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| Die berühmte sogenannte "Afuera"-Szene, die Friedrich Merz im Wahlkampf erfolgreich machte. |
Höfliche Besucher machen ihren Gastgebern Komplimente. Unhöfliche machen sich über sie lustig. Friedrich Merz, als Bundeskanzler auch nach fast acht Monaten noch im Deutschlandtempo dabei, allen seinen 16 Bundesländern nach und nach einen ersten Besuch abzustatten, entschied sich in Sachsen-Anhalt spontan dafür, die Höflichkeit beiseite zu lassen. Empfangen von Rainer Haseloff, dem im kommenden Jahr aus dem Amt scheidenden Nestor der deutschen Ministerpräsidenten, ernannte der Mann aus dem Münsterland das traditionelle Bundesland der Roten Laterne zu einem "Kraftzentrum mitten in Deutschland".
Im Land der Roten Laterne
Übler ist das unter Abwanderung, der für die Chemieindustrie zerstörerischen Energiepolitik und hohen Preisen bei niedrigen Löhnen leidende Bundesland mitten in der Mitte Deutschlands kaum jemals verhöhnt worden. Doch Merz' spaßig gemeine Bemerkung war kein Versprecher wie sein missratenes Deutschland-Kompliment, mit dem er beim Klimagipfel COP30 Millionen Brasilianer beleidigt hatte. Die Formulierung hatte sich der CDU-Vorsitzende vor seinem absehbar nicht einfachen Gang ins Armenhaus der Republik eigens anfertigen lassen.
Die Bundesworthülsenfabrik (BWHF), im Grunde nie verlegen um eine sprachliche Lösung für politisch unlösbare Probleme, griff hier allerdings tief ins falsche Regal: Sachsen-Anhalt ein "Kraftzentrum" zu nennen, kommt dem Versuch gleich, einem 97-Jährigen mit der Anrede "junger Mann" ein Kompliment zu machen oder eine fettleibige Zwölfjährige nach dem Besteigen von eines Busses dafür zu loben, wie klaglos sie die zwei Stufen überwunden hat.
Kompliment Kraftort
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| Das "Kraftzentrum" ist deutlich zu sehen. |
"Kraftzentrum mitten in Deutschland" ist historisch gesehen allerdings nie spöttisch gemeint worden. Als der "Spiegel"-Redakteur Rainer Weber den Begriff 1988 aus der Gravitationslehre entlieh, um eine Hymne der Stadt Frankfurt am Main als der "Hauptstadt der Wende" zu dichten, lag ihm nichts ferner als die City mit dem Pendlerstrom noch aus dem DDR-Randgebiet zu verhöhnen. Weber meinte es im Unterschied zu Merz ernst und er hatte allen Grund dazu.
Frankfurt lebte das deutsche Wirtschaftswunder. Hier wuchsen die Hochhäuser in den Himmel, hier fand damals noch - die Ticketsteuer war noch nicht erfunden - alle 56 Sekunden eine Flugbewegung statt und "abstrakte wie irreale Finanzströme geisterten" von hier aus "über den internationalen Kapitalmarkt". Kraftsport für das Kapital, das wie in Erwartung der nahen Öffnung neuer Märkte mit den Muskeln spielte.
Die "spröde Metropole"
Wie anders sieht es da dreieinhalb Jahrzehnte später 300 Kilometer nordöstlich in der Stadt aus, die der "Spiegel" einmal zur "spröden Metropole" ernannte. Auf die rasende Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgte hier das fortschreitende Verschwinden des Bürgertums in 40 Jahren DDR, der Kahlschlag nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft und die mühsame Rettung einiger weniger industrieller Kerne durch großangelegte internationale Korruptionsmanöver.
Mit gutem Ausgang, vorübergehend: Drei Jahrzehnte lang profitierte die Region von der hemdsärmligen Privatisierung des mitteldeutschen Chemiedreiecks. Bis die neue Klimaplanwirtschaft begann, die Fundamente der Fabriken in Leuna, Buna, Piesteritz und Böhlen auszuhöhlen.
Friedrich Merz hatte im Wahlkampf viel versprochen, genug jedenfalls, um in Mitteldeutschland als klarer Wahlsieger aus dem Rennen zu gehen. Gleich nach seinem Sieg werde er die Kernkraftwerke reanimieren, um den Strom billiger zu machen. Er werde die Bürokratie auf ein winziges Mindestmaß zurückschneiden, um der Wirtschaft wieder Luft zum Atmen zu verschaffen. Und in Brüssel auf den Tisch hauen, damit dort endlich ein Ende gemacht werde mit Gängelung, Vorschriften und immer neuen Auflagen und Abgaben.
