Montag, 18. Januar 2021

150 Jahre Deutschland: Kein Reich komme

Von Gartenmauern begrenzt: Das Deutsche Reich ist heute für die einen nie gewesen, für die anderen aber immer noch da.

Auf diese eine einzige und treudeutsche Art ist dieses Deutschland schon einzigartig. 150 Jahre alt wird der deutsche Nationalstaat heute, anderthalb Jahrhunderte, umwölkt zumeist, aber auch nach Ansicht der höchsten Repräsentanten seiner derzeitigen Inkarnation doch am vorläufigen Ende mit gutem, glücklichen Ausgang. Doch keine Feier, nicht mit und nicht mit ohne Steinmeier, Merkel oder irgendwem sonst. Wo die Franzosen ihre Paraden abhalten, die Russen das Imperium feiern und die Amerikaner sowieso auch in unrunden Jahren einen Moment der Gemeinsamkeit begehen, herrscht in der verspäteten Nation winterliches Schweigen. Keine Blumen. Kein Kuchen, keine Parade. Und dass insgeheim Gebäck gereicht werden wird im Kanzleramt oder im Schloss Bellevue, in dem Kaiser Wilhelm II. seinen Kindern einst Privatunterricht zugedeihen ließ, ist auch nicht zu erwarten.  

Angestrengtes Vergessen

Deutschland versucht angestrengt zu vergessen, dass Wilhelm I. am 18. Januar 1871 zum deutschen Kaiser proklamiert wurde und damit begann, was nach Forschungsergebnissen des Magazins "Der Spiegel" "zu einer Geschichte voller Katastrophen und Irrtümer" wurde. Hier gab es keine Erfindungen, keinen Fortschritt, kein Herauswachsen der Nation aus der inneren Gefangenheit, keine lange, schmerzhafte Geburt der Demokratie, jedenfalls keine, die auf jenen Proklamationsakt im Spiegelsaal von Versailles zurückgeht. Deutschland, völkerrechtlich unbestritten immer noch derselbe Staat wie damals, beginnt nach eigener Zeitrechnung erst 1949, womöglich auch in der Weimarer Republik, aus der dann bei Erinnerungsreden aber stets schnell vorgespult werden muss. 

Was vorher war, war nie, denn "ein autoritärer Machtstaat taugt nicht als Vorbild", wie es im Deutschlandfunk heißt. Nun ist Geschichte von Haus aus kein Regal nichts, aus dem sich aussuchen lässt, was sich einer zurechnen lassen muss. Was immer eine Nation tut, die sich für eine hält, muss sie sich zurechnen lassen: Frankreich seine Eroberungskriege, die Türkei ihren Völkermord in Armenien, Russland Stalins Terror, die USA die Sklaverei und Vietnam, Belgien die Todeskolonie seines Königs im Kongo, Großbritannien sein weltweit etabliertes Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem und Spanien die Ermordung von 70 Prozent der Bevölkerung Mittelamerikas. Nichts davon lässt sich ausradieren, nicht ist vergessen, auch wenn der Täter plötzlich behauptet, er habe nichts mit dem Täter zu tun, weil er dessen Geburtstag ja - schaut alle her! - ja schließlich gar nicht feiere.

Der Bundespräsident bei den "Sternen des Sports"

Wenn in Paris heutzutage in einem bizarren Spektakel Panzer und Kanonen auffahren, dann ist ist Bastille Day, der Tag, der "alle Franzosen um den Altar des Vaterlandes versammeln soll", wie es offiziell heißt. Denn an jenem Tag jährt sich das Fest der Föderation vom 14. Juli 1790, für die Franzosen gleichbedeutend mit nationaler Versöhnung. Wenn in Deutschland der 150. Jahrestag der Nationwerdung durch das Inkrafttreten einer gemeinsamen Verfassung der deutschen Südstaaten und der Mitglieder des Norddeutschen Bundes ansteht, dann ist der Bundespräsident gefragt.  Zur Feier des Tages - wie oft wird man schon 150! - tritt Walter Steinmeier heute bei derPreisverleihung "Sterne des Sports in Gold 2020".

Kein Reich komme, keine Flagge geschehe. Eine Feier findet im kleinen Kreise dennoch statt. In Sigmaringen stoßen die Hohenzollern an, verdeckt nur auf die Kaiserkrönung, denn wer möchte sich schon nachsagen lassen, er sei womöglich ein Reichsbürger. „Die Geschichtsschreibung ist ein ganz wichtiger Faktor", zitiert Deutschlandfunk Kultur den Berliner Historiker Christoph Jahr. Man könne "vereinfachend, aber insgesamt doch zutreffend"  zusammenfassen, "dass in vieler Hinsicht die Geschichtsschreibung an die Stelle der Religion tritt". Das tut sie durch Schwerpunktsetzung, aber eben auch durch Auslassung: Ein Jahrestag verschwindet nicht, aber ihn nicht zu begehen, seiner nicht zu erinnern oder ihm gar zu gedenken, signalisiert Distanz zum eigenen Selbst durch demonstrative Traurigkeit darüber, dass "das eine Epoche war, die zur Vorgeschichte des heutigen Deutschlands gehört", wie die Historikerin Christina Morina bedauert.

Stumm in der Kulisse

Wie schön wäre alles, wenn es anders wäre? Wie prima könnte es sein, dürfte man aussuchen, welchen Teil der eigenen Biografie man behalten und an welchen man im Rückblick lieber nicht mehr erinnert werden möchte! "Wir Deutschen stehen dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber, wie den Denkmalen und Statuen aus dieser Epoche. Es scheint eine stumm gewordene Kulisse zu sein, die den meisten nichts mehr sagt“, hat Bundespräsident Walter Steinmeier kürzlich in einer seiner wegweisenden Ansprachen erläutert, warum die Erinnerung an die Entstehung des deutschen Nationalstaates heutzutage gar nicht mehr lohnt. 

