Montag, 9. Mai 2011

Am Bingobrett des Alarm-Journalismus

Deutsche Premiumjournalisten dürfen bei der Arbeit keine Archive benutzen, auch das Einschalten von Taschenrechner oder gesundem Menschenverstand ist untersagt. Der "Tagesspiegel", der sich streng an diese Grundregeln hält, konnte jetzt einmal mehr beispielhaft demonstrieren, wie aus dieser liebevollen Manufaktum-Nachrichtenmaschine wunderbare Schlagzeilen entstehen können. Schreckliches weiß das Hauptstadtblatt über die zuletzt bedrohliche Lage an der Front der rechtsradikalen, rechtsextremen und rechtsextremistischen Straftaten zu berichten. "In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben Neonazis und andere rechts motivierte Kriminelle bereits mindestens 2820 einschlägige Straftaten verübt", heißt es in einem Beitrag, der auf einer Auskunft des Bundesinnenministeriums auf die seit Jahren monatliche gestellte Anfrage der Linksparteipolitikerin Petra Pau beruht.

2820 Straftaten also. In nur drei Monaten. Kenner wissen, dass es schlecht um die baldige Errichtung des 3. oder 4. Reiches stehen muss, wenn die im Zusammenhang mit der Berichterstattung über "rechte Straftaten" (Angela Merkel) über Jahre hinweg zwingend vorgeschriebene Standard-Fügung "neue Rekorde" nicht im Text vorkommt. Hier fehlt sie - und siehe da: 2820 Straftaten hochgerechnet auf zwölf Monate wären in einem ganzen Jahr 11.280! Mithin sagenhafte 8200 weniger als noch 2009, als die Behörden 19.468 Fälle melden konnten. Auch das waren damals schon 4,7 Prozent weniger als noch 2008.

Was ist nur mit unseren Rechten los? Der Trend ist eindeutig, die Tendenz selbst mit Beschwörungen vom Bingobrett des Alarm-Journalismus nicht mehr zu übertünchen. Die "rechte Gefahr" (Merkel) schwächelt, der "braune Sumpf" (Holger Hövelmann) scheint in sich selbst zu versinken. Diesmal droht gleich ein Einbruch bei den Fallzahlen um satte 43 Prozent - und das, obwohl als "rechte Straftat" inzwischen auch zählt, wenn ein Fünfjähriger nach einem Indien-Urlaub versucht, eines der dort gebräuchlichen Sonnenrad-Ornamente nachzuzeichnen. Bei den gefürchteten "rechten Gewalttaten" sieht es nicht besser aus: 126 stehen in den ersten drei Monaten zu Buche - aufs Jahr hochgerechnet ergäbe sich eine Gesamtanzahl von 504. Nachdem das Vorjahr bereits einen Rückgang von 682 auf 624 Gewalttaten Rechter brachte, droht nun ein Rutsch bis auf die magische Marke von 500.

Heulen und Zähneklappern bei vielen gutgemeinten und prima durchfinanzierten Projektwerkstätten zur Reintegration Rechter, Rechtsradikaler, Rechtsextremer und Rechtsextremisten. Die Papiere mit den dramatisch zurückgegangenen Zahlen lägen dem Tagesspiegel vor, heißt es, eine Lösung für die erschütternde Statistik aber gibt es nicht. Alle Angaben seien vorläufiger Natur, man hoffe, dass die Polizei noch "viele Fälle nachmeldet", schreiben die Rechtsreporter. Bisher sei "ein Vergleich mit den Werten aus den vorangegangenen Jahren schwierig".

Nicht mal mit den vorläufigen Zahlen mag man da noch vergleichen, denn auch die geben kaum Trost und keine Hoffnung auf neue "Rekorde". 3273 rechte Taten waren es vorläufig bis Ende März 2009, stolze 3364 noch im Jahr 2008. So steht es bei Petra Pau. Aber natürlich, Recherchen im sogenannten Internet, die dem Leser bei der Einordnung von angeführten Zahlen und Fakten helfen könnten, sind echten Manufaktum-Journalisten selbstverständlich auch verboten.

Zuwachs bei rechten Taten hier bei Burks

6 Kommentare:

nwr hat gesagt…

Dunkelziffer ... ich sage nur: Dunkelziffer! Die steigt statistisch gesehen jedes Jahr um mehrere Hundert Prozent!

apollinaris hat gesagt…

Man müsste den Kampf-gegen-Rechts-Protagonisten mal einen Dunkelfeldforscher an die Hand geben. Meistens hat es ja nur für ein Politologiestudium gereicht. Oder - einfacher - den Kampf gegen Rechts einfach auf die politische Mitte ausdehnen.

ppq hat gesagt…

ein ganz dunkles kapitel, das mit der dunkelziffer

ich hoffe, der zensus schafft da jetzt bald aufschluß drüber

Volker hat gesagt…

Wenn wir gerade bei Alarmjournalismus sind ...
Wustn Se schon, was die Deutschen so alles wegwerfen?

"Deutsche werfen jährlich 20 Millionen Tonnen Lebensmittel weg"
bringt bei google 376 Treffer.

Ich hab die Zahl mal schnell ins Excel geschrieben. Macht 668g pro Tag und Nase. Unsere Familie wirft jeden Tag 2,7kg Lebensmittel weg.

Das klingt erst mal komisch, muss aber stimmen.
Die regierungsoffiziellen Zahlen für die Rechte Gewalt, Gewalt gegen Frauen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Faschismus in der Mitte der Gesellschaft stimmen ja auch.

ppq hat gesagt…

das schöne an der meldung mit den 20 mio ist aber, dass sie jetzt, im mai, nochmal so toll läuft. original stammt die ja aus dem januar, da ging sie schonmal fröhlich und ungeprüft rum. jetzt hat sie das zweite leben. glückwunsch den erfindern!

Volker hat gesagt…

Es ist nicht zu fassen.
Erst ein Vierteljahr her und schon aus der Denkblase gelöscht?
Offenbar stumpft man im Alter ab. Eingebrannt ins Archiv werden nur die ganz tollen Ereignisse. Vermutlich waren das im Januar zu wenig Emp.