Montag, 3. November 2025

Das Märchen vom klaren Kompass: Wo der Fleischer fleischt

Friedrich Merz hat einen klaren Kompass. Was er damit meint, ist nicht bekannt.

Wer rast, der rostet. Es braucht Mut zur Tücke. Wer den Schaden hat, der braucht für den Schrott nicht sorgen. Maß und Schnitte. Liebe geht durch den Kragen. Politik ist immer schon ein Geschäft gewesen, das mit dem Wort Macht ausübte. Mit Hilfe der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin und ihren Vorgängerinstitutionen werden die Spitzen der Parteien und der staatlichen Institutionen seit jeher mit Parolen, Leerformeln und ganzen Bedeutungskomplexen ausgerüstet.  

Historienbezogene Resilienz-Strategie 

Mit seinem Satz von der zunehmend führenden Rolle der Bedeutung der Mikroelektronik in der Klassenauseinandersetzung hat Friedrich Merz gerade erste ein leuchtendes Beispiel für  diese sogenannte Führung von vorn: Die Mikroelektronik zum "Schlüssel für eine gute Zukunft unseres Landes" zu erklären, gilt der politikberatenden Forschung als Meisterstück einer historienbezogenen Resilienz-Strategie.

Merz bezog sich direkt auf die Spätzeit der Honecker-Ära in der DDR, die ähnlich wie die Gegenwart in der Bundesrepublik geprägt war von einer großen Ratlosigkeit über Möglichkeiten, das Land zu retten und seine Bürgerinnen und Bürger bei der Stange zu halten.

Der CDU-Chef droht an seinen eigenen Ansprüchen zu scheitern. Gekommen als großer Reformator, der Deutschland zurückführt auf einen Wachstumpfad, sieht der älteste Kanzler der zurückliegenden Vierteljahrhunderts schon nach einem halben Jahr alte aus. Reformiert ist nicht und manchmal wirkt Merz selbst verwundert darüber. Es könnte allerdings sein, dass es am falschen Werkzeug liegt: Auch eben wieder hat Merz vom "klaren Kompass" gesprochen, den er habe. Doch der Kompass ist ein Anzeigeinstrument. Er  bringt niemanden voran, der kein Segel setzt. Ob "klar" oder nicht".

Gesegelt wird ein Kurs 

Gesegelt wird ein Kurs, kein Kompass. Dieser Kurs muss klar sein, nicht das Glas über der Anzeige. Doch auf seine Weise erzählt Friedrich Merz mit seinem verdrehten Parolismus und dem schrägen Märchen vom klaren Kompass eben genau die Geschichte seiner Ära: Die Dissonanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist so groß, dass sich ein Raum der Möglichkeit öffnet, unwidersprochen nicht nur Plattitüden verbreiten zu dürfen, sondern auch Plattitüden, deren innerer Zusammenhang in etwa dem der schwarz-toten Koalition entspricht.

In der Historie waren Zeiten einer Inflation der für jedermann erkennbaren Idiotie stets Zeiten vor großen Veränderungen. Erst kommen die Honeckers, die endlos, aber inhaltsleer dahinschwatzen. Dann gehen die Reste des Ersparten dahin. Und irgendwann fängt etwas Neues an. Die Älteren erinnern sich an die Ruinenlandschaften, in denen viele Honecker-Untertanen hausen musste. Klo halbe Treppe, Heizen mit Krümelbriketts. Ringsum verfallene Stadtbilder, Millionen aus dem klammen Staatshaushalt gingen in die Bruderstaaten in der dritten Welt. 

Und der große Bruder Sowjetunion, bis eben noch die unumstrittenen Führungs- und Schutzmacht, stand unter scharfem Reformverdacht. Aus Honeckers Misstrauen der ganzen Entwicklungsrichtung gegenüber  wurde ein neuer Kurs, weg von Moskau, deutlicher orientiert auf einen eigenen Weg, der die DDR zu einem "führenden Standort für neue Technologien" (Friedrich Merz) machen sollte.

Futter für die Falschen 

Der damalige Staats- und Regierungschef sah neue Technik als Möglichkeit, mit "komplizierten, nicht aufschiebbaren Problemen fertig zu werden". Wie es Merz heute darum geht, nicht den Falschen Futter für ihre Verschwörungstheorien vom vermeintlichen Versagen der Bundesregierung und der EU-Kommission zu geben, war auch Honeckers Entscheidung, auf Zuversicht als Tröstung zu setzen, als Kontrapunkt gegen das "Triumphgeschrei westlicher Medien über das Scheitern sozialistischer Gesellschaftskonzeptionen" gedacht.

Knackige Formulierungen wie das geflügelte Wort von Ochs und Esel, die den Sozialismus nicht aufhalten können, der mit zittriger Stimme vorgebrachte Schlachtruf  "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" oder das kräftig getuschte Sprachbild von den "tatkräftigen Frauen - und zwar von der Basis bis zur Spitze", sie verdankten sich der Arbeit der Worthülsendreher des früheren DDR-Kombinats VEB Geschwätz. 

