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Millionen hofften vergebens: Der Mindestlohn von 15 Euro bleibt ein Traum. |
Sie hatten gehofft, sie hatten gebangt, sie hatten sich nicht vorstellen können, dass es am Ende wieder nicht reichen würde mit der Erhöhung des Mindestlohns auf ein menschenwürdiges Maß. Mike Saubier und Angelika Weisel, beide als Nachtreinigungsfachkraft bei einem großen Schulträger in Ostdeutschland beschäftigt, waren überzeugt gewesen, dass die deutschen Sozialdemokraten sich nicht in Ausreden flüchten würden, um ihr Wort aus dem Wahlkampf nicht halten zu müssen. 15 Euro Mindestlohn hatten sie damals versprochen, mehr als hundert Tage ist es her. Politisch gesehen ein Menschenleben.
PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl ordnet den Verrat der schwarz-roten Koalition am Mindestlohnversprechen ein und fordert unabhängige Änderungen.
Erhöhung in zwei Jahren
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Svenja Prantl ist nicht zufrieden. |
Betroffene kennen die Begründung für das schmale Plus zur Genüge. Schon als der Mindestlohn eingeführt wurde, gegen den Widerstand der Wirtschaft, konservativer und rechter Kreise, die mit Weltuntergangsparolen front dagegen machten, hatte es geheißen, ein Mindestlohn egal welcher Höhe gefährde Arbeitsplätze, treibe die Inflation an und schwäche die Wettbewerbsfähigkeit.
Der Mindestlohn betrug bei seiner Einführung am 1. Januar 2015 gerade mal 8,50 Euro pro Stunde. Sechs Freilandeier kosteten damals 85 Cent, ein Harzer Käse 99, eine Flasche Apfelsaft ebenso und 150 Gram Edelsalami 1,59 Euro. Die durchschnittliche Inflationsrate lag bei 0,5 Prozent. Geld wurde kaum weniger wert, wenn es unter dem Kopfkissen lag.
Geldentwertung um ein Drittel
Die Entwicklung seitdem zeigt, dass es auch anders geht. Mit der Mindestlohneinführung begann eine Entwicklung, die nie mehr aufgehört hat. 2016 war - abgesehen vom Pandemiejahr 2020 - das einzige Jahr, in dem die Inflation noch einmal unter einem Prozent lag. Insgesamt summiert sich die Geldentwertung in den zehn Mindestlohnjahren auf mehr als 30 Prozent.
Niemals seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist der Geldwert in Deutschland so eilig verfallen wie in diesem Jahrzehnt, das bestimmt war vom Glauben, dass ein starkes Land mit einer starken Wirtschaft politisch festgelegte Löhne für die untersten Einkommensschichten nicht nur verträgt. Sondern auch in der Lage ist, Erhöhungen quasi im Wochenrhythmus folgenlos wegzustecken.
Erhöhung um 50 Prozent
Seit seiner Einführung hat die Mindestlohnkommission die vorgeschriebene Höhe der Entlohnung von Geringverdienern um 50 Prozent angehoben. Ein Erfolgsrezept, denn im Wettlauf mit der Inflation sind die realen Einkommen am unteren Ende damit tatsächlich deutlich gestiegen. Dennoch hat sich das ursprünglich als unabhängige Instanz eingeführte Gremium zuletzt entschieden, der Forderungen progressiver Kreise nach einer Erhöhung auf 15 Euro nicht zu entsprechen. Geringverdiener werden ab kommendem Jahr mit 13,90 Euro abgefunden, für 2027 dürfen sie dann mit 14,60 Euro rechnen.
Ein Stundenlohn, der mit 40 Cent pro Stunde deutlich unter der im Koalitionsvertrag festgelegten Zielmarke der Bundesregierung liegt und noch weiter weg von vollmundigen Versprechen, die im Wahlkampf gemacht worden waren. Brutal erscheint zudem die Ankündigung des Bundesverteidigungsministers vom Frühsommer, sich in seinem Verantwortungsbereich künftig nur grob an der Mindestlohnrichtlinie zu orientieren.
