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Im Kaukasus gelang es Helmut Kohl (r.), den sowjetischen Staatschef Gorbatschow (l.), nachhaltig über den Tisch zu ziehen. |
Moskau, August 1990. Ein schwüler Sommerabend liegt über der sowjetischen Hauptstadt, doch in den Verhandlungssälen der Zwei-plus-Vier-Gespräche ist die Atmosphäre elektrisiert. Diplomaten aus Deutschland, der DDR, den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich sitzen an einem Tisch, um über das wenige Monate zuvor noch Undenkbare zu sprechen: die Wiedervereinigung Deutschlands nach mehr als 40 Jahren Teilung.
Es ist ein historischer Moment, der die Welt verändern wird. Doch hinter den Kulissen tobt ein diplomatisches Ringen, das nicht nur die deutsche Einheit, sondern auch die Zukunft der globalen Sicherheitsordnung prägen wird. Anfangs steht für Männer im Kreml, die seit 1945 über Ostdeutschland herrschen, felsenfest: Das vereinte Deutschland darf nicht Teil der Nato bleiben. Die Führungen der Westmächte wollen aber genau das erreichen. Für sie ist nur wichtig, wie die Sowjetunion, die gerade am Rande des Kollapses steht, davon überzeugt werden, diesen Schritt zuzulassen.
Kohls Mission im Kaukasus
Die Endphase des Pokers beginnt einige Wochen zuvor, im Juli 1990. Helmut Kohl, der später in seiner Heimat verfemte Christdemokrat, reist in die Sowjetunion, um mit Michail Gorbatschow, dem Generalsekretär der KPdSU und Staatspräsidenten, zu verhandeln. Die Gespräche finden nicht nur in Moskau statt, sondern auch im kaukasischen Erholungsort Stawropol. Kohl, ein politischer Stratege mit einem untrüglichen Gespür für historische Gelegenheiten, weiß, dass die Zeit reif ist. Gorbatschow weiß das auch, doch der Russe fürchtet, bei zu viel Entgegenkommen selbst von seinen innenpolitischen Gegnern hinweggefegt zu werden.
Doch es gibt keine Alternativen zwischen einem russischen Ja zur deutschen Einheit und einem Weltkrieg. Die Sowjetunion kann ihr Imperium nicht mehr halten, sie kann sich selbst kaum mehr ernähren. Die Mauer ist seit November 1989 offen, aus dem Loch tröpfelt die diktatorische Restenergie des kommunistischen Weltreiches. Die Sowjetunion steht vor wirtschaftlichem und politischem Ruin. Gorbatschow, der den todkranken Kommunismus eigentlich hatte retten wollen und später als sein Totengräber gefeiert wird, steht unter Druck. Er braucht westliche Unterstützung – und Kohl bietet sie ihm an.
Ein historischer Deal
Der Deal, den die beiden aushandeln, ist historisch: Das vereinte Deutschland darf Mitglied der Nato bleiben. Im Gegenzug verspricht Kohl, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine ausländischen Nato-Truppen – insbesondere keine US-Amerikaner – stationiert werden. "Ein Wort ist ein Wort", betont Kohl, ein Mann, der an die Kraft mündlicher Zusagen glaubt. Doch Kohl ist nicht allein. Mit einer "Kaskade von Zusicherungen", wie es in Dokumenten des National Security Archive der George-Washington-University heißt, sekundieren ihm die westlichen Staatschefs.
Gorbatschow wird von einer Woge der Liebe und der Zuneigung überspült. US-Präsident George H. W. Bush, Außenminister James Baker, der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, die britische Premierministerin Margaret Thatcher und der französische Präsident François Mitterrand – sie alle versichern Gorbatschow, dass die Nato sich nicht nach Osten ausdehnen wird. "Keinen Zoll näher an die sowjetische Grenze", schwört James Bakers. Genscher geht noch weiter: Er schlägt vor, das Gebiet der DDR komplett aus den militärischen Strukturen der Nato herauszuhalten, selbst nach der Wiedervereinigung. Ganz Deutschland wäre in der Nato. Aber halb Deutschland wäre es nur halb.
