Mittwoch, 6. April 2022

Gaskrise: Spartipps aus dem Frühwarnkreis

Wer im außerdeutschen Ausland billig tanken will, muss keine Kanister mitbringen. Die dortigen Anbieter sind auf die Nachfrage eingestellt.

Es wird wieder kälter in Deutschland und die Bundesregierung reagierte nach dem Ende des sommerlichen März umgehend. Wie zuletzt im November vor 124 Jahren Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht, die damals unabhängig voneinander in Berlin Republiken ausriefen, trat Klimaminister Robert Habeck auf den Balkon am ehemaligen Wirtschaftsministerium, um die erste Frühwarnstufe des Notfallplans Gas auszurufen. Ein historischer Moment, der der Vorsorge dient. Was nun passiert:

Wladimir Putin hat sich offenbar verrechnet. Der Kremlherrscher hatte westlichen Geheimdienstberichten zufolge geglaubt, mit einem Angriff auf die Ukraine nicht nur die Regierung des östlichen Nato_Partners stürzen und die ehemalige Sowjetrepublik annektieren zu können. Putin hatte auch damit gerechnet, dass Streit unter den Verbündeten ausbrechen, die Nato sich auflösen und Deutschland aufgrund seiner fortgeschrittenen Pläne zum Energieausstieg in eine Energieversorgungskrise rutschen würde. Dem aber hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit der feierlichen Ausrufung der Frühwarnstufe jetzt einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Gassicherheit ist gewährleistet

Wichtig sei ihm, zu betonen, "dass die Versorgungssicherheit gewährleistet ist", sagte Habeck. Durch die Frühwarnstufe, der die EU noch zustimmen müsse, sei es nun aber möglich, in der Berlin einen Arbeitskreis zusammenzurufen, in dem weitergehende Maßnahmen beraten werden sollen. Im Zentrum des Bemühens stehen dabei kluge Tricks (T-Online), mit denen sich Gas, Öl, Strom und Sprit sparen lassen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte schon vor Wochen effiziente Tipps für die Umwelt und den Geldbeutel angemahnt, auch Ex-Bundespräsident Joachim Gauck hatte sich Forderungen nach einem Umdenken beim Heizregime angeschlossen.

Klar ist, dass Verbraucher durch einfache Verhaltensänderungen ordentlich sparen, gerade weil die Preise derzeit hoch sind, lohnt es sich besonders. Das Klimawatch Institut im sächsischen Grimma hat für PPQ.li ausgerechnet, wie hoch die finanziellen Auswirkungen von Energiesparmaßnahmen derzeit wirklich sind und verblüffende Ergebnisse erhalten: Danach führt ein Herunterregeln der Heizung im Haus um nur drei Grad nicht nur weiterhin zu einer Ersparnis von nahezu einem Fünftel der Heizkosten. Sondern durch deren Vervierfachung in den zurückliegenden vier Monaten zu einer deutlich höheren Ersparnis als noch im Herbst: Wer heute 5.000 Kilowattstunden Erdgas nicht verheizt, spart nicht mehr nur 350 Euro, sondern nahezu 1.000.

Ersparnis bleibt vollkommen steuerfrei

750 Euro, die zudem nicht nach Moskau fließen und dort den Krieg und das Weltklima weiter anheizen. Zudem muss die zusätzliche Einnahme im Unterschied zum Energiegeld, das die Bundesregierung als steuerpflichtige Teilrückerstattung gezahlter Einkommenssteuern ausreichen wird, nicht versteuert werden. Grund genug, etwas für das Klima und den Geldbeutel zu tun. 

Und so leicht geht es: Um Energiekosten zu reduzieren, ist es wichtig, sich regelmäßig den eigenen Heizenergieverbrauch anzuschauen. Einmal pro Tag sollte Zeit sein, den Zählen anzuschauen, sich die Zahlen aufzuschreiben und sie mit denen des Vortages zu vergleichen. Ist der Abstand zu hoch, hilft es oft, den Verbrauch zu senken. Das gelingt schon mit kleinen Verhaltensänderungen und geringen Investitionen. Dazu wird die Heizung beispielsweise heruntergedreht, wenn man schläft oder nicht daheim ist, eine Maßnahme vor allem für die, die das bisher noch nicht getan haben. Alle anderen haben voreilig gehandelt und sich selbst um eine wirksame Möglichkeit der Einsparung beraubt. 

Viele lukrative Sparmöglichkeiten

Auch für sie aber bleiben nach Angaben der Energieberater des Klimawatch-Institutes noch ausreichend Chancen, von den neuen Sparmöglichkeiten zu profitieren. Infrage kämen etwa  der Einbau digitaler Systeme wie "Smart Home", die den Heizungseinsatz nachts oder wenn der Mieter nicht daheim ist automatisch reduzieren. Auch eine gute Dämmung lässt "den Sparstrumpf noch schneller wachsen", wie der Münchner "Merkur" herausgefunden hat. Wer sich ein Elektroauto gönnt, schafft es nach Greenpeace-Berechnungen, zusätzlich zu sparen: Bis zu 300 Euro im Monat sind drin. Alles in allem also schon weit über 1.000 Euro.

Alte Zeitungen mit Spartipps können zudem hilfreich sein, den Energiesparbetrag zu erhöhen. Entlang der Außenwände in großen Stapeln aufgeschichtet, verbessern sie den energetischen Standard sowohl bei Neubauten als auch bei sanierten und unsanierten Altbauten. Wer will, hilft mit Zwischenwänden nach: Gipskartonplatten, zweiseitig auf einfache Ständerkonstruktionen geschraubt, verkleinern das Raumvolumen deutlich. Zwischen die beiden Wandseiten wird Verpackungsmüll gestopft, auch Altkleider eignen sich, ebenso mit herkömmlichem Leitungswasser gefüllte Flaschen, wobei es egal ist, ob Plastik oder Glas, Pfand oder pfandfrei. 

Geheimtipp der Grimmaer Experten ist ein Zelt, aufgestellt im Wohn- oder Schlafzimmer. "Statt die gesamte Wohnung zu heizen, obwohl man sich selbst stets nur auf wenigen Quadratmetern aufhält, kann die Heizwirkung so auf die entscheidenden Wohlfühlbereiche konzentriert werden."