Verteidiger der Demokratie
Die vielen Hunderttausend neuer Soldaten, die Boris Pistorius in den kommenden Jahren gegen die russische Bedrohung mobilisieren und zu Wehrfachkräften ausbilden will, dürfen danach nur mit einer Entlohnung knapp oberhalb der Mindestlohnschwelle rechnen. Für 164 Dienststunden plus Sondereinsatzzeiten verspricht der SPD-Politiker neuen Rekruten schmale 2.000 Euro netto.
Einziger Vorteil der Verteidiger der Demokratie: Ein Mindestlohnempfänger, der heute auf 2.000 Euro Nettoeinkommen kommen will, muss dafür beim aktuellen Stundensatz von 12,82 Euro im Durchschnitt 194 Stunden arbeiten. Nach der Erhöhung auf 13,90 Euro werden es 201 Stunden sein, weil der Staat einen größeren Teil der höheren Bruttoentlohnung in Form von Steuern und Abgaben für sich beansprucht.
Angst vor größeren Schritten
Er hat zweifellos Dankbarkeit verdient, wagt sich aber dennoch nicht, mit größeren Schritten auf das Ziel einer gerechten und gleichen Entlohnung für alle loszumarschieren. Zehn Jahre nach der Einführung des Mindestlohnes treibt die Politik offenbar wieder die Angst um, dass ein deutlich höherer Mindestlohn der deutschen Wirtschaft schadet, die Inflation antreibt oder die Wettbewerbsfähigkeit schwächt.
Mythen, die nicht neu sind, aber schon häufig widerlegt werden konnten: Dass die Wirtschaft seit Jahren lahmt, liegt erwiesenermaßen am russischen Angriffskrieg, an Pandemie, Bürokratie und Rechtsruck, Donald Trump, dem Klimawandel und den fehlenden Fachkräften. Auch die Inflation findet hier ihre Erklärung - wäre nicht alles durch Trumps Zölle teurer geworden, könnte die EZB zufrieden auf Preisstabilität verweisen.
Im Ringen der Machtblöcke
An der Wettbewerbsfähigkeit Europas im Ringen der großen Machtblöcke um Märkte und Einfluss besteht ohnehin kein Zweifel. Seit der erfolgreichen Umsetzung der Lissabon-Strategie durch die EU, der Einführung der Datenschutzgrundverordnung, dem KI Act und der Lieferkettensorgfaltsrichtlinie schauen die Völker der Welt voller Sehnsucht nach Europa, das mit moderaten Wachstumsraten zeigt, das Wohlstandsabbau einem umfassenden Ausbau des Staatssektors nicht im Wege steht.
Die erniedrigende Erhöhung, mit der die 6,3 Millionen Mindestlohnempfänger werden zurechtkommen müssen, ist weniger wirtschaftlichen, sondern politischen Notwendigkeiten geschuldet. Obwohl alle Zahlen zeigen, dass ein höherer Mindestlohn Arbeitsplätze schafft, die Anzahl der Beschäftigten erhöht, die Arbeitslosigkeit senkt und die Zahl offener Stellen je mehr wächst, desto höher der Mindestlohn ist, verweisen Kritiker auf die hohe Anzahl an Firmenpleiten, auf geschlossene Kneipen, weil Wirte keine Bedingungen mehr bezahlen können, und auf Mehrarbeit für Facharbeiter etwa am Bau, weil Hilfskräfte gekündigt wurden.
Ein bisschen Schwund
Das ist allerdings nur das bisschen Schwund, das bei Umbauarbeiten an der Gesellschaftsstruktur immer erwartet werden muss. Höhere Löhne bedeuten, dass einige Unternehmen ihre Kosten nicht mehr decken können, weil sie keine höheren Preise durchsetzen können. Doch sind Arbeitsplätze, auf die die Gesellschaft verzichten kann. Niemand braucht eine Gastwirtschaft, in der billiges Bier ohne jede gehobene Trinkkultur ausgeschenkt wird. Niemandem fehlen Dienstleistungen, die schlecht bezahlt wurden wie die von Taxifahrern, Reinigungskräften und Callcenteragents.
Der Mindestlohn ist ein Trumpf Deutschlands beim Aufbau einer Resilienz gegenüber dem internationalen Wettbewerb, das zeigt die Realität seit seiner Einführung. Eine Bar, in der die studentische Kellnerin früher mit einem Almosen abgespeist wurde, muss ihre Stundenkräfte jetzt ordentlich bezahlen. Dadurch wird eine Lohnspirale in Gang gesetzt, denn der ausgebildete Barmann, der gelernte Koch und der Chefkellner werden mit Blick auf ihre Löhne darauf dringen, deutlich mehr Geld zu erhalten. Schwache Firmen müssen in der Folge aufgeben. Gesunde, die bei ihren Kunden höhere Preise durchsetzen können., überleben.
