Sie ist selber ein Boomer, aber ein vorbildlicher. Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer geht straff auf den gesetzlichen Ruhestand zu, redet ihrer Generation aber vorher noch einmal kräftig ins Gewissen. Die vom Institut ihres Ökonomenkollegen Marcel Fratzscher vorgeschlagene neue Rentnersteuer unter dem Namen "Boomer-Soli" befürworte sie ausdrücklich, hat die Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung jetzt gesagt.
Nicht genügend Kinder
Sie könne der Idee einer Solidaritäts-Sonderabgabe auf Alterseinkünfte "einiges abgewinnen", sagte die Professorin für Komparative Wirtschaftsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Denn wer genau hinschaue, warum das traditionelle Umlagesystem an seine Grenzen komme, sehe: "Die Babyboomer haben seit den 70er-Jahren nicht genügend Kinder bekommen, um die Bevölkerungszahl ohne Zuwanderung konstant zu halten." Das bedeute, "dass immer weniger Menschen im Erwerbsalter für immer mehr Rentner aufkommen müssen".
Schnitzer selbst ist nahezu ohne Schuld, denn die 63-jährige Mannheimerin hat drei Töchter zur Welt gebracht und großgezogen. Damit liegt Schnitzer in ihrer Alterskohorte mit fast 100 Prozent über dem Durchschnitt: In der alten Bundesrepublik bekamen Frauen um 1985 nur etwa 1,28 Kinder pro Kopf. In der DDR waren es 1,79. Trotz aller immer wieder und immer begeisterter verbreiteten Fake News über einen vermeintlichen "Baby-Boom" und Frauen, die so viele Kinder bekommen wie seit irgendwann nicht mehr, schrumpft die Bevölkerung bedenklich.
Gelogene Geburtenrekorde
Nie in den zurückliegenden 40 Jahren reichten die Geburten im Lande zur einfachen Erhaltung der angestammten Bevölkerung mit der gewohnten Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern. Die Mathematik straft Schlagzeilen über Geburtenrekorde lügen und enttarnte die Durchhalteparolen einer heute als EU-Chefin amtierenden Familienministerin gnadenlos als Schwindel. Bei einer Geburtenrate von 1,37 Neugeborenen pro Frau schrumpft eine Bevölkerung mit 80 Millionen Köpfen in einer Generation auf nur noch 55 Millionen Menschen. Die wiederum bekommen bei gleicher Kinderzahl pro Frau nur noch 37,5 Millionen mal Nachwuchs. Über 25,6, 17,5 und 11,7 Millionen bleiben nach nur 150 Jahren gerade mal noch zehn Millionen Menschen übrig.
Die gute Nachricht dabei ist: In absoluten Zahlen ist das Schlimmste danach schon überstanden. Der Restrückstand an Längerhierlebenden zählt anno 2200 nur noch rund 5,5 Millionen Personen, anno 2300 sind es dann nur noch knapp eine Million - eine Menge, die kaum mehr ein Fünftel so groß sein wird wie das Heer der Rentnerinnen, Rentner und Pensionäre heute.
Diese wenigen Zeitzeugen werden schuld daran sein, dass im Jahr 2450 nur noch etwa 300.000 Menschen in Deutschland leben. Ein Land, dessen Ende sich dennoch hinauszögern wird: Erst weitere 15 Generationen oder umgerechnet rund 500 Jahre später werden die letzten Deutschen endgültig verschwunden sein - in etwa 1.000 Jahren von heute an gerechnet, ist es aus, vorbei, vergangen.
Teile der Rente entziehen
Monika Schnitzers Sorgen aber gelten nicht dem Ende, sondern der Überbrückung der Zeit bis dahin. Mit einem "Boomer-Soli", der den sogenannten "bessergestellten Rentnern" mit mehr als 1048 Euro Rente im Monat Teile ihrer vom Staat zugesicherten Versorgungsbezüge entzieht, wäre ein Versorgungsausgleich innerhalb der Generation möglich, die es als erste in der deutschen Geschichte an Bettfleiß hat mangeln lassen. Die weniger Armen würden für noch Ärmere einspringen, die wenigen Jungen würden entlastet und beruhigt, bis sich schließlich herausstellt, dass auch sie zu wenige Kinder bekommen haben.
