Samstag, 29. Juli 2023

Ausreden, Urlaub, Klima: So stemmt sich Deutschland gegen das Wort Wirtschaftskrise

Die deutsche Wirtschaft wankt in schwerer See, bisher aber ist es Politik, Behörden und BWHF gelungen, das Wort "Wirtschaftskrise" vollkommen zu vermeiden.

Es begann wie in Zeitlupe, angetrieben von russischen Trolls und einheimischen Unken. Die Bundesregierung aber behielt kühlen Kopf, mit einer klaren Strategie aus Preisbremsen, Betriebsferien und beruhigenden Mitteilungen über ein nahendes Wirtschaftswunder verhinderte sie nicht nur den von linken und rechten Extremisten angekündigten heißen Herbst. Sondern auch die Versuche, das Modell Deutschland schlechtzureden und Zweifel zu wecken am Kurs der großen Transformation, der vielleicht in den nächsten zehn, 20 oder 40 Jahren die eine oder andere Beschwernis für viele bringen wird. Danach aber ein Vorbild zu sein verspricht für alle anderen Staaten der Welt, die auf der Suche sind nach einem klimagerechten Wachstumspfad.

Die Zahlen, die der Internationale Währungsfonds, die "deutsche Wirtschaftsforscher" (Tagesschau) und das Ifo-Institut mit seinem Geschäftsklimaindex vorgelegt haben, sprechen dafür, dass ein gutes Stück der Strecke bereits zurückgelegt ist. Das dritte Quartal schon ist Deutschlands Wirtschaft stabil im Niedergang. Firmen wandern ab, die Zahl der Geschäftsaufgaben steigt. Degrowth, jene grüne Wirtschaftsstrategie, die mehr Bruttosozialglück bei weniger Anstrengung verspricht, greift Raum, Fachkräfte verlassen das Land und entlasten damit seine CO2-Bilanz, auch ohne direkten Kriegseintritt hat es Deutschland geschafft, umweltbelastende Wirtschaftstätigkeiten schneller zurückzufahren als selbst Russland und die Ukraine.

Früher wäre dergleichen zweifellos als "Wirtschaftskrise" denunziert worden. Heute aber gibt es keinen Grund, diesen alte, zuletzt im Verlauf der Finanzkrise vor 15 Jahren verwendeten Begriff wieder auszugraben. Rainald Schawidow, als Chef der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin höchster Sprachaufseher Deutschlands und zudem wichtiger Berater aller Ministerien und Parteien, verweist allerdings im PPQ-Interview darauf, welche Mühe es sein Haus doch immer noch kostet, Medien davon abzuhalten, einfachen, über viele Jahre antrainierten Reflexen zu folgen und Deutschland schlechtzureden. "Wir haben ja nicht die Möglichkeit, direkt einzugreifen, wenn sich jemand im Wort vergreift", sagt der Vater so vieler demokratiebelebender Begriffe wie "Protestterroristinnen", "Rettungsschirm", "Energiewende",  "Schulden-" und "Mietpreisbremse", "Stromautobahnen" oder "Wachstumspakt".

PPQ: Herr Schawidow, Bundesklimaminister Robert Habeck hat jetzt davor gewarnt, die schrumpfende Wirtschaft schlechtzureden und sich vom Pessimismus des IWF und anderer großer Adressen anstecken zu lassen. Liegt er richtig, wenn dazu auffordert, bestimmte Entwicklungen im Land nicht so ernst zu nehmen?

Schawidow: Unbedingt. Wir haben das lange mit den Ministerien besprochen, denn die Zahlen sind ja nun schon seit Monaten beängstigend. Bisher waren wir nicht gut, sondern eher schlecht, nun haben wir die rote Laterne unter den G7-Staaten und stehen selbst verglichen mit Russland auf den ersten Blick ganz schlecht da. Das ist dann für uns in der BWHF ein Zeichen, dass wir schauen müssen, Erklärungsmuster zu finden, die das alles in einem milden Licht erscheinen lassen, knackige, kompakte und einprägsame Begriffe also für eine konsternierte Gesellschaft, die traditionell dazu tendiert, sich schon bei kleinen Problemen am Abgrund und vor dem Untergang zu sehen.

PPQ: Für Sie in der BWHF kommt das also alles nicht unerwartet. Dennoch scheint es so, als hätten ihre Worthülsendreher und Propagandapoeten der Bundesregierung bislang nichts geliefert, was zur Beruhigung der Menschen beitragen kann.

Schawidow: Die Beobachtung scheint nur zutreffend zu sein. Allerdings hat Robert Habeck auf unseren Vorschlag hin zur fürchterlichen Prognose des IWF betont, dass es gar keinen Grund für diese berüchtigte German Angst gebe, obwohl die Vorhersagen der Währungshüter nahelegen, dass Deutschland im Begriff ist, sich vom kranken Mann Europas zu einem Komapatienten zu entwickeln. Wir haben dem Ministerium wegen dieser katastrophalen Diagnose geraten sachlich zu bleiben, aber inhaltlich auf Abstand. Mit seiner Aussage, die Daten seien "natürlich nicht gut" hat sich Robert Habeck ganz genau an unser Drehbuch gehalten. Unser im Anschluss umgesetzter Vorschlag, die irrationale German Angst selbst ins Spiel zu bringen, sorgt zudem dafür, dass die Fakten, die die Wirtschaftsforscher vorbringen, nun eher wirken wie böse Unterstellungen ohne Sachgrund.

