Montag, 22. April 2024

EU verliert den Bauernkrieg: Hofknicks vor dem Mistgabelmob

Die EU knickt vor der mächtigen Bauernlobby ein und gestattet dem motorisierten Mistgabelmob ein weiterwirtschaften nach Gutsherrenart.

Jacke wie Hose, aber das Hemd näher als der Rock. Monatelang gab es von Brüssel und Straßburg aus gesehen keine andere Chance, die Welt vor dem Klima zu retten als festere Zügel für die ausufernde Landwirtschaft, versehen mit strengen Regeln für Bauern, die ihre Höfe immer noch nicht schließen wollten. Dem "motorisierten Mistgabelmob" (Spiegel), der im Februar daranging, die gesamte Republik zu destabilisieren, konnte nicht nachgegeben werden, sollten künftige Generationen noch eine Zukunft haben. Jeder kleine Finger, den Kommission und EU-Parlament den Landwirten gereicht hätten, wäre zu einer ganzen Hand geworden, fest im Griff der Traktor-Anarchie.

Eine Lageanalyse von PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl

Rückzieher vor den Schicksalswahlen

Svenja Prantl ist selbst Lebensmittelnutzerin.
In solchen Augenblicken, das wissen sie nirgendwo besser als in den europäischen Hauptstädten, gilt es Ruhe zu bewahren und erst einmal Zeit vergehen zu lassen. Unnachgiebig nach außen, unter Vier aber und mit Blick auf die anstehenden Schicksalswahlen zum EU-Parlament durchaus bereit, dort nachzuschärfen, wo mit "Zugeständnissen an die Landwirtschaft" (DPA) öffentlich etwas zu gewinnen sein könnte. So wird es jetzt auch gemacht: In einem "Eilverfahren" werden über Jahre hinweg von einer gesamteuropäischen Bürokratie erdachte und in langwierigen Entscheidungsprozessen auf allen EU-Ebenen beschlossene neue Umweltauflagen und weiter ausufernde Kontrollen rückabgewickelt. 

Eine neue Europa-Geschwindigkeit, ungewohnt rasant, wenn auch nur beim Tempo der Ankündigungen. Seit den ersten Signalen aufs Land, dass die EU-Kommission bereit sei, einzuknicken, sind fast drei Monate vergangen. Inzwischen steht als Zeitpunkt für die Abstimmung über den Vollzug der Rückabwicklung von Klima- und Umweltschutzauflagen das Ende des Monats, die letzte Gelegenheit, bei der das Parlament bis zu den EU-Wahlen im Juni noch einmal zusammenkommt.

Ohne sachliche Begründung

Sachlich begründet werden die plötzlichen Lockerungen nicht, aufgrund der drängenden Zeit verzichtet das Parlament auch darauf, die von der EU-Kommission ohne Erläuterung der Notwendigkeit vorgeschlagenen Ausnahmen von Umweltauflagen und Kontrollen wie sonst üblich in allerlei Ausschussberatungen zu drehen und zu wenden. Die Macht der Straße reicht auf einmal vollkommen aus, die Abläufe in Brüssel und Straßburg zu beschleunigen, den Klimaschutz abzuwickeln und die dringend notwendigen Kontrollen der Behörden vor Ort in den Ställen aufzuheben. Weder sollen die von EU-Experten erdachten Vorgaben zur Fruchtfolge strikter beaufsichtigt werden noch wird wie geplant dafür gesorgt, dass ein vorgeschriebener Anteil an jedem Meter Ackerland brach liegen bliebt.

Das Klima verliert, die Profitgier der zumeist konservativ ausgerichteten Bauern siegt. Verheerend für die Zukunft der Welt, verheerend aber vor allem für das europäische Gemeinwesen. Das Signal, das die Vorschläge der EU-Kommission und das umstandslose Einknicken des Parlaments aussendet, ist kaum misszuverstehen: Wer nur laut genug schreit, große Maschinen zur Verfügung hat, um Straßen und Kreuzungen zu blockieren, und mit Hilfe seiner Lobbyverbände direkt auf Abgeordnete einwirken kann, für den ist die lange als heilige Kuh der Union geltende Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) nur Knetmasse, sind der welthistorisch einmalige Green Deal, die Next Generation EU, die große Transformation und die Biodiversität ein Spielzeug, keine verpflichtende Aufgabe.

Gefährlicher Präzedenzfall

Die Aufgabe der ursprünglich geplanten festeren Zügel für Landwirte zugunsten einer "nötigen Flexibilität" wird künftig zweifelsfrei neue Klimaereignisse wie Dürren und Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Hitzesommer und geopolitische Krisen provozieren. Die andere Seite der Medaille aber ist, dass Rat und Parlament mit ihrem Einknicken vor den Interessen der Betriebe einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen: Künftig wird jeder Lobbyverein behaupten, seine Mitglieder müssten erst erwirtschaften, was die neuen Umweltauflagen kosten, jede Industriebranche wird die eigene Wirtschaftlichkeit gegen Umweltmaßnahmen in Stellung bringen und damit drohen, dass Arbeitsplätze wegfallen, wenn ihre kurzfristigen Profitinteressen nicht über die Notwendigkeiten für das Überleben der Menschheit gestellt würde.

Ein Bärendienst, den die EU den Bürgerinnen und Bürgern da leistet, die geglaubt und gehofft hatten, dass es kein Nachgeben infragekommt, wo die Existenz aller auf dem Spiel steht.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ich bin auch Lebensmittelnutzer. Bei der Lektüre dieses Artikels habe ich grünen Salat gegessen.
Am Abend gibt es dann Roulade mit Rotkohl.