Erbe des Reichsamtes 

Die traditionsreiche Propagandaschmiede, Rechtsnachfolger des Reichsamtes für Sprachpflege (RfS), belieferte die SED-Führung mit Plattitüden und Paronomasien, also Begriffen, die semantisch oder etymologisch nicht zusammengehören, sich jedoch im Klang ähneln und damit weit über ihre eigentliche Bedeutung hinaus Wirksamkeit im öffentlichen Raum entfalten.

Ein Brauch, an dem die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) als Bundeszentralamt für Bedeutungsmanagement bis heute festhält. Unter Leitung des seit 1990 amtierenden Direktors Rainald Schawidow produziert die BWHF einen steten Strom an Leerformeln wie "Stahl-Gipfel", "Rettungsschirm", "Leitkultur", "Energiewende" und "Wachstumspakt", "Systemfeinde", "Pandemieleugner" oder "Brandmauer". 

Unbestimmte Substantive 

Daneben aber beliefert das Kollektiv der Phrasendrescher*innen und Worthülsendreher die Politiker der demokratischen Mitte auch mit rhetorischen Figuren, die im politischen Nahkampf Verwendung finden. Unbestimmte Substantive wie "Reform" werden dabei nach einem noch aus den Beständen des Reichsamtes stammenden Schnittmusterbogen an beschreibende Begriffe geklebt. So entstehen schönfärbende Euphemismen, deren innerer Gehalt deutlich übertroffen wird von ihrem äußeren Gepränge. 

In den mit brutaler Härte und hoher Frequenz ausgefochtenen Richtungskämpfen in den Herzkammern Unsererdemokratie  aber bleibt inzwischen oft nicht mehr Zeit genug, sich professionell ausrüsten zu lassen, ehe es ins Gefecht geht. Die intellektuelle Eleganz, mit der die einzelnen Begriffe aus der BWHF  früher glänzten, ist geschwunden. Zwar ist bei der Serienproduktion an zusammengesetzten Substantiven zumindest auf den ersten Blick alles beim Alten  - wirkmächtige Plattitüden wie "Chemiegipfel", "Stadtbildgipfel", "Stahlgipfel" und "High-Tech-Agenda" belegen es. 

Machttaktische Kommunikationstechnik  

Doch im politischen Berlin geht mittlerweile nicht nur das politische Handeln, sondern auch das noch bessere Erklären der vorzüglichen Politik ganz eigene Wege. So kündigte der Kanzler selbst an, dass seine Regierung einem "klaren Kompass" folge. Gut gemeint, aber eine peinliche Bastardkonstruktion aus dem eigentlich gemeinten "klaren Kurs" und dem "politischen Kompass", der in der machttaktischen Kommunikationstechnik den aus der Dichtung bekannten "inneren Kompass" ersetzt. 

Der "klare Kompass" überzeugt durch seine umfassende Sinnfreiheit, er diente schon Politikernden wie Heiko Maas, Jan van Aken und Nancy Faeser, die damit paranomasisch am Gemeinten vorbeiredeten. Auch bei Friedrich Merz gehört die Paronomasie-Phrase schon lange zum Handwerkszeug im Ankündigungskoffer. Das Zwei-Gedanken-Amalgam Marke "Der Bäcker backt – der Fleischer fleischt" dient auf den ersten Blick einer Tatkraft-Simulation. Unvorbereitete Empfänger der "Kompass"-Botschaft glauben oft, die Floskel beschreibe einen real existierenden Gegenstand, bei dem es sich um einen Kompass handelt, der mit einer durchsichtigen Glasscheibe ausgestattet ist. 

Ein Verbum Paradoxum

In Wirklichkeit aber ist der "klare Kompass" ein noch recht junges verbum paradoxum, das sich keiner Zulieferung aus der BWHF verdankt. Vielmehr war es Friedrich Merz selbst, der die schräge Fügung vor fast einem Vierteljahrhundert im Umlauf brachte, als er der damals regierenden rot-grünen Bundesregierung einen fehlenden "klaren Kompass" vorwarf. Es war die Geburtsstunde eine sogenannten Spoonerismus, Widerspruch in der Beifügung, lateinisch Contradictio in adiecto. Dabei handelt es sich um einen logischen Widerspruch, der ohne Absicht formuliert wird und oft auch, ohne dass er bemerkt wird. Bekannt und überaus beliebt sind etwa das "vorläufige Endergebnis" oder die "exakte Schätzung".

Der "klare Kompass" ist weniger bekannt, aber sehr viel unauffälliger. Seine offenkundig unsinnige Nutzung ist auch in der Wissenschaft noch nie hinterfragt worden. Seine innere Widersprüchlichkeit wird ein Vierteljahrhundert nach Merz` erster öffentlicher Anwendung der Zwillingsformel nicht nur auf den Proklamationsbühnen der politischen Theater akzeptiert, sondern auch im medialen Bedeutungskampf um Aufmerksamkeit. 

Das Archiv des ehemaligen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" erzählt eine einzige Erfolgsgeschichte des missglückten Versuchs von Friedrich Merz, einen "klarer Kurs" auszurufen: Zwischen 1950 und dem Jahr 2000 existierte die Worthülse nicht. Bis 2005 bewährte sie sich in fünf Testläufen. Und seitdem ist der "klare Kompass" ein zentraler Code der politischen Klasse.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Klare Aussagen sind der natürliche Feind des Funktionärs, er meidet sie wie der Teufel das Weihwasser.