Umverteilung Richtung Staat
Die Folge ist überall zu besichtigen. Billigkneipen, Kioske, Taxibetriebe, sie sind verschwunden. Dennoch ist die Beschäftigung stark gewachsen, die Arbeitslosigkeit dank höherer Teilzeitquoten gesunken und der Staat darf sich über die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten freuen. Der Mindestlohn hat zu einer Umverteilung von Gewinnen von den Unternehmen zu Finanzamt, Krankenkassen, Pflegekasse und Vermietern geführt. Die am unteren Ende der Lohnskala arbeitenden Beschäftigten werden besser bezahlt, die ehemals gut bezahlten knapp über der Mindestlohnschwelle immer noch auskömmlich. Viele sind gleicher geworden, die meisten haben es nicht einmal bemerkt.
Die Wettbewerbsfähigkeit auf den globalen Märkten bleibt davon unberührt. Hier sinken die Exporte seit Jahren auf zahlreichen anderen Gründen, denn natürlich führt kein Mindestlohn zur Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Über eine lange Strecke erhöht eine höhere Entlohnung von Jobs im Niedriglohnsektor zwar das Preisniveau insgesamt, so dass am Ende auch die Industrieproduktion teurer wird und Unternehmen Standorte im Ausland suchen.
Mit einer knapp gehaltenen Erhöhung aber hat die Politik hier Augenmaß bewiesen: Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Inflation werden begrenzt, gleichzeitig werden die als Einkommen volkswirtschaftlich zur Verfügung stehenden Summen vorsichtig umverteilt. Aus Geringverdienern, werden nicht Gut-, aber Besserverdienende.
Fehlender Mut in der Politik
Das alles würde schneller gehen, würde die Politik mutiger agieren und bei der Festlegung des Mindestlohns nicht auf die Tarifentwicklung schielen, sondern den Hebel nutzen, um die Entwicklung voranzutreiben. Eigentlich verlangt die Europäische Kommission als Herrin des Verfahrens schon längst, dass der Mindestlohn bei wenigstens 60 Prozent des Medianlohns festgeschrieben wird – das wären in Deutschland etwa 15 Euro pro Stunde.
Ein Sprung dorthin bleibt unausweichlich, auch im Kampf gegen den Niedriglohnsektor, die von vielen Bürgerinnen und Bürgern als zu hoch empfundene Zahl der Bürgergeldempfänger und ist dadurch ein wenig zurückgegangen. 2015 gab es noch rund 1,3 Millionen sogenannte Aufstocker, bis 2023 sank diese Zahl auf unter 800.000, 2024 stieg sie wieder, weil der Mindestlohn nicht schnell genug gestiegen war.
Wie es weitergeht, steht Spitze auf Knopf: Die den Betroffenen angebotene erniedrigende Erhöhung schient derzeit mit der Entwicklung der Lebenshaltungskosten Schritt zu halten , das aber könnte sich ändern, müssen Steuern und Abgaben weiter erhöht werden.
Dann spätestens muss die Mindestkohnkommission außerplanmäßig nachschärfen und das 15-Euro-Versprechen der schwarz-roten Koalition außerplanmäßig einlösen.
3 Kommentare:
<< Wesentlich mehr Sorgen muss es Merz jedoch bereiten, wie er den von seinen Hintermännern geforderten sozialen Kahlschlag durchführen soll. >>
"Kurschatten" nu wieder. Er wird ganz einfach, er wird. Diese (Selbstzensur) haben nun einmal, völlig unverdient, ein geradezu märchenhaft blödes Wählervolk zu Gebote. Die werden "es einsehen", wo uns doch die Russen überfallen wollen und niemand anders beim Klimaschutz so richtig mitmachen will. Außerdem ging es uns schon immer viel zu gut.
Auf dem Bild oben, ist das der Vater von Anatoly?
Ceterum censeo bin ich für sozialen Kahlschlag, vor allem bei Leuten die nie was netto eingezahlt haben.
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