Das unter Druck geratene Rentensystem wäre für den Moment zu stabilisiert, die Bundesregierung könnte eine große Rentenreform anschieben, die nach dem Modell der Atommüllendlagersuche funktioniert: Statt sich heute die Zähne an einer Lösung für viele Seniorinnen und Senioren auszubeißen, würde der Tag der Entscheidung vertagt, bis es deutlich weniger geworden sind.
Fußabdruck der Menschheit
Doch was seiner Forscherkollegen Marcel Fratzscher und der Wirtschaftsweisen Schnitzer vorschwebt, trifft auf scharfen Widerspruch beim Herbert Haase, dem Ökoethnologen und Klimasoziografen, der am Climate Watch Institut (CWI) im sächsischen Grimma Wege zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks der Menschheit bei gleichbleibender Bevölkerungszahl erforscht.
Haase spricht von einer "Lebenslüge", wenn er die von Schnitzer kritiklose übernommene Begründung des vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgeschlagenen "Boomer-Soli" infragestellt. In seiner Arbeit "Reducing humanity's ecological footprint while maintaining population size", die im angesehenen kanadischen Wissenschaftsmagazin "Ecology Betters" veröffentlicht wurde, weist der Forscher aus Sachsen dem DIW wie auch der Wirtschaftsweisen aus München eklatante "Betrachtungsfehler" nach, wie er es nennt.
"Blödsinn" über die Boomer
So sei die Behauptung von Fratzscher und Schnitzer, dass die Babyboomer verantwortlich für einen schrumpfende Bevölkerungszahl seien, "blühender Blödsinn". Haase verweist zum Beweis auf die nackten Fakten: So habe Gesamtdeutschland Anfang der 60er Jahre nur knapp 73 Millionen Einwohner gehabt, Anfang der 90er knapp 81 Millionen. "Heute aber ist das Arbeitskräftereservoir mit mehr als 84 Millionen Menschen deutlich größer", wider spricht er den unwissenschaftlichen Behauptungen der beiden angesehenen Wirtschaftswissenschaftskoryphäen.
Herbert Hasse argwöhnt gezielte Manipulation. "Wir alle im Wissenschaftsbetrieb wissen doch, dass heute kein Journalist mehr nachfragt, wenn ihm vermeintliche Daten und Fakten von angeblich seriösen Quellen mundgerecht serviert werden." Dieselben Medien, die neue Rekorde bei der Zahl Beschäftigten feiern, seien umstandslos bereit, Schnitzers und Fratzschers krude These zu den Ursachen der Misere des deutschen Rentensystems in die Öffentlichkeit zu transportieren.
Hanebüchene Vorwürfe
Deren Behauptung, die geburtenstarken Jahrgänge von 1954 bis 1969 gingen nach und nach in den Ruhestand und für die Kosten dieser Luxusversorgung müssten "immer weniger junge Menschen" aufkommen, die in die Rentenkassen einzahlen, hält der Sachse für hanebüchen. Alle Zahlen widerlegten die Vorwürfe der beiden Boomer-Soli-Propagandisten, die vorhaben, die Stabilisierung des Rentensystems gezielt der Gruppe aufzuladen, die ohnehin schon schwere Zeiten durchlebt hat.
"Keine Frau im Westen durfte in der 80er Jahren auf staatliche Hilfe bei der Kinderbetreuung rechnen" schildert er, "und in der angeblich so sozialen DDR mussten Familien die Sorgearbeit für ihren Nachwuchs neben der Belastung durch sozialistische Wettbewerb und vorgeschriebener Teilnahme am sogenannten gesellschaftlichen Leben stemmen."
Fassade aus Mitmenschlichkeit
Dennoch waren es die Baby-Boomer, die das Land von Mitte der 70er Jahre an weiter aufbauten. Wie sehr sie sich ihrer Versäumnisse bei der Nachwuchsgewinnung bewusst waren, zeigten sie gleich mehrfach: Anfang der 90er öffneten sie erstmals Grenzen und Arme, um die fehlenden Geburten durch Zuwanderungsgewinne auszugleichen. Als sich Mitte der 10er Jahre herausstellte, dass dieser einmalige Zustrom nicht dauerhaft ausreichen wird, leitete die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die erste Migrationswende ein. Das "alternativlos" der Christdemokratin versteckte das handfeste wirtschaftliche Interesse der Parteien der demokratischen Mitte hinter einer Fassade aus demonstrativ ausgestellter Mitmenschlichkeit.