Kleinere Zimmer, schneller beheizt

Kleinere Zimmer sind schneller beheizt, auch die Anhebung von Fußböden kann dabei hilfreich sein, etwa, indem Bretter auf eine Schicht Sand oder Erde gelegt werden. So ist es ganz leicht, den eigenen Energieverbrauch und die damit verbundenen Kosten zu senken, dem Klima etwas Gutes zu tun und zu helfen, den Krieg zu beenden. Es lohnt sich gleichermaßen, die großen Stromfresser im Haushalt zu identifizieren. 

Der Kühlschrank ist hier erster Übeltäter, er verbraucht oft zehnmal mehr Elektronenergie als der regelmäßige Betrieb von Computer, Schreibtischlampe, Wasserkocher und Kaffeemaschine zusammen. Hier hilft ein Griff zur Steckdose: Viele Nahrungsmittel müssen gar nicht gekühlt werden, so etwa Getränke, Margarine oder saure Gurken. Andere lassen sich in der kühlen Jahrezeit ausreichend frisch halten, indem sie auf Balkon oder Fensterbrett gelagert werden.

Auch wer mit dem Auto fahren muss, hat nach Berechnungen der Klimawatch-Forschenden zahlreiche Möglichkeiten, Putins Ölkonzernen in den Arm zu fallen. Bis zu 20 Prozent Kraftstoff spart, wer vorausschauend fährt, rechtzeitig hochschaltet, an Ampeln nicht bremst und nicht mit kaltem Motor startet, wenn der Spritverbrauch am höchsten ist.

Auch offene Fenster treiben Spritverbrauch

Dann lieber Fahrrad", raten die Wissenschaftler, die zudem auf den Einfluss kleiner, oft unterschätzter Detail auf den Benzinverbrauch hinweisen. Zusatzverbraucher wie das Autoradio, die Sitzheizung oder die hochgedrehte Beleuchtung der Anzeigeelemente im Cockpit treiben den Spritverbrauch ebenso nach oben wie der falsche Luftdruck, offene Fenster, Gegenwind, zu viele Fahrgäste oder zu hohe Geschwindigkeiten. "Je langsamer, desto sparsamer fährt ein Auto", betonen die Forscher*Innen. Schon bei Geschwindigkeiten über sieben km/h steige der Verbrauch deutlich, je größer und älter das Auto und je weiter die Strecke, desto mehr. 

Hier hilft es oft, kürzere Entfernungen zurückzulegen. Als hilfreich hat sich auch herausgestellt,  zu tanken, wenn und wo die Preise niedrig sind. Im europäischen Ausland ist das nahezu überall der Fall, vor Hamsterfahrten zu Billiganbietern aber sollte genau berechnet werden, welche Entfernungen welche Bevorratung erfordern. Als Faustformel gelte hier derzeit ein 20-Liter-Kanister pro 100 Kilometer Anfahrtsstrecke plus ein Zehnliterkanister als Sparertrag. "Wer 300 Kilometer zum Billigtanken fährt, sollte also zwingend wenigstens vier Zusatztanks an Bord haben, damit sich das rechnet." Mitgebracht werden müssen die Behältnisse nicht, Tankstellen im Ausland sind meist bereits auf die Nachfrage eingestellt.

Dienstag, 5. April 2022

#allesaufmachen trotz Corona-Virus: Einer für alle

Ehemals beunruhigende Nachrichten müssen ab 1. Mai nicht mehr verbreitet werden.

Ohne Impfpflicht würde es nicht gehen, da waren sich Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Gesundheitsminister Karl Lauterbach vor dem Krieg einig. Selbst die in zwei Jahren bewährten und immer noch nahezu undurchschaubaren Quarantäne- und Isolationsregeln hatten im Zusammenspiel mit Maskenpflicht, Abstandsgebot und Händewaschen nicht verhindern können, dass Deutschland in der vierten Welle eine Pandemie der Geimpften erlebte.

Pandemie der Geimpften

Jeden traf es nun, jedenfalls nahezu, auch ohne belastbares Zahlenmaterial zu haben, ließ sich selbst aus den Elfenbeintürmen des politischen Berlin sehen, dass im Herbst, wenn die Impfpflicht hätte greifen sollen, womöglich kaum noch jemand impfpflichtig gewesen wäre, weil alle gerade erst eine jener kaumsymptomatischen oder gar symptomlosen Infektionen durchgemacht hatten.

Ohne Krieg wäre ein Beben durch die Bundespolitik gegangen, als Karl Lauterbach und Olaf Scholz eingestehen lassen mussten, dass eine Mehrheit für eine Zwangsimpfung im Bundestag nicht zustandekommen wird. Eine Regierungskoalition, die keine eigene Mehrheit hat, um Gesetze zu beschließen, die sie für richtig hält - in den lange zurückliegenden Tagen der alten Bonner Republik waren das Momente, in denen zurückgetreten und neu gewählt wurde. 

Die neue Normalität

In der neuen Normalität der Wiederaufrüstung, der Energiearmut und des Vorrückens deutscher Truppen ins Baltikum aber kann in Sekunden falsch werden, was eben noch richtig war. Und es kann richtig sein, was als schädlich über Monate bis aufs Messer bekämpft wurde. Dass Deutschland vom ersten Tag der Seuche an alles richtig gemacht hatte, steht außer Frage. Immer zur rechten Zeit die korrekte Maßnahme gegen die Seuche, passgenau zugeschnitten auf die Situation. Und nun eben so weiter, mit einer neuen jähen Wendung, die dort anknüpft, wo die Künstlerinitiative #allesdichtmachen vor einem Jahr ironisch aufgehört hatte: Man könnte doch nun, nach zwei Jahren der strikten Befolgung  des großen Maßnahmeplans mit Isolierung Infizierter und Quarantäne für Angesteckte, mal was ganz Neues probieren.

#allesaufmachen für alle, eine Durchseuchung nicht in Kauf nehmen, sondern sie herbeimaßnahmen. Vor die Welle kommen, wie Karl Lauterbach es nennt, der einerseits wegen der beängstigenden Gefährlichkeit der bekannten aktuellen und vor allem der noch unbekannten Erregervarianten der Zukunft eine Impfpflicht für alle weiterhin für unbedingt erforderlich hält. Andererseits aber nun die Isolationspflicht für Menschen, "die möglicherweise das Virus ausscheiden" (RKI) aufhebt. 

Am 1. Mai ist alles vorbei

Lauterbach geht damit selbst über die Lockerungen hinaus, die das mit seiner easy living Covid-Strategie bekanntlich schwer gescheiterte Schweden seinen Bürgerinnen und Bürgern zugesteht: In Schweden müssen Infizierte zu Hause bleiben, frühestens nach fünf Tagen dürfen sie die Quarantäne beenden, aber auch nur, wenn die letzten 48 Stunden fieberfrei waren.  

Glückliches Deutschland, denn hier ist ab 1. Mai alles vorbei. Wer muss, kann arbeiten, auch wenn die Nase läuft, wer soll, darf durchs Büro husten. Ausgenommen sind medizinische Beschäftigte, die von Haus aus ansteckender sind, wenn sie infiziert sind. Direkte medizinische, epidemiologische oder logische Gründe für die wegweisende Entscheidung zum Freedom Day am 1. Mai konnte der Gesundheitsminister bei der Verkündung des Strategiewechsels hin zu einer möglichst umfassenden Durchseuchung nicht nennen.

Kurs auf schnelle Durchseuchung

Ab 1. Mai ist alles vorbei, nur wer möchte, kann und darf, muss sich nach einer Infektion noch isolieren, das ist jedoch freiwillig nicht nur bei den für Covid-19 so symptomatischen symptomlos Erkrankten, sondern auch für schwere Fälle, die sich für arbeitsfähig halten.

Es ist eine Entscheidung im Sinne der Wirtschaft, wie Karl Lauterbach eingeräumt hat. Dem todesmutigen Schritt in das von Querdenker, Coronaleugner und Pandemieverharmlosern so penetrant geforderte Leben mit dem Virus liegt eine Nutzen-Risiko-Abwägung zugrunde, die ergeben hat, dass sich das Infektionsgeschehen auch ohne die bisher üblichen verspäteten amtliche Quarantäneanweisungen unter Kontrolle halten lassen wird, wenn auch um den Preis des einen oder anderen zusätzlichen Todesopfers, das allerdings nötig ist, um das soziale und wirtschaftliche Leben aufrechtzuerhalten, wenn die Infektionszahlen in der warmen Jahreszeit zurückgehen.

"Dringende Empfehlung"

Eine "dringende Empfehlung" für Infizierte mit Symptomen und ohne Symptome, nach einer zufällig entdeckten Infektion für fünf Tage in Isolation zu gehen, bleibt bestehen. Unklar ist noch, wie die Weiterzahlung der Löhne und Gehälter von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Unternehmen und Einrichtungen auerhalb des Gesundheitswesens geregelt wird, die freiwillig in Quarantäne gehen. 

Die jetzige Regelung funktioniert zwar, ist aber dauerhaft nicht notwendig", hat Karl Lauterbach beschrieben. Nur für infizierte Beschäftigte im medizinischen Bereich sollten die bisherigen Quarantäne- und Isolationsregeln weiterhin gelten Diese Neuregelung solle vor allem das Gesundheitssystem entlasten, da derzeit viele medizinische Einrichtungen mit starken Personalausfällen zu kämpfen hätten.

Windkraft heiratet Artenschutz: Gut zu Vögeln

Warum nicht gleich so?! Im jahrelangem Streit über die Koexistenz von Artenschutz und Klimarettung, dem Drang der Bürger nach Ruhe vorm Gartenzaun und dem festen Willen von Wirtschaft und Politik zum Ausbau der Windkraft haben Umwelt- und Wirtschaftsministerium mit Vertretern der Vogelwelt und zivilgesellschaftlichen Kräften eine Einigung erzielt. Der Ausbau der Windkraft kann nun endlich  beschleunigt werden - möglich machen es neue naturschutzverträgliche Regeln, die die auch vom Krieg und der Energiekrise geprägten Notwendigkeiten eines raschen Energieausstieges mit dem Wunsch der Flur-, Fauna- und Habitatwelt nach naturnahen Lebensräumen versöhnt.

Ohne Bremsklötze

Es ist ein echter Durchbruch, den die Bundesregierung durch eine Verständigung "auf Eckpunkte zum naturschutzverträglichen beschleunigten Ausbau der Windenergie an Land" (Tagesschau) erreicht hat. "Die Bremsklötze sind weg", freute sich Umweltministerin Steffi Lemke, ihr Klimamministerkollege Robert Habeck erklärte, es sei gelungen, mit den erwähnten Eckpunkten einen Knoten durchzuschlagen. Vertreter der Vogelwelt bestätigten, dass es nun möglich werde, neue Flächen für die Windkraft auszuweisen, ohne vitale Interessen der geflügelten Freunde des Menschen zu beeinträchtigen. Bürgerinitiativ*innen zeigten sich zufrieden mit den neuen Vorgaben. Artenschutz und Windkraft seien nun in Zukunft "Alliierte" und nicht Gegner.

Eine schwere Geburt war es allerdings. Seit Jahrzehnten standen gerade beim notwendigen Ausbau der Windkraft gegensätzliche Interessen im Zwist miteinander. Investoren in Windkraftfarmen wollten schnell ausbauen, Roter Milan, Uhu, Eule, Schwalbe, Spätzin und Fink opponierten ebenso wie selbsternannte "Bürgerinitiativ*nnen" und Naturschutzverbände. Erst Steffi Lemke und Robert Habeck - der dritte deutsche Umweltschutzminister Cem Özdemir war am Kompromiss vorerst nicht beteiligt - gelang nun eine Einigung; Danach soll es künftig unter anderem erstmals bundesweit einheitliche Standards zur Prüfung und Genehmigung von Windrädern mit Blick auf eine Gefährdung von Vögeln geben, zudem werden Windkraftanlagen künftig generell auch in Landschaftsschutzgebieten erlaubt sein, wo sie zur Artenvielfalt beitragen. 

Ausnahmsweise Tabubereiche

Wo das nicht möglich ist, werden spezifische "Tabubereiche" innerhalb der Schutzgebiete ausgewiesen. Zudem plant die Bundesregierung in Anbetracht des derzeit drängenderen Problems der Windenergieversorgung eine Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes, in dem eine eine abschließende Liste von gefährdeten Brutvogelarten ergänzt werden, für die Windräder eine Kollisionsgefahr darstellen. Arten, die sich bedroht fühlen, können sich ab sofort um eine Aufnahme in die Liste der sogenannten artenspezifischen "Tabubereiche" bewerben, für die es genau definiertem Bundesbrutplatzschutzabstände und umgelagerte Brutplatzprüfbereiche geben wird, die die neue Bundestabubereichbehörde (BTBB) mit Sitz in Pritzwalk nach Vor-Ort-Prüfung festlegen und kontrollieren wird.

Außerhalb der sogenannten Schutz-Schutzzone müssen Genehmigungsbehörden eine mögliche Gefahr für Vögel nicht mehr prüfen, weil nach neuer Regelungstiefe keine mehr besteht. Damit steht der Ausbau der Windkraft erstmals seit der Verabschiedung des Windenergie-auf-See-Gesetz, das die Zielerhöhung für den Ausbau der Offshore-Windenergie bis 2030 auf 20 Gigawatt (GW) festschrieb, in einem harmonischen Einklang mit dem Natur- und Artenschutz. Die bisherige 1.000-m-Regel zur Abstandswahrung zu Wohngebäuden bleibt erhalten, wird allerdings um einen Buchstaben ergänzt zur 1.000-mm-Regel.

Windkraftschutz für brütende Arten

Für den Ausbau der Windkraft benötigte Flächen werden durch den neuen Windkraftschutz nun  niemandem und schon gar keiner brütenden Tierart mehr weggenommen. Dadurch wird Deutschland schnell weniger abhängig von Windimporten aus Russland, eine zentraler Baustein bei der Durchsetzung der Schlüsselrolle des Energieausstieges, der durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine verschärfte Dringlichkeit bekommen hatte.

Montag, 4. April 2022

Im Spinnennetz der Russlandfreunde

Mit dem mittelständischen Schokoladenhersteller Ritter Sport steht der Hauptfeind des Friedens im eigenen Land.

 

Es ist nicht nur der amtierende Bundespräsident Walter Steinmeier, von dessen engen Verbindungen nach Moskau niemand etwas ahnen konnte. Als der frühere SPD-Mann im Februar, kurz vor Kriegsbeginn, zum zweiten Mal ins Amt des Bundespräsidenten gewählt wurde, galt der ehemalige SPD-Minister, Kanzleramtschef, Kanzlerkandidat, "handwerkliche schwache" (Uni Gießen) Dr. und NSA-Überwachungsverantwortliche als Idealbesetzung. Steinmeier haftet der Ruf einer politischen Teflonpfanne an. Nichts bleibt hängen, nichts bleibt kleben, niemand weiß nie mehr etwas und er selbst schon gar nicht mehr. Mittendrin war Walter Steinmeier immer, aber nie dabei.

Eigennützige Motive

Mit Verspätung erst wird nun öffentlich, wie der 66-Jährige unbemerkt von politischen Wegbegleitern, Medien und Öffentlichkeit über Jahrzehnte hinweg ein "Spinnennetz" (Andrij Melnyk) nach Russland webte, Beziehungen, die auf Gas, Öl und Steinkohlelieferungen zielten, nur um Deutschlands Wirtschaft im Gang zu halten, Wohnungen zu heizen und den häufig aus eigennützigen Motiven absolvierten klimaschädlichen Verkehr im Land abzusichern. Der Bundespräsident, der sich als lauwarmer Mann des Ausgleichs inszeniert, weltoffen, weißhaarig und bemüht, die Sprechweise seines einstigen Kanzlers Gerhard Schröder zu imitieren, gibt Unschlüssigkeit brillant als Besonnenheit und kaltes Blut als Nachdenklichkeit aus.

PPQ.li-Kolumnistin Svenja Prantl, nicht verwandt oder verschwägert, aber in ihren vielgelesenen Kolumnen auf PPQ immer auch eine Freundin klarer Positionen, warnt nun vor einem Vergeben, Vergessen und Verharmlosen der Taten des ersten Mannes im Staate, in dem etwas faul sei, wie der Dichter sagt. Steinmeier trage Verantwortung für die verfehlte Russland-Politik, doch an ihrem Scheitern seien viele beteiligt gewesen, die im Schutz der von den Medien genährten Illusionen geglaubt hatten, das Ende der Geschichte sei erreicht und der Frieden lasse sich mit Lügen aufrechterhalten.

Es musste erst ein Ausländer kommen, der dem allseits geschätzten früheren SPD-Politiker die Maske vom Gesicht riss und Deutschlands Hauptverantwortung für den Krieg öffentlich thematisierte. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk wagte es aber tatsächlich, Klartext zu sprechen und Deutschlands Schuld am Kriegsausbruch auf den Punkt zu bringen. Deutschland habe seine eigenen Interessen stets in den Mittelpunkt gestellt, eigensinnig hätten sich deutsche Politiker wie Steinmeier, Lindner und Scholz dagegen verwahrt, gegen Russland vorzugehen, noch ehe Russland gegen die Ukraine vorgegangen war. Nur so konnte sich Wladimir Putin ermutigt fühlen, in das Nachbarland einzumarschieren. Nur weil sich Deutschland weigerte, den Forderungen des damaligen US-Präsidenten Donald Trump nach einem engagierten Aufrüstungskurs nachzukommen, wagte es Moskau, die nach EU-Berechnungen seit 75 Jahren anhaltende Zeit des Friedens zu beenden. 

Anti-Amerikanismus als Ersatz für Russophobie

Von der Linken über die SPD, die populistisch Rentenerhöhungen von einer Aufkündigung der Verteidigungszusagen an die Nato abhängig machte, bis zur Union, die in den Trump-Jahren Anti-Amerikanismus als Ersatz für die traditionelle deutsche Russophobie entdeckte, und zu den Grünen, die den massenhaften Bau neuer Gaskraftwerke zur Verbrennung russischer "Fossilien" (Ricarda Lang) als Brückentechnologie in eine erneuerbare Zukunft planten, bestand in Deutschland Konsens darüber, dass der Russe wohl für immer fremd und undurchschaubar bleiben würde. Er aber gezähmt werden könne, indem man ihn möglichst umfassend von deutschen Zahlungen für Energieträgerlieferungen abhängig mache.

Ein Irrweg, an den allerdings alle glaubten. Deutschland ist, erst jetzt wird das deutlich,  durchzogen von einem klandestinen Netzwerk an Russland-Freunden, das das Schicksal des Landes bestimmt hat. Bis vor wenigen Wochen stand auf verlorenem Posten, wer einen harten Aufrüstungskurs, Milliarden für die Bundeswehr, eine Rückkehr zur Wehrpflicht und die Behandlung Russlands als Feindstaat forderte. Deshalb tat es niemand, nicht nur im politischen Berlin, sondern auch im publizistischen Hamburg, Frankfurt und München. Die Versöhnler, schuldgebeugt seit 75 Jahren, waren Legion, Gegenspieler musste sie kaum fürchten - und wenn sich jemand gegen noch engere Verflechtungen aussprach, dann geschah das allein aus ideologischen Gründen wie bei den Grünen, die Nord Stream nicht wegen Russland ablehnten. Sondern weil die Gasleitung als hinderlich beim Energieausstieg galt.

Unter der Last der Geschichte

Unter der Last der Geschichte, nicht selbst erlebt, aber je tiefer erinnerlich, je höher der im öffentlichen Leben erreichte Rang, beugte die Vernunft sich den eigenen Wünschen und Vorstellungen. Obwohl auch deutsche Politik von außen betrachtet kaum jemals rational handelt, lebte sie doch in der Vorstellung, von Rationalität bestimmt zu werden. Und glaubte sich so selbst, dass für Wladimir Putin dasselbe zutreffen müsse. 

Ein Germanozentrismus aus "Naivität, geschäftlichen Interessen, Antiamerikanismus, ideologischer Verwandtschaft" (RND), dem selbst die EU-Partnerstaaten folgten. Emmanuel Macron gefiel es, an der Seite Putins zu stehen. Spanien half dem früheren Verbündeten bei der Vorbereitung von Vernichtungseinsätzen in Nordafrika. Und Finnland machte vor, wie es sich trotz EU-Einbindung, Nato-Annäherung und gemeinsamer Grenze gut leben lässt.  Angela Merkel, Walter Steinmeier, Olaf Scholz, Markus Söder und andere Politiker, die in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten eine furchtsame Appeasement-Politik im Umgang mit dem Kreml betrieben, waren keine Außenseiter. Sondern  Mainstream, nicht nur medial.

Abwiegeln und Herauswinden

Nun sieht es allenthalben so aus, als habe Deutschland Putin nicht nur bestärkt im Willen, die Ukraine zu überfallen. Viel schlimmer: Das Abwiegeln und Herauswinden aus der Verantwortung durch halbgare und bis heute vollkommen wirkungslose Sanktionen nach der Annexion der Krim durch Russland vor sechs Jahren motivierte den Kreml erst, den Krieg nach Kiev, Charkiv und Lwiw, das frühere Lemberg, zu tragen. 

Während sich Deutschland mühte, respektvoll von fremdem Ländern, Städten und Straßen im Osten zu sprechen und mit "symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr Sicherheit zu schaffen" (Steinmeier), verstrickte sich die Wirtschaft mehr und mehr in eine politisch vorgegebene Russland-Strategie, die sie heute ebenso wie deren Vordenker von Schröder über Steinmeier, Merkel und Söder zum Komplizen des Kreml-Herrschers macht. Statt auf Konfrontation zu setzen, ging es ums Geschäft. Statt jede Gelegenheit zu nutzen, um böses Blut zu schüren, ließ man sich von den Gewinnbeiträgen der Ost-Niederlassungen einlullen.

Ritter Sport, Metro, Bayer, Stada und Fresenius etwa sind weiterhin im Land des Aggressors tätig, angeblich, weil sonst Schokobauern in Afrika, Dialyse-Patienten in Norilsk und Bauern an der Wolga leiden würden. Auch Walter Steinmeier steht unter Verdacht, im Falle eines Falles bereit zu sein, doch wieder nach Moskau zu fliegen, um Schönwetter zu machen. Fakt aber ist, dass kein einziger deutscher Journalist ihn mehr begleiten würde.

Spritpreiserregung: Verdacht auf Verschwörungstheorie

Nicht an jedem Tag, aber am Ende doch: Ölpreis und Benzinpreis kommen nie von einander los.

Sie waren einer ganz großen Sache auf der Spur, alle zusammen und das wie immer exklusiv. Von der "Tagesschau" bis zu den Stuttgarter Nachrichten, vom "Spiegel" bis zum Reichsnachrichtendienst und der Autofahrerpostille "Autobild" witterten kurz nach Kriegsbeginn alle dieselbe Verschwörungstheorie: "Spritpreis hoch, Ölpreis niedrig - kassieren die Ölkonzerne nun ab?" Natürlich, denn der Ölpreis sinke, doch der Sprit bleibe teuer! Da mache doch jemand "Kasse mit dem teuren Sprit!", argwöhnte die amtliche "Tagesschau".  

Nur der Finanzminister kassiert nicht

Und es war nicht der Finanzminister, der nachweislich wirklich nur ein ganz klein wenig von höheren Benzin- und Dieselpreisen profitiert, weil zehn bis 20 Milliarden für einen Staatshaushalt, der auf mehr als 800 Milliarden Euro Steuereinnahmen im Jahr hoffen darf, gar nicht so bedeutsam sind. Sondern die kapitalistischen Großkonzerne, die die prekäre Versorgungssituation dreist für sich ausnutzten. Raffinerien hielten "den Preis künstlich hoch" (Nordkurier). Die Opec steckte auch dahitler, aber bald schon nicht mehr so ganz, weil ein einheimisches "Spritpreis-Kartell" (News.de) sich Milliarden in die Tasche wirtschaftete.  

Die Stimmen, die in den astronomischen Preisen eine Chance für Natur, Umwelt, Klima, Artenschutz und CO2-Reduktionsziele sahen, waren rar. Das Entsetzen von Pendlern, Ausflüglern und Sonntagsfahrern über Benzinpreise oberhalb von 2,20 Euro übersetzte sich in einen wilden medialen Furor, der bei der Suche nach Schuldigen keine Gefangenen machte. Die Raffinerien waren es. Die Ölmultis. Die Spekulanten. Die Amerikaner. Die Saudis. Die Manager. Die Autofahrer. Die Raser. Die Russen sowieso. 

Verschwörungstheorien aus der Spitzenpolitik

Angeführt von Politikern wie Baden-Württembergs grünem Finanzminister Danyal Bayaz machten Verschwörungstheorien die Runde: Da der Öl-Preis doch nach dem explosiven Hoch zu Kriegsbeginn deutlich gefallen sei, die Kraftstoffpreise an den Tankstellen aber nicht, liege der "Verdacht nahe, dass sich die Mineralölkonzerne die Taschen im Angesicht der Krise vollmachen". Selbsternannte Experten zählten eins und eins zusammen und sie kamen auf 11: Wenn Superbenzin bei einem Ölpreis von 78 US-Dollar pro Barrel 1,92 Euro kostete, bei bei 132 Dollar dann aber 2,28, dann könne der Sprit doch bei 112 Dollar für ein Fass Öl nicht 2,12 Euro kosten. Oder?

Nein, nein, nein, dieser Preisanstieg lasse sich nicht allein mit dem gestiegenen Ölpreis erklären und schon gar nicht mit dem später wieder gefallenen. Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mutmaßte Auswirkungen einer "Oligopolsituation am deutschen Kraftstoffmarkt", die "seit Langem ein strukturelles Problem" sei, wie er dem früheren Nachrichtenmagazin Der Spiegel verriet, jetzt, wo er endlich darüber sprechen durfte.

Das verschwundene Spritpreis-Kartell

Kein Zweifel, ein Spritpreis-Kartell war am Werk, das "den Staat mit dem Ukraine-Krieg verarschte", wie das sächsische Klickbait-Portal News.de unnachahmlich formulierte. Ein "Fall fürs Kartellamt", denn die Preismuster gäben klare "Hinweise auf Marktmanipulation" (Klimareporter.de). Habeck reagierte und berief diesmal keinen jener "Benzingipfel" ein, mit denen seine Vorgänger stets gegen Wellen von Spritpreiserregung vorgegangen waren, und er lancierte auch keine neuen Benzinpreiskontroll-App, wie sie sich in der Vergangenheit bereits als hilfreich für die Beruhigung der Gemüter erwiesen hatte. 

Habeck flankierte die von seinem Ministerkollegen Christian Lindner angestoßene Diskussion um mögliche und unmögliche, später durchführbare und eines Tages ganz sicher kommende "Entlastungen" (Lindner) vielmehr mit einer Anzeige beim Kartellamt: Es wurde eng für die Ölfirmen, die Blutsauger an der Benzinleitung des Volkes, denen nun bald kräftig auf die diebischen Pfoten geschlagen werden würde. Die großen Medienhäuser waren es zufrieden. 

Geheime Mächte, die alles bestimmen 

Landauf, landab glaubten nun Millionen an die aufgedeckten Milliarden-Manipulationen. Eine einzige kollektive Aufwallung, gemeinsam betrieben von Hobby-Analysten, politischen Taschenspielern und Verschwörungsgläubigen in den Leitmedien hatte dafür gesorgt, dass Bürgerinnen und Bürger zur Überzeugung gelangt waren, dass geheime Mächte über ihr Schicksal bestimmen. Preise, das hatten sie gelernt, entstehen nicht auf Märkten, auf denen Angebot und Nachfrage den Kurs von Waren bestimmen. Sondern in düsteren Hinterzimmern, nach klandestinen Absprachen gewissenloser Kreise aus namenlosen Managern.

Seit sich die Situation normalisiert, hat sich das Interesse deutlich gelegt. Es wäre natürlich von Anfang an einfacher gewesen, auf den unlösbaren Zusammenhang zwischen Ölpreis und Benzinpreis zu verweisen, der beide Produkte seit Jahrzehnten im Gleichschritt marschieren lässt: Nicht jeden Tag, auch nicht jede Woche. Aber schließlich eben doch, weil sich Benzin ohne Öl so wenig herstellen lässt wie sich Öl ohne Umwandlung in Benzin an Autofahrer verkauft. 

Frei erfundenes Phänomen

Währungseinflüsse, Knappheitsausschläge und Nachfragedellen durch Pandemien schlagen mal nach hier und mal nach da aus, mal ist Benzin gemessen am Ölpreis billig wie seit 2015 in Europa, mal ist es Öl gemessen am Benzinpreis wie bis 2015. Wer behauptet, Öl sei 2008 viel teurer, Benzin aber viel billiger gewesen, muss gezielt vergessen, dass der Euro seitdem ein Viertel seines Wertes verloren hat, gemessen in Dollar, der Öl-Einkaufswährung. Geglättet aber zeigt ein langfristiger Chart (oben), wie es Politik und Medien im Angesicht der Spritpreiserregung von Mitte März gelang, den bei zwei Dritteln des Preises liegenden Staatseinfluss mit Hilfe einer frei erfundenen Verschwörungstheorie aus der Debatte zu nehmen und alle Augen auf Phänomen zu lenken, das man sich selbst ausgedacht hatte.

Sonntag, 3. April 2022

Ohne Abstand, ohne Maske: Frankreich im Wahlkampf

Ohne Abstand, ohne Maske: Macron im Wahlkampf in einem Frankreich, das brutale Ende der Schutzmaßnahmen schon hinter sich hat.

Das letzte Rückzugsgefecht verloren, der letzte Versuch, die Deutungshoheit zu behalten, aufgegeben. Nun kommt es eben, wie es kommt und wie es anderswo ja schon lange ist. Mit dem Wegfall der "Maßnahmen" (Angela Merkel) zwei Jahre nach der Ausrufung des Ausnahmezustandes tritt auch Deutschland in einer neue Phase der Pandemiebekämpfung ein: Wie die europäischen Partnerländer folgt auf Verleugnung, Eindämmung und Immunisierung die Akzeptanz. No Covid ist gescheiterter noch als alles andere. Das mit der großen Impfkampagne hat auch nicht geklappt. Nichts Genaues weiß immer noch niemand. Die Epidemiologen sind zerstritten, manche haben aufgegeben. Die Wissenschaft ist uneins.

Besser geht es nicht

Besser hätte es nicht laufen können. Der Gesundheitsminister sträubt sich noch, ist aber auch ein bisschen froh, eine Tür gewiesen zu bekommen, durch die er sich lauthals widerstrebend schieben lassen kann. Der Kanzler mauert längst auf einer anderen Baustelle. Auch die Medien haben seit Ende Februar ein neues Thema gefunden, das umfassend so beackert werden muss, dass gar keine Zeit und kein Platz bleibt für irgendetwas anderes.

Wie die neue Normalität aussieht, die nun begonnen hat, zeigen die Wahlkampfberichte aus Frankreich, mit denen die Leitmedien in die nächste Amtszeit des großen Europäers Emmanuel Macron reinfeiern. Der Strahlemann aus Amiens profitiert nicht etwa zynischst wie sein ungarischer Kollege Victor Orban zynisch von der angespannten Situation, die stets der Regierung in die Hände spielt. Macron steht vielmehr standhaft gegen etliche "rechtsextreme" (Tagesschau) Mitbewerber, deren Kandidatur ihn schon zur Hoffnung aller wahren Demokraten macht.

Brutales Ende der Schutzvorschriften

Bei der Gelegenheit verstummt dann auch alle Kritik an der Aufhebung der Maßnahmen, die in Frankreich schon Mitte März erfolgt ist. Obwohl die WHO als oberste Gesundheitsbehörde das "brutale Ende" der Schutzvorschriften hart angeprangert hat, kommen Situationsberichte aus dem größten EU-Partnerland völlig ohne Hinweise auf die noch längst nicht beendete Pandemie aus. Fröhlich jubeln die Franzosen, ohne Maske und ohne Abstand wie beim CDU-Parteitag. Silberfontänen blitzen, Macron reißt die Arme hoch und Sabine Rau von der "Tagesschau" raunt etwas Bedeutsames aus der "Macron Arena".

Dort wird Geschichte geschrieben, ohne dass die Seuche noch dazwischenfunken kann. Für den Fall seiner Wahl hat Macron Arbeitnehmern, Familien und armen Menschen goldene Zeiten versprochen: Beschäftigte bekommen eine steuerfreie Prämie von bis zu 6.000 Euro, die Mindestrente wird auf 1.100 Euro nahezu verdoppelt. Nach üblen Erfahrungen zu Beginn seiner Amtszeit, als der Präsident die Energiesteuern hatte anheben lassen, ehe ihn die Gelbwesten zur Umkehr zwangen, hat Macron den Strompreis auf Staatskosten halbiert und für Millionen Franzosen einen Teil der Gasrechnung übernommen.

Provozierende Szenen

In Deutschland, wo die Beratung über mögliche Entlastungsschritte seit Monaten immer mehr Fahrt aufnimmt, ist das ebenso wenig ein Thema wie die bedrückenden Szenen eines Präsidenten, der eingezwängt zwischen Ungeimpften so tut, als könne ihm der Erreger nichts antun. Dabei ist die Gesamtsituation in Frankreich bedrohlich: Nicht einmal 78 Prozent der Bevölkerung sind zweimal geimpft, nicht einmal 54 Prozent haben eine Boosterimpfung erhalten - verglichen mit beinahe 59 Prozent in Deutschland.  Weil die Impfkampagne zuletzt auch in Frankreich zum Erliegen gekommen war, sind nach EU-Regeln bereits etwa zwei Millionen ehemals Geimpfte bereits wieder ungeimpft.

Aus deutscher Sicht gilt das als normal. Über die Aufhebung aller Maßnahmen, mit denen Emmanuel Macron im Wahlkampf punkten konnte, wurde hierzulande kaum berichtet, selbst beim auf Maßnhmen spezialisierten ehemaligen Nachrichtenmagazin "Spiegel" schaffte es der französische Freedom Day nur ins Kleingedruckte. Der Anblick von ungeschützten Menschenmassen, die vollkommen regellos jubeln, obwohl Frankreich zwei Wochen nach der Wiedereröffnung zwei Drittel der Infektionen zählt, die Deutschland zu beklagen hat, bleibt unangeprangert, unkommentiert und unbeklagt.

Energieausstieg: Tabulos gegen russische Fossile

Ein Tempolimit reicht nicht, es muss flankiert werden von einem ganzen Paket weiterer schmerzhafter Maßnahmen.

Kernkraft bringt nicht so viel, schon gar nicht, um Gasheizungen zu betreiben. Auch Braunkohle kann russisches Erdgas nicht ersetzen, zu groß sind die Mengen, die Angela Merkel und Gerd Schröder einst bei Putin bestellt hatten. Der Notstand aber ist da, selbst Mehl und Zucker sind in deutschen Supermärkten inzwischen so rar, dass sie als Ersatzlieferant für Heizenergie kaum infrage kommen. Die Atomkraft etwa bringe nur "eine minimale Mehrproduktion an Strom", dafür aber "maximal hohe Sicherheitsrisiken", hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck in seinem Haus ausrechnen lassen. Die Weiterverwendung von Kohle dagegen würde dem angestrebten schnelleren Ausstieg gemäß den von der Ampel nachgebesserten Plänen der Braunkohlekommission behindern.

Weg von russischen Fossilen

Es braucht neue Ideen, originelle Überlegungen, Pläne, die weit über europaweit vorgeschriebene Füllstandsanzeigen, Großwärmepumpen für Großsiedlungen und Mietshäuser aus der Gründerzeit und eine Elektrifizierung des ganzen Landes hinausgehen. Wer weg will von den "russischen Fossilen", wie es die neue Grünen-Chefin Ricarda Lang nennt, für den "gibt es nicht die eine Lösung". Erneuerbare gut und schön, doch ob die Sonne im nächsten Winter ausreichend lange scheint, um ganz Europa warm zu halten ist ebenso unsicher wie die Umstellung der Warmwasserbereitung des ganzen Landes auf katarisches Menschenrechtsgas und die Umstellung der Wirtschaft auf hochexplosiven grünen Wasserstoff aus regionalem Anbau.

Da bleibt keine Zeit für Tabus, keine Zeit für kleinliches Nachrechnen, wie viel genau nun welche Maßnahme bringt und wie sehr sie Putin in die Knie zwingt. "Wir sollten uns alle Mittel, die auf dem Tisch liegen, ohne Denkverbote anschauen", hat Ricarda Lang empfohlen und als "Maßnahme, die einfach und schnell wirkt" ein "temporäres Tempolimit" ins Gespräch gebracht. Da würde nicht ganz so große Versorgungslöcher stopfen wie der Weiterbetrieb der letzten deutschen Kernkraftwerke, es würde zudem an der falschen Stelle sparen, da sich mit dem nicht verbrannten Sprit keine einzige Gasheizung betreiben ließe.

Erstmals nach Aufhebung der Maßnahmen: Neue Maßnahmen

Doch vom Gefühl her hätte die erste Maßnahme nach Aufhebung aller Corona-Maßnahmen das Zeug, den Bürgerinnen und Bürgern die Dringlichkeit der Situation zu verdeutlichen. Wer heute rast, muss morgen frieren, wer sich heute scheut, heilige Kühe zu schlachten, der sitzt morgen schon ohne Essen da. Auch wenn Lang einschränkend gesagt hat, dass ausschließlich angeschaut werden dürfe, "was auf dem Tisch liegt", ist die Lage angespannt genug, auch an Dinge zu denken, die noch vor wenigen Tagen als Tabu gegolten hätten.

Fest steht doch: Mehr als die Hälfte des Primärenergiebedarfs an Gas in Deutschland wird mit russischem Gas gedeckt, 57 Prozent der klimaschädlichen Steinkohle, die deutsche Kraftwerke verbrennen, stammt aus Russland, dazu kommen Öl, Diesel und Holz. Damit diese Menge wegfallen kann, reicht kein befristetes Tempolimit - keins von 100 km/h auf Autobahnen, aber auch kein generelles von 80 km/ auf sämtlichen Straßen.

Ersteres würde nur ganze zwei Millionen Tonnen Sprit pro Jahr sparen, gerade mal zwei Prozent aller Mineralölimporte. Die Beschränkung der zulässigen Geschwindigkeit auf 80 km/h überall würde zwar weitere 400.000 Tonnen beitragen. 97,6 Prozent der derzeitigen Importmenge an Öl müssten zur Aufrechterhaltung einer gemächlichen  Restmobilität jedoch weiterhin eingeführt werden.

Zehnfache Länge der Größe des Saarlandes

83,6 Millionen Tonnen, das sind 1,4 Millionen Bundesbahn-Kesselwagen mit einer Gesamtlänge von 28.000 Kilometern, also die zehnfache Länge der Größe des Saarlandes. Auch die Rückkehr zum Holzgasgenerator früherer Hungerjahre, die Wiederaufnahme der Forschungsarbeiten am Magnetschlitten und der bundesweite Verzicht auf sogenannte Bäckerfahrten wird nicht genügen, das Land in Betrieb zu halten. 

Und so kommen nun tatsächlich auch ganz unideologisch Vorschläge auf den Tisch, die helfen könnten, die Versorgungslücke zu schließen: Vom temporären Transportverbot für übergewichtige Bürgerinnen und Bürger über eine Rückkehr zur zeitweisen Ausgangssperre der Lockdown-Monate mit ihrer bemerkenswerten CO2-Bilanz und zu Kurzarbeit Null in energieintensiven Branchen steht - zumindest diesseits des erneuten Ausstieges aus dem Atomausstieg - alles zu Debatte. 

Kurs Kalorienzählen

Deutschland macht sich fit für "schwere Zeiten" (Habeck), stimmt sich ein auf tabulose Entsagung, auf Wohlstandsverzicht und Kalorienzählen. Ein Grad weniger im Wohnzimmer sparen sechs Prozent Heizenergie, zwei Grad zwölf, 18 Grad schon 108 Prozent, also weit mehr als derzeit noch importiert werden muss. Fallen dazu durch eine allgemeine Ausgangssperre nicht nur verzichtbare Fahrten weg, sondern auch besonders aufwendige Transportleistungen, wie sie im Fall von properen und mehrgewichtigen Menschen häufig notwendig sind, nähert sich die Gesellschaft schnell einem Energieüberschuss. 

Statt sich durch Importe erpressbar zu machen, würde Deutschland als endogene Wirtschaft frei sein in seiner Entscheidung, wann energetisch wieder geöffnet wird, wie die verfügbaren Streckenkilometer dann aufgeteilt und wie private curvy-Eigenschaften, bionadischer Landlust-Lebensstil und persönliche Wärmeempfindung bei der Aufteilung der Ressourcen berücksichtigt werden können.

Samstag, 2. April 2022

Zitate zur Zeit: Die Scherze der Mächtigen

Die Mächtigen der Welt, so lernte ich an diesem Tag einmal mehr, lachen über andere Scherze als jene, die ihr Wirken ertragen müssen.

 

Arndt von Cappenberg in "Barbarossa - Im Schatten des Kaisers", Michael Peinkofer

Statt Gas, Öl, Kohle: Mit Wollen heizen

Mit Wollen heizen, das geht, sagt der Klimaforscher Herbert Haase.

Gas geht gar nicht mehr, Öl, Kohle, selbst Holz - unmöglich. Zu viel Klimagift, zu viel Putinprofit. Klar ist, dass Deutschland ein "Booster-Programm für die Erneuerbaren Energien" braucht, wie es die Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kempfert nennt. Klingt schwierig, wenn es an alternativen Energieträgern fehlt, die verfügbar und grundlastfähig sind. Doch Kempfert, aktuell Energieversorgungsexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, nennt die Antwort "nicht sonderlich kompliziert": "Man muss es nur wollen." Wer nicht wolle, der finde Gründe, wer dagegen wolle, der finde Wege.

PPQ.li hat sich von Forschungsleiter Herbert Haase vom Klimawatch-Institut (CLW) im sächsischen Grimma erklären lassen, wie Heizen mit Wollen geht, welche Art Ofen dabei Verwendung findet und woher die weitverbreiteten Vorbehalte gegen die praktische Nutzung einer Vorstellungstechnologie kommen, die im Wahlkampf parteiübergreifend propagiert worden war.

PPQ.li: Herr Haase, 55 Prozent unseres Erdgases, 46 Prozent