Die letzte Patrone
Stolz zeigte Friedrich Merz damals allen seinen "klaren Kompass": Diese Wahl und seine Koalition seien "die letzte Patrone" der Demokratie. Gemeinsam müsse die Mitte zeigen, dass sie es kann. Denn sonst übernähmen bei nächster Gelegenheit die Rechtsextremen, die Gefolgsleute des Kreml, die Ausländerfeinde, Klimaleugner und Parteisoldaten der Kräfte, die die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer machen wollten. Er stehe bereit, das zu verhindern. Er habe einen Plan. Und er wisse, die deutsche Sozialdemokratie werde sich der Einsicht nicht verschließen, dass es so, wie es war, nicht weitergehen könne.
Es ist anders gekommen. Die Beharrungskräfte eines Staatswesens, das seit fast 20 Jahren in einer selbstgenügsamen Stasis ruht, waren stärker als Merz' Drang, die Fesseln zu zerschlagen und als der Kanzler in die Geschichte einzugehen, der Deutschland eine Zukunft zurückgewonnen hat. Nach der Ampel-Koalition kam in Berlin quasi die Kesselflicker-Koalition ans Ruder. Der "klare Kompass" entpuppte sich als klarer Betrug.
Merz ist keiner, der tapeziert
Merz tat getreulich wieder und wieder das Gegenteil dessen, was er versprochen hatte. Die SPD zeigte nicht etwa Einsicht in die Notwendigkeit grundstürzender Veränderungen. Sondern das steife Beharrungsvermögen, das sozialistische Parteien schon immer ausgezeichnet hat: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?", werden Besucher im Willy-Brandt-Haus gefragt, wenn sie wissen wollen, wie Deutschland ohne ein konkurrenzfähiges Geschäftsmodell mithalten will im globalen Wettrennen um den Wohlstand der Zukunft.
Merz veranstaltet Gipfel. Merz verspricht neue Versprechen. Merz hat eine Stabsabteilung gegründet, die nach dem Vorbild der Abteilung Agitation und Propaganda der früheren SED der DDR, heute Linkspartei, mit der Erfindung von weltfremden Begriffen um die Deutungshoheit über eine Realität kämpft, die so gut wie nichts mehr mit dem zu tun hat, was der Bundeskanzler aus dem Fenster seines Büros im politischen Berlin zu sehen glaubt. Sein letzter Gipfel, gemeinsam veranstaltet mit dem französischen Wackelpräsidenten, hieß tatsächlich "Digitale europäische Souveränität".
Kampf ums Überleben
Es wagt sich noch kaum jemand, laut zu lachen über das abstruse Ausmaß an irrationaler Wirklichkeitsverweigerung, mit dem Merz und seine Administration schon nach neun Monaten ums Überleben kämpfen. Begleitet von den treuen Medien verbreiten sie Durchhalteparolen, neuerdings über angeblich "riesige KI-Rechenzentren", mit denen Deutschland Zukunft neu denkt und bald "riesige Datenmengen verarbeitet". Die größte dieser "Giga-Fabriken" passt in die Pförtnerloge der KI-Rechenzentren, die in den USA und China gebaut werden.
Aber so lange das niemand laut ausspricht, geht es auch so, zumindest für einen Mann, der sich mit dem Einzug ins Kanzleramt den Lebenstraum erfüllt hat, der ihn immer antrieb. Merz ist seit einigen Monaten am Ziel, er hat es geschafft, seiner früheren Chefin und späteren Erzfeindin Merkel zu zeigen, dass er es draufhat. Das bisschen Restlaufzeit der Legislatur wird sich irgendwie absitzen lassen. Ohnehin rappelt es ja absehbar in einem Jahr kräftig im Karton, wenn im bei vier Landtagswahlen zweimal die ausgewiesenen Faschisten als Sieger durchs Ziel gehen.
Mut machen, auch ohne Hoffnung
Man kann nichts dagegen tun, denn keiner weiß was. Nur viel Mut machen hilft und Mut macht Friedrich Merz deshalb allenthalben, wenn er wie ein Geist über seine Gipfel streicht oder in der schweren Panzerlimousine durchs Stadtbild gefahren wird. Hier beschwört er "digitale Souveränität", während die Bundeswehr ihre Daten bei Amazon speichern lässt, einem US-Konzern, der nach dem Cloud Act von 2018 verpflichtet ist, alle seine Speicherinhalte jederzeit auf Verlange für US-Behörden zu öffnen. Dort stapeln sich die Investitionsangebote ausländischer Großunternehmen zu Bergen, die nur noch geordnet werden müssen. Und zwischendurch wird die kommende große Wirtschaftswüste zum "Kraftzentrum" ernannt.
Ein böses Omen. Wenn das hier erst das Kraftzentrum ist, dann hilft Tapezieren auch nicht mehr.



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