahrzehnte ein weißer Fleck auf der Street-View-Karte blieb.

Abgeparkt im Landtag 

Jungs "Synchronizität" braucht keine gemeinsame Zeit, sie kann sich auch durch ein inneres Ereignis  wie einen Traum, eine Vision oder Emotion zeigen, das auf ein äußeres, physisches Ereignis trifft und plötzlich wie eine manifestierte Spiegelung des einen im anderen erscheint.

Ilse Aigner, die sich nach ihrem Sieg über den Fortschritt im Street-View-Fall in die bayrische Landespolitik zurückzog, im Machtkampf gegen Markus Söder aber unterlag, pflegt zu Meinungsfreiheit und Freiheitsrechten insgesamt eine ähnliche Liebesbeziehung wie Ursula von der Leyen. Prinzipiell ist das alles gut, aber, wie der frühere DDR-Staatssicherheitschef Erich Mielke einmal formuliert hat, die Sache muss unter Kontrolle bleiben. 

Aigner handelt nach dieser Maxime, bisher unausgesprochen, doch bei X hat die 60-jährige CSU-Politikerin jetzt erstmals auch beschrieben, worum es ihr im Kern geht. "Wehrhafte Demokratie bedeutet: Wir wehren uns gegen gefährliches Reden", stellte sie unumwunden klar, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit künftig gezogen werden. Nicht dort, wo die Amerikaner sie seit 1791 wähnen, als die  freie Rede als Zusatzartikel in der Verfassung landete. Sondern nur bis dorthin, wo Ilse Aigner argwöhnt, dass sie die Demokratie gefährdet.

Ein neuer Feind im Ring 

Waren es bei Rot-Grün-Gelb noch eine Kompanie aus  Zweifel, Hetze, Hass und Hohn, Fake News und Schwurbelgeschwätz, die unter dem Verdacht stand, den Staat staatsfeindlich zu delegitimieren, tritt mit der "gefährlichen Rede" ein neuer Feind in den Ring. "Gefährliche Rede" kann alles sein, denn nichts gibt die sichere Garantie, dass daraus nicht "gefährliches Tun" (Ilse Aigner) werden könnte. Gefährliche Rede ist schon allein dadurch gefährlich, dass sie weder im Grundgesetz noch in den Strafrechtsvorschriften erwähnt wird. 

Die Mütter und Väter der deutschen Verfassung haben hier mit Absicht Spielräume eröffnet: Ihren Vorgaben gemäß hat "jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten", die "Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden" zudem "gewährleistet" und eine Zensur findet nicht statt. Doch weil diese Rechte ihre "Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre" finden, wird es leicht fallen, das allgemeine Schutzniveau mit mit einem "Gesetz gegen gefährliche Rede" (GgegeR) deutlich zu erhöhen. 


Keine Kommentare: