Sonntag, 21. Februar 2021

Im Echoraum des Krisenstabs: Die letzte Rolle Klopapier

Hass an der Hauswand: "Widerstand" fordern diese Feinde der Freiheit.

Morddrohungen im Netz, Schuldeingeständnisse im Fernsehen, chinafeindliche Verschwörungstheorien zu Laborunfällen, Grenzschließungen ohne europäische Gruppenabstimmung und immer mehr Impfstoffbestellungen, obwohl schon vor Monaten mehr als ausreichend genug bestellt wurde - nicht nur viele kleine Gewerbetreibende sind im zwölften Corona-Monat im emotionalen Ausnahmezustand. Der Kultur- und Medienpsychologe Hans Achtelbuscher, der sich unter anderem mit normativen und empirischen Grundlagen der Zulässigkeit von Coronakritik beschäftigt, erläutert im PPQ.li-Interview, wie es zu solchen Ausfallerscheinungen im gesellschaftlichen Gespräch kommen kann.  

PPQ: Herr Achtelbuscher, sind die aktuellen Umfallreaktionen von einzelnen Politikerinnen, wie sie etwa bei Ursula von der Leyen und Angela Merkel zu sehen sind, ein Phänomen, das durch die schiefgegangenen Corona-Eindämmungsmaßnahmen ausgelöst wurde? Oder reißt da nach so vielen Monaten Ausnahmezustand einfach eine Geduldsfaden?

Achtelbuscher: Die Corona-Zahlen können derlei Übersprungshandlungen sicherlich verstärken, weil Politiker, die ja auch unter einem eingeschränkten Begegnungsradius leiden, seit Monaten schon keinen Kontrollinstanzen mehr haben, die ihnen das Gefühl geben, sie müssten für irgendetwas Rechenschaft ablegen. Im Moment agieren ja alle im luftleeren Raum, von den Medien eher gewundert und freundlich begleitet als kritisiert. Dadurch fährt natürlich auch ein Vollprofi im Emotionsmanagement wie Frau Leyen ohne Lenker und Bremse auf einem emotionalen Gleis, das nur eine Richtung kennt. Stellt sich dann heraus, das die falsch war, sind die Verantwortlichen sicher selbst oft ganz ehrlich überrascht, weil sie damit überhaupt rechnen.

PPQ: Aber dass es dann zu solchen radikalen Wendungen kommt, jäh geradezu, dass man sich selbst öffentlich durch ein schuld- oder Fehlereingeständnis zum Abschuss freigibt, das ist eher ungewöhnlich?

Achtelbuscher: Eher nicht. Wir kennen das aus der vergleichenden Trump- und AfD-Forschung und auch aus anderen Teilbereichen der berichterstatteten Realität. Das Schuldgeständnis dient nicht so sehr dem Einräumen von Schuld, sondern es fungiert als Vorwegnahme einer Empörungswelle, der man damit die Spitze nehmen will. Das Motto ist dabei, sich lieber selbst beschuldigen als beschuldigt zu werden. Herr Spahn hat das am fingerfertigsten vorgeführt, als er festlegte, dass wir alle uns nach der Krise viel zu verzeihen haben würden.

PPQ: Wie meinen Sie das?

Achtelbuscher: Nun, sicher wird Herr Spahn mir nach Corona nichts zu verzeihen haben. Er kennt mich ja nicht einmal, nehme ich an. Aber indem er die Figur wählt, dass wir uns vergeben müssten, legt er mich darauf fest, dass ich ihm vergebe. Das ist aus medienpsychologischer Sicht meisterhaft gearbeitet. Ebenso meisterhaft übrigens wie die gezielte Durchstecherei von Impfstoffpreisen, mit der man Medien elegant instrumentalisiert, einen selbst in Ruhe zu lassen, um anderswo nach Ungeheuerlichkeiten zu suchen.

PPQ: Und nichts Neues, sagen Sie. Es handelt sich also aus wissenschaftlicher Sicht nicht um  Aufwallungen, in denen bei Fehlern ertappte Politiker emotional reagieren und quasi ihr Inneres nach außen kehren?

Achtelbuscher: Keinesfalls, gerade das eben nicht.Sie müssen sich vorstellen, dass das Schuldeingeständnis, um eine taktische Position zu verbessern, zum politischen Handwerkszeug gehört. Das ist ganz normales Arbeitsmaterial, zumal es gut durch die sozialen Medien verstärkt werden kann. Gefühle zeigen, das geht viral, Schwäche zeigen in Maßen auch, bereuen sowieso. Dieses Resonanzphänomen der schnellen und heftigen Reaktion, das sich in schnell aufbrandenden Wellen starker Emotionen und Hassgefühlen äußert, nennen wir in der Forschung am menschlichen Hirn leere Resonanzwelle. Natürlich bleiben auf Dauer Schäden am Gemeinwesen, dass eines Tages auch echte Emotion nur noch als Schauspiel sieht. Aber für den Moment ist es nützlich.

PPQ: Also meinen Sie, dass Corona den Effekt hat, dass Politiker allein zu Hause sitzen, Zahlen und Statistiken wälzen, in den Medien hören, wie gut sie alles managen und dadurch zur Auffassung gelangen, das entspräche der Wahrheit?

Achtelbuscher: Zugespitzt könnte man das so formulieren. Es spielen natürlich auch eigene Präpositionen für Angststörungen hinein. Niemand will der sein, dessen Eintrag in Wikipedia mit der Zeile endet, starben im letzten Jahr ihrer Kanzlerschaft drei Millionen Bürger. Und sobald man gemerkt hat, dass man im Grunde machen kann, was man will, macht man das eben auch.

PPQ: Aber die demokratischen Strukturen und Institutionen sollen das doch gerade verhindern.

Achtelbuscher: Deshalb werden sie ja als erste außer Kraft gesetzt. Von dort aus baut sich eine  heftige emotionale Welle auf, weil sie ja durchweg Menschen mit gleichgerichtetem Interesse treffen, mit denen zusammen sie alle Entscheidungen ohne jedes Korrektiv exekutieren können. Jeder will im Geschichtsbuch gut dastehen, am besten als Retter von Leben, jeder will wiedergewählt werden, jeder will seine Sache gut machen, um in der Partei weiter voranzukommen. Wir Soziologier*innen nennen das Abstrusformation: Diese Dämpferfaktoren des Alltags, die fallen weg, sie hören als Echo immer nur die eigene Stimme. Naja, und ab und an die von Karl Lauterbach. (lacht)

PPQ: Das klingt wie ein Teufelskreis. Gibt es denn da gar keinen Ausweg?

Achtelbuscher: Nun ja, jetzt klagen ja viele Menschen, sie seien in ihrem Bewegungs- und Begegnungsradius stark eingeschränkt. Aber schauen Sie sich mal an, was andere in dieser Situation schultern müssen. Unsere Kanzlerin war, so zumindest vermute ich aufgrund ihrer öffentlichen Auftritte, zum letzten Mal vor einem Jahr im Freien, damals, als sie die Rolle Klopapier gekauft hat, vielleicht erinnern Sie sich. Heute wissen wir nicht mehr, woher sie seitdem Toilettenpapier bekommen hat. Aber sie weiß natürlich auch nicht mehr, was da draußen läuft, wo die Krise ins zweite Jahr geht.

PPQ: Führt das, in Kombination mit politischen Entscheidungen, die allenfalls in Talkshows rituell hinterfragt werden, für einen Zustand, in dem man einfach sicher sein muss, immer das Richtige zur richtigen zeit zu tun?

Achtelbuscher: Das bleibt zu untersuchen, scheint mir aber naheliegend. Ich glaube, dass es eine starke Korrelation gibt zwischen der Qualität politischer Entscheidungen und der Möglichkeit, sie selbst gut zu finden, weil man sie selbst getroffen hat. Das, was wir in der Medienpsychologie Weltbeziehung nennen, also die Beziehung des einzelnen Entscheidungsträgers zur Welt, ist momentan komplett heruntergefahren. Nicht einmal mehr ein Nadelöhr ist da, jenseits dessen, was man als Nachrichten auf seinem Smartphone darüber bekommt, wie gut die letzte Pressemitteilung angekommen ist.

PPQ: Sie sagen ja, dass sich die Ohnmacht der Geworfenheit in nicht selbstgewählte Verhältnisse wie einen Lockdown oder ein reiseverbot bei vielen einfachen Bürger*innen in Form von Zorn und Wut äußert. Wohin lenkt denn aber das Politiker*in seine zu sublimierenden Gefühle?

Achtelbuscher: Nun, nehmen Sie den Herrn Lauterbach, ich habe ihn erwähnt. Obwohl ich da nur eine Ferndiagnose stellen kann, nehme ich doch stark an, dass er in eine Hyperaktivität geflüchtet ist, er lebt in seiner Binnenvorstellung als menschlicher Alarmton. Es ist ja nicht das Virus, das ihn antreibt, sondern die Furcht davor, vergessen zu werden, weil das Virus größer ist als er selbst. 

PPQ: Aus dem Alltagserleben heraus ernten solche Menschen doch aber Mitleid und Spott als Anerkennung dafür, dass sie warnen ohne jemals müde zu werden.

Achtelbuscher: Die Frage ist aber, ob ihnen das überhaupt etwas bedeutet. Das würde ich nicht unterschreiben, denn all diese Auftritte nun berechtigt sind oder nicht, ob sie Wirkung haben oder keine, spielt im inneren Erleben des Ausführenden nur eine untergeordnete Rolle. Es ist ein Zwang, rauszugehen, zu sprechen und zu mahnen, unabhängig vom Sinn. 

PPQ: Das Podium ist aber auch immer offen, die Pandemie hat wie zuvor das Klima ihre Darsteller gefunden. Wie funktioniert so etwas?

Achtelbuscher: Im Kern sorgen dafür zwei Faktoren: Die Auswahl ist begrenzt, denn wo wenig gewusst wird, werden die Klügeren schweigen, sich mit Ratschlägen zurückhalten und abwarten. Und: Die Weltbeziehung in der Pandemie ist ganz stark zu einer politischen geworden - um die Gesamterzählung einfach und verständlich zu halten, bekommt nicht jeder Sprechrecht, das gilt noch viel mehr als vor der Pandemie. Das ist natürlich auch Folge der politischen Entscheidungen, die es nicht vertragen, kaputtkritisiert zu werden. Kollegen von mir bezeichnen das als Welt-Reichweitenverkürzung. Doch jeder zweite Deutsche toleriert die Besetzung der Pandemiebühne mit einer überschaubaren Anzahl von Akteuren, sogar der Umstand, dass seit dem Abgang von Donald Trump entgegen jeder Dramaturgie gar kein Bösewicht, kein Finsterling oder Superspreader mehr besetzt ist, wird klaglos akzeptiert.

PPQ: Wie erklären Sie das?

Achtelbuscher: Die ganze Angelegenheit wäre sonst zu komplex. Verschwörungstheorien, wie sie vor Corona ein Problem waren, müssen jetzt so vielschichtig erzählt werden, dass kaum noch jemand mitkommt. Chips im Serum, das aber wirkt nicht, aber tödlich, aber nur von Astrazenca, aber zu teuer, aber zu wenig, aber zu billig. Da kommt niemand mehr mit, schon gar nicht die Anhängerschaft von derlei Irrglauben. Das sieht man unter anderem ja auch daran, dass die Zustimmung zur Regierungspolitik in Corona-Zeiten Rekordwerte erreicht hat und auch jetzt noch ziemlich hoch ist . die Menschen lieben einfach Stories mit einer einfachen Besetzungsliste.

PPQ: Aber sie lieben nicht diese massiven Einschränkungen, die Wohlstandsverluste, die neuen Schulden. Also ist es nicht sonderlich überraschend, dass sie anfangen, zu grummeln und zu zweifeln?

Achtelbuscher:  Am Ende spielt es keine Rolle. Aus der Geschichte wissen wir sicher, dass die Mehrheit immer mitmacht, überall, das ist kein deutsches Phänomen. Wenn Sie jetzt die Pandemiebearbeitung hierzulande nehmen, dann stellen Sie fest, dass das Virus eine proktologische Verunsicherung streut: Es könnte Anfang oder Ende vom Weltuntergang sein oder aber der einer traumhaften Börsenstory, wenn ab jetzt jedes Jahr geimpft werden muss. Die Regierung redet nicht darüber, hat aber ganz früh Aktien gekauft. Bin ich jetzt zu spät dran? Oder noch einer ganz vorn?

PPQ: Eine Situation wie auf dem Zehn-Meter-Turm kurz vor dem Sprung?

Achtelbuscher: Nur weiß man nicht, ist der zehn Meter hoch? 20 oder 100?  Man kann ja nun grundsätzlich keinem Fremden mehr trauen, denn jedes Treffen, jede Berührung kann einen umbringen. Sich eine Maske von jemandem borgen? Undenkbar! Viele haben Angst vor sich selbst, Angst davor, sich anzustecken oder angesteckt zu werden. Wenn ich nicht mal mir und meinem eigenen Atem trauen kann, wieso soll ich dem Lauterbach trauen? Einem Mann, der sich nicht davor scheut, in der Impfreihenfolge nach vorn zu drängeln? Und aus einem Impfeinsatz eine PR-Aktion macht? Das Gute daran ist, dass es allen so geht. Die Pandemie stiftet global ein Gemeinschaftsgefühl, das die bis heute nur ökonomisch vollzogene Globalisierung emotional nachvollzieht. 

PPQ: Hilft das denn, die coronawunde Gesellschaft zu heilen? 

Achtelbuscher: Das ist eine schwierige Frage. Denn es sind ja nicht nur die Gewalttätigen und die Verschwörungsideologen, die sagen, „wenn ich den Lauterbach sehe, geht mir das Messer in der Tasche auf" oder „wenn ich die von der Leyen höre, drehe ich dem Fernsehen sofort den Ton ab“. Derlei Reaktionen beobachte ich auch an mir selbst -  ich kann zum Beispiel weder die Stimme von Frau Baerbock noch die von Frau Schwesig hören, das erinnert ich immer an eine Schultafel, über die Fingernägel kratzen. Sicher trägt Corona eine ganze Menge zu diesen Empfindungen bei, für die ich nichts kann. 

Hans Achtelbuscher lehrt und forscht am An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung, der 53-Jährige ist Experte für Phänomene wie das Themensterben in den deutschen Medien, Sprachregelungsmechanismen und dem Einfluss  subkutaner Wünsche auf die berichterstattete Realität.


1 Kommentar:

Hase, Du bleibst hier ... hat gesagt…

Weltklasse ! Und der Sonntag beginnt mit einem breiten Grinsen. Danke