Anfang der Fußlümmelei

Eines Tages ist es vielleicht wirklich nicht mehr wahr, dass damals alles begann: Die pluralistische, semipräsidentielle Demokratie der Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Bundesrepublik, die DDR, das wiedervereinte Deutschland, das Bürgerliche Gesetzbuch, das bis heute gilt, die Industrialisierung, der Wirtschaftswunderglaube und selbst der anfangs als "Fußlümmelei" bezeichnete Fußballfimmel der Deutschen.

Das neue Deutschland hat den 3. Oktober, einen frischen, von geschichtlichen Ereignissen völlig unbelasteten Tag. Kein Reichsgründungstag, kein Kaiser Geburtstag und Sedantag, sondern das Datum, an dem sich Albrecht der Bär, der Schlächter der Heveller, sich selbst zum Markgrafen von Brandenburg ernannte. Der Tag der Schlacht bei Wartenburg während der Befreiungskriege, an dem einem preußischen Korps der Übergang über die Elbe und die Bedrohung der Nordflanke der in Sachsen eingefallenen französischen Truppen Napoleon Bonapartes gelang. der Tag, an dem Preußen das Königreich Hannover annektierte. der Tag, an dem Hendrik Witbooi, Kapitän der Witbooi in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem Deutschen Reich den Krieg erklärte.

Genug Geschichte, überall, aber wenigstens keine Spur von der "Kriegsgeburt, die schließlich zu radikalem Nationalismus führte" (Deutschlandfunk). Aber eben auch keine vom langen Kampf, den abzuschüttelte, um zu dem modernen, demokratischen Rechtsstaat zu werden, der heute als integraler Teil der Europäischen Gemeinschaft immer wieder stolz zeigt, dass er kein Obrigkeitsstaat mehr sein mag. 

Wenn es ihm natürlich auch nach 150 Jahren noch sichtlich schwerfällt, diesen Wunsch im Alltag zu unterdrücken. 


5 Kommentare:

Gerry hat gesagt…

Ein Erinnern gilt zu vermeiden, denn da würden die charakterlichen Windbeutel nur schlecht abschneiden. Allein der bei der erwähnten Schlacht bei Wartenburg maßgeblich beteiligte General Yorck wiegt mehr als das komplette Verräterbundeskabinett von heute. Im Prinzip jenseits von gut und böse. Tauroggen 1813, eine deutsche Sternstunde, gilt als ein Musterbeispiel, das Richtige unter widrigen Umständen zu tun. Zugegeben, Yorck wurde schon damals von der Prominenz geschasst.

Gerry hat gesagt…

Die erwähnte Konvention von Tauroggen fand genau am 30. Dezember 1812 statt

Anonym hat gesagt…

Komme mir keiner mit zweitklassigen Kriegen und nachgeordneten Genoziden! 'Wir' Deutsche, beziehungsweise wir durch eine Verkettung von Zufällen in diesem Territorium Siedelnde, sind Numero Uno was historische Schuld und Sühne angeht! Oskar für das beste Drehbuch, Ausstattung und Soundtrack! Die anderen können mal unsere Är$che küssen!

Anonym hat gesagt…

Numero Uno was historische Schuld angeht - das darf uns niemand nehmen.

Das preußisch geprägte Deutschland ca. 1700-1945: Spartanischer Militärstaat und ständiger Unruheherd im Herzen Europas – so sehen nicht nur englische Boulevardblätter die deutsche Vergangenheit, sondern auch viele Deutsche selbst. (...)
Die Fakten sehen freilich anders aus. In seinem Standardwerk „A Study of War“ (1942, Band 1, S. 653) hat der Politikwissenschaftler Quincy Wright, unter anderem Berater des Nürnberger Chefanklägers Robert H. Jackson, alle Kriege der elf wichtigsten europäischen Mächte zwischen 1450 und 1900 untersucht. Die folgenden Zahlen geben die durchschnittliche Anzahl der Jahre pro halbem Jahrhundert im angegebenen Zeitraum wieder, in welchen sich der jeweilige Staat im Kriegszustand befand:

1. Spanien: in durchschnittlich 33 von 50 Jahren.
2. Türkei: 30,5
3. Russland: 30
4. Österreich: 27,5
5. Großbritannien: 25
6. Polen: 24,5
7. Frankreich: 23,5
8. Niederlande: 22
9. Schweden: 17,5
10. Preußen/ Deutsches Reich: 17
11. Dänemark: 11,5

Im selben (S. 628) Band wird auch der Anteil an teilgenommenen Schlachten im Zeitraum von 1480 bis 1940 wiedergegeben, wieder jeweils im Schnitt aus halbjahrhundertlichen Perioden. Demnach liegt Preußen mit Teilnahme an durchschnittlichen 23% aller Schlachten weit hinter etwa Frankreich (43%).

Der russisch-amerikanische Soziologe Pitirim Sorokin rechnete den Anteil der Jahre, in welchen die großen europäische Mächte sich seit dem elften Jahrhundert im Kriegszustand befanden, aus. An der Spitze befanden sich demnach Spanien (68%), Polen (58%), England (56%) und Frankreich (50%), einsames Schlusslicht ist Deutschland mit 28%.

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Anonym hat gesagt…

mit zweitklassigen Kriegen und nachgeordneten Genoziden ...

"Berichte über Wunder sind nicht Wunder" - Denis Diderot (1713 - 1784),
und Berichte über Genozide sind nicht Genozide ...