Wenn DIW-Präsident Marcel Fratzscher heute kritisiert, dass "unser Sozialstaat" von Jahr zu Jahr "ein Stück weniger generationengerecht", werde, ignoriert der originelle Denker einmal mehr die Realität. Fratzscher behauptet, das auf ewig für stabil erklärte Schneeballsystem könne wegen der sinkenden Zahl junger Nachschuldner nur durch "immer stärkere Umverteilung von Jung zu Alt" aufrechterhalten werden. Die Wirtschaftsweise Schnitzer stützt das mit ihrer These von den Babyboomer, die "seit den 70er-Jahren nicht genügend Kinder bekommen" hätten.
Deutlich bevölkerungsreicher
Doch die Realität zeigt: Im Jahr 1962 gab es in der Bundesrepublik Deutschland rund 23 Millionen Erwerbstätige, 2020 waren es schon 44,8 Millionen, im Juni 2025 dann nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sogar 45,9 Millionen Menschen. 1985 arbeiteten von rund 61 Millionen Westdeutschen 29 Millionen, also weniger als die Hälfte. 2024 waren es von 84 Millionen Menschen im größer und deutlich bevölkerungsreicher gewordenen Deutschland etwa 47 Millionen - deutlich mehr als die Hälfte.
Ihnen standen in den 80er Jahren 14,54 Millionen Rentner und Pensionäre gegenüber. Ein Anteil von 23 Prozent. Heute sind es 22,3 Millionen, gerade mal drei Prozent mehr. Angesichts einer Arbeitsproduktivität, die von einem Indexwert von 85,5 im Jahre 1988 auf 100 im Jahr 2015 auf etwa 107 gestiegen ist, ein Wert, der vollkommen zu vernachlässigen wäre.
Kaum ein Anstieg
Selbst der prognostizierte weitere Anstieg der Anzahl der zu versorgenden Ruheständler ist nach der Datenlage kein Problem: Auch für 2030 werden nur knapp 26 Millionen Rentnerinnen und Rentner erwartet. Ihnen stünden den Prognosen zufolge, nach denen mit einem geringen Rückgang um etwa zwei Millionen auf dann nur noch 41,5 Millionen Erwerbspersonen zu rechnen ist, immer noch ähnlich viele potenzielle Beitragszahler gegenüber wie in den 80er Jahren. Sechs Rentner kommen auf 100 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. In den goldenen 80ern, als die Rentenkasse noch als kerngesund und das Umlagesystem als in Ewigkeit unschlagbar galt, waren es fünf.
Dass das deutsche Rentensystem unter so einem immensen Kostendruck leidet, dass sich die Bundesregierung entschlossen hat, gleich irgendwann nach der Sommerpause eine weitere Kommission einzusetzten, die bis Anfang 2027 wieder einmal Vorschläge für eine "grundlegende Reform" vorzugelegen, zeigt dass die prekäre Lage keineswegs an einem Mangel an Einzahlern liegt. "Durch die dauerhaft hohe Nettozuwanderung aus dem Ausland und die Aufnahme der durchschnittlich deutlich jüngeren Bevölkerung der DDR haben die Boomer ihre Versäumnisse bei der Nachwuchsproduktion annähernd ausgeglichen", haben Herbert Haases Demografen am CWI errechnet.
Sozialneid schüren
Statt Sozialneid zwischen verschiedenen Gruppen von Ruheständlern und "Hass zwischen Jung und Alt" zu schüren, müsse die nächste große Rentenkommission sich "bis zur Mitte der Legislatur", wie es im Koalitionsvertrag heißt, auf die Suche nach dem machen, was Haase die "Löcher im System" nennt. "Wir wissen, das Geld ist da, wir wissen, dass es für alle reichen müsste", sagt er. Die Zahlen spröchen eine deutliche Sprache: "Mit 677.000 Kindern, die 2024 in Deutschland geboren wurden, und einem zusätzlichen positiven Wanderungssaldo von 400.000 Personen liegen wir beim Bevölkerungszuwachs nur wenig unter den Zahlen des Jahres 1960, als in Deutschland 1.261.614 Lebendgeborene gezählt wurden."
Deutlich zu viele, wie der errechnete Geburtenüberschuss von etwa 380.000 Kindern damals kritisiert worden war.
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