Hoffnung und Taktik
Im August 1990, als die Zwei-plus-Vier-Gespräche in die finale Phase gehen, ist die Stimmung geprägt von einem vorsichtigen Optimismus. Die Verhandlungen, die im Mai begonnen haben, haben sich durch ein Dickicht aus geopolitischen Interessen, historischen Ängsten und wirtschaftlichen Zwängen geschlagen. Großbritannien, das anfangs an der Seite der Sowjetunion gegen die Einheit stand, ist umgekippt. Jetzt fällt Russland hinterher. Das Land steht vor dem Abgrund. Die Wirtschaft ist am Boden, die politische Ordnung zerfällt, die Satellitenstaaten wenden sich dem Westen zu.
Gorbatschow, der kommunistische Funktionär, der die Kommandowirtschaft Stalins und Breshnews hatte konkurrenzfähig machen wollen und dabei gescheitert war, setzt aus Verzweiflung über seine ausweglose Lage alles auf eine vermeintlich neue europäische Sicherheitsarchitektur. Der Westen lockt mit finanziellen Hilfen – Kredite, Unterstützung für den Abzug sowjetischer Truppen aus der DDR, wirtschaftliche Kooperation. Alle Menschen werden Brüder! Der Preis ist hoch: Für die USA ist die Integration Deutschlands in die Nato nicht verhandelbar. Sie sehen darin die Garantie für die westliche Sicherheitsordnung in einem sich wandelnden Europa.
Spiel mit verdeckten Karten
Die Verhandlungen sind ein diplomatisches Meisterwerk, aber auch ein Spiel mit verdeckten Karten. Die westlichen Staatschefs wissen, dass die Sowjetunion in einer schwachen Position ist. Ihre Zusagen an Gorbatschow sind taktisch klug: Sie sichern die deutsche Einheit, ohne wirklich langfristige Verpflichtungen einzugehen. Im Völkerrecht gilt, dass alles, was gelten soll, geschrieben sein muss. Vor den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen wird deshalb viel gesagt. Aber wenig schriftlich fixiert.
"Die Russen müssen sicher sein, dass, wenn Polen den Warschauer Pakt verlässt, es nicht am nächsten Tag der Nato beitritt", betont Genscher in einem Gespräch mit dem britischen Außenminister Douglas Hurd. Diese Worte, wohlweislich öffentlich geworden, wiegen schwer, doch auch sie werden nicht schriftlich festgehalten. Gorbatschow, der auf die guten Absichten des Westens vertraut, verzichtet darauf, diese Zusagen vertraglich fixieren zu lassen – ein Fehler, der die Geschichte nachhaltig prägen wird.
Visionäre und Pragmatiker
Die Zwei-plus-Vier-Gespräche sind nicht nur ein diplomatisches Schachspiel, sondern auch ein Zusammenprall starker Persönlichkeiten. Helmut Kohl, der später kurze Zeit als "Kanzler der Einheit" gefeiert werden wird, treibt die Verhandlungen mit unermüdlichem Elan voran. Für ihn ist die Wiedervereinigung eine historische Mission, die er mit einer Mischung aus Charme und Hartnäckigkeit verfolgt. Er will in die Geschichtsbücher. Er will aber auch aus tiefstem Inneren, dass Deutschland wieder eins wird.
Michail Gorbatschow, der Mann, der die Sowjetunion öffnet, steht vor einer Zwickmühle: Er will den Frieden sichern und die Sowjetunion retten. Doch die Schwäche seines Landes zwingt ihn zu Kompromissen. George H. W. Bush und James Baker repräsentieren die USA, die als globale Ordnungsmacht die Fäden im Hintergrund ziehen. Beide sehen das kommunistischen Riesenreich der Russen weiterhin als größte Bedrohung. Jedes Mittel, das hilft, die Macht des Kreml zu schwächen, ist ein gutes Mittel.
Bloß kein starkes Deutschland
Margaret Thatcher, skeptisch gegenüber einem starken Deutschland, und François Mitterrand, der auf eine engere europäische Integration setzt, bringen ihre eigenen Interessen ein. Thatcher bohrt und stichelt gegen ein Viertes Reich, im Angedenken an zwei Weltkriege. Mitterrand fährt einen anderen Kurs: Er will die Deutschen zwingen, ihr Land als Gegenleistung für die französische Zustimmung zur Einheit künftig von Brüssel aus regieren zu lassen. Schon bei der Einführung der D-Mark in Ostdeutschland wenige Wochen zuvor hatte der Präsident weitsichtig eine europäische Perspektive ausgehandelt. Eher über kurz als über lang würde Deutschland seine Währung aufgeben. Und seine Kreditwürdigkeit für die europäischen Partner in die Wagschale werfen.