PPQ: Dass Sie der nun seit fast einem Jahr andauernden Wirtschaftskrise immer noch keinen Namen gegeben haben, ist Zufall oder gehört es zur Strategie?

Schawidow: Es ist im Grunde genommen der Kern unserer Strategie. Sehen Sie, was immer den Menschen an  Themen beschäftigt, es braucht einen Namen. Ob das jetzt ein ausgebüxtes Tier ist, ein Naturphänomen oder eine Künstlerfigur - ohne Benennung existiert es nicht. Wenn Sie nur mal einige Jahre zurückdenken, damals, als wir die Staatsschuldenkrise hatten, als in Deutschland reihenweise Landesbanken umkippten und Politiker hätten einräumen müssen, dass sie bis zum Ohrläppchen in milliardenschweren Spekulationen steckten... was haben wir damals gemacht? Wir haben Herrn Steinbrück vorgeschlagen, die Schwierigkeiten einen "amerikanische Krise" zu nennen. Und als es nach Europa schwappte, haben den Namen "Finanzkrise" eingeführt, später dann, als sich nicht mehr leugnen ließ, dass es der Euro war, der seiner vielen Geburtsfehler kippelte, haben wie "Griechenlandkrise" daraus gemacht.

PPQ: Mit großen Erfolg, denn an Staatsschuldenkrise denkt heute niemand mehr, wenn er sich an die Stunden voll hektischer Krisendiplomatie erinnert...

Schawidow: Richtig. Und das ist auch der Grund, warum wir dem Kanzleramt und den Ministerien auf deren Anfrage in Sachen Worthülse für die Wirtschaftskrise mitgeteilt haben, dass wir eine Wortschaftskrise haben (lacht). Wir wollen es angesichts der Wirtschaftskrise einfach so lange wie irgend möglich vermeiden, dass der Begriff Wirtschaftskrise benutzt wird, weil das alles nur noch schlimmer machen würde.  Unsere Empfehlung war, die alte Worthülse vom "Null-Wachstum" wieder auszugraben. Das ist gelungen, die Leitmedien haben das begierig aufgegriffen.

PPQ: Absolut, die Taktik scheint aufzugehen. Das ganze Land beschäftigt sich mit Waldbränden auf Rhodos, Regenfällen in Italien, mit Brandmauern, der weiteren Durchsetzung der modernen Gendersprache und den kommenden neuen europäischen Regeln zum Ausbau der Bürokratisierung.

Schwawidow: Ja, und ich muss sagen, dass mich das sehr stolz macht auf mein Team. Sie müssen bedenken, wir sind Worthülsendreher, Propagandapoeten, Politdichter, Plakatwortsucher. Unser Bestreben ist es immer, mitreißende neue Begriffe wie zuletzt ,Brandmauer' zu erfinden oder intellektuell herausfordernde Weltbeschreibungen wie das rechtswidrige Verfassungsrecht in Israel. Umso schwerer fällt es meinen Leuten, die Füße stillzuhalten und die alarmierende Vorhersage eines erneut kräftig schrumpfenden Bruttoinlandsprodukt nicht sofort in eine relativierende, optimistisch stimmende Worthülse zu verpacken.

PPQ: Dem Ding keinen Namen zu geben, verhindert sozusagen, dass das Ding existiert?

Schawidow: So ist das unseren Studien zufolge. Schauen Sie sich um, Deutschland steckt mitten in einer tiefen und langandauernden Wirtschaftskrise, das Land leidet mehr als jedes andere unter dem schwachen Welthandel, den hohen Zinsen, den hohen Energiepreisen, dem Fachkräftemangel, der Überalterung, den Berichten über extreme Wetter-Ereignisse in anderen Ländern, dem Streit in der Ampel und der Unfähigkeit der EU, schnell und entschieden auf Angriffe wie den Inflation Reduction Act der US-Regierung zu reagieren. Aber: Wir sprechen über die Zusammenarbeit mit rechts, über Friedrich Merz und ob er Kanzlerkandidat wird, über Sexpraktiken in der Popbranche, über den Vorwahlkampf der Republikaner in den USA, über Niger und Ufos  und das vermutete Klima Mitte des Jahrhunderts. Für uns als BWHF ist das natürlich ein riesiger Erfolg.

PPQ: Woran machen Sie den fest?

Schawidow: Ganz einfach: Niemand, überhaupt niemand verwendet den Begriff, den wir nicht verwendet sehen wollen, um nicht den Falschen frisches Wasser auf die Mühlen zu leiten. Wir haben es geschafft, zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, das möchte ich betonen, Politik, Parteien, Behörden, Tausende Medienarbeiter bis hin zu den privatkapitalistischen Medienheuschrecken und den Rest der Bevölkerung einzuschwören auf einen Krisenkurs, der die bedrohlichen Lage nicht verlacht und nicht ernst nimmt, sie aber auch nicht mit irgendwelchen beschönigenden Begriffen belegt. Sondern einfach ignoriert.


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