Die Verhandlungen drehen sich um mehrere Schlüsselpunkte: die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, Sicherheitsgarantien für die Sowjetunion, wirtschaftliche Unterstützung und die Rolle der KSZE. Die Sowjetunion akzeptiert, dass Deutschland in der Nato bleibt, unter der Maßgabe, dass keine ausländischen Truppen in der ehemaligen DDR stationiert werden.
Die westlichen Staaten betonen, dass die Nato keine Bedrohung für die Sowjetunion darstellt. Doch die Zusagen zur Nicht-Ausdehnung der Nato nach Osten bleiben mündlich – ein Trick, der Jahrzehnte später zur Wurzel allen Übels in den Beziehungen zwischen dem Westen, seinen neuen Partnern im Osten und dem wiedererstarkten Riesenreich der Russen wird.
Der Vertrag und seine Lücken
Am 12. September 1990 ist es so weit: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag wird unterzeichnet. Er regelt die äußeren Aspekte der deutschen Wiedervereinigung und er markiert vermeintlich einen Triumph der Diplomatie. Deutschland wird eins, die Sowjetunion stimmt zu, und die westlichen Staaten feiern die Integration Deutschlands in die Nato als Garantie für Stabilität. Der Mensch ist vernunftbegabt. Er muss nicht Kireg führen, um zu einem Interessenausgleich zu kommen.
Der Vertrag legt in der Tat fest, dass keine ausländischen Nato-Truppen in der ehemaligen DDR stationiert werden
– eine Regelung, die lange eingehalten wurde. Doch die größere Frage
der Nato-Osterweiterung bleibt ungeregelt. Es gehe hier nicht um einen
Vertrag, der die gesamte europäische Ordnung neu eregele, heißt es im
Westen. an beschließe nur über Deutschland. Die mündlichen Zusagen, die
für Gorbatschow so entscheidend waren, finden deshalb keinen Eingang in
den Vertragstext. Der Russe besteht auch nicht darauf.
Ein geplatzter Traum
Was im Sommer 1990 wie der Beginn einer neuen Ära des Friedens aussieht, entpuppt sich als Keim für künftige Konflikte. Bereits 1995 werden die Bundeswehreinheiten in Ostdeutschland in die Nato-Strukturen integriert – technisch kein Wortbruch, da es sich um deutsche Truppen handelt, aber ein erster Schritt. 1997 bietet die Nato Polen, Ungarn und Tschechien die Mitgliedschaft an, die 1999 vollzogen wird. Die Zusage, von "Kein Schritt näher" werde davon nicht berührt, wiegelt der Westen ab. Es sei ja so, dass jedes Land sich seine Bündniszugehörigkeit aussuchen könne.
Jedes Bündnis könnte natürlich auch seine Mitglieder aussuchen. Selbst die Nato wäre nicht verpfllichtet gewesen, überhaupt neue Mitglieder aufzunehmen - hätte Gorbatschow sich das vertraglich zusagen lassen, hätten Washington, Paris, London und Berlin kaum dahinter zurückfallen können. So aber ist der weg zur Erweiterung offen. Wenig später folgen Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Slowenien und die Baltischen Staaten. Die Nato rückt immer näher an die russische Grenze – genau das, was Baker, Genscher und Kohl ausgeschlossen hatten.
"Verrat des Westens"
Jahre später wird Wladimir Putin, Russlands Präsident, deshalb von einem "Verrat des Westens" sprechen. Er beruft sich auf die Zusagen von 1990, die im Westen allerdings zurecht als nicht verbindlich abgetan werden. "Alles Quatsch", titelt die "Zeit". Der frühere Nato-General Klaus Naumann nennt die Behauptung einer Nichtausdehnungszusage eine "Lüge".
2017 freigegebene Dokumente des National Security Archive zeichnen
ein anderes Bild: Gesprächsprotokolle, Memoranden und Telegramme
belegen, dass es eine Vielzahl von Zusicherungen gab. Baker, Genscher,
Kohl, Thatcher, Mitterrand – sie alle versicherten, die Nato werde nicht
nach Osten expandieren. Ernstgemeint? Oder taktische Behauptungen? Für
Putin liegt hier der Kern seines Misstrauens gegenüber dem Westen.
Wahrheit oder Täuschung?
Die Zwei-plus-Vier-Gespräche waren ein Moment der Hoffnung, aber auch der Täuschung – ob böswillig, oder geboren aus der Dynamik eines historischen Umbruchs, ist bis heute unklar. Der Westen argumentiert, dass es keine vertraglichen Verpflichtungen gab und dass die osteuropäischen Staaten das Recht hatten, frei über ihre Bündniszugehörigkeit zu entscheiden. Russland sieht sich umzingelt, nachdem Angebote, ganz nahe zusammenzurücken, ausgeschlagen wurden.
Nationale Selbstbestimmung
Im Westen wird die Nato-Osterweiterung heute mehr denn je als Ausdruck der nationalen Selbstbestimmung gefeiert, sie sei keine Aggression gegen Russland. In Moskau ist der Blick ein ganz anderer. Man sieht ein gebrochenes Versprechen, das das Vertrauen in den Westen nachhaltig erschüttert hat. Dokumente bestätigen, dass Zusagen existierten und Versprechen gebochen wurden.
Völkerrechtlich aber waren sie nie bindend, was die Sache für den Kreml nicht einfacher macht: Putin geht heut zweifellos davon aus, dass alles ein abgekartetes Spiel war, in dem Russland betrogen wurde, vielleicht sohgar mit Hilfe Gorbatschows. Der hatte im hohen Alter selbst bestätigt, dass die Nato-Osterweiterung in den Verhandlungen kein Thema gewesen sei.
Im Unterschied zu anderen früheren kommunistischen Führern, die wie der letzte SED-Staatsratsvorsitzende Egon Krenz ins Gefängnis wanderten, durfte sich Gorbatschow dafür von den Siegern feiern lassen. Vergessen war seine Krieg in Afghanistan, vergessen waren seine Lügen rund um Tschernobyl. der Russe war jetzt Träger der "Goldenen Henne", Deutschland Lieblingsrusse.
Im August 1990, als die Verhandlungen ihren Höhepunkt erreichen, ahnt niemand, welche Wellen dieser Moment schlagen wird. Die deutsche Wiedervereinigung ist ein Triumph, der die Teilung Europas überwindet. Doch die fehlende schriftliche Fixierung der Zusagen legt den Grundstein für jahrzehntelanges Misstrauen. Russland fühlt sich betrogen, der Westen beharrt auf seiner moralischen Überlegenheit. Die Wahrheit liegt in der Grauzone: Es gab Zusagen, aber sie waren vage, zeitgebunden und letztlich unverbindlich.
Verwirrendes Vermächtnis
Die
Zwei-plus-Vier-Gespräche waren ein Meilenstein, der Deutschland die
Einheit brachte. Sie waren ein Symbol für die Überwindung des Kalten
Krieges, aber auch ein Lehrstück über die Fallstricke der Diplomatie.
Gorbatschows Vertrauen in den Westen war ein Akt des guten Willens, der
nicht belohnt wurde. Die Nato-Osterweiterung, die in den 1990er Jahren
beginnt, ist dadurch zum Symbol für das Scheitern einer gemeinsamen
Sicherheitsordnung geworden, die ein Teil der beteiligten vermutlich nie
gewollt hat. Die Delegierten, die im September 1990 den
Zwei-plus-vier-Vertrag unterzeichnen, glaubten sicherlich wirklich
daran, damit das Fndament für eine bessere, friedlichere Zukunft zu
legen.
Doch wie genau die ihrer Meinung nach aussehen sollte, das ist bis heute ein Geheimnis.
3 Kommentare:
Und so hat Rußland - und China wird auch zugesehen haben - gelernt, was von mündlichen Versicherungen des moralisch überlegenen Wertewestens zu halten ist. Und ein Resultat dieses Lernprozesses sehen wir heute in der Ukraine.
Die sogenannten Zusatzvereinbarungen zu 2+4 waren/sind auch nicht von Pappe! In meiner Einfalt wähnte ich, die wären nur für den Fall, dass "wir" ernsthaft aufmucken würden. Aber mitnichten.
Und: Wäre das alles SCHRIFTLICH vereinbart worden - die hâtten dennoch darauf ge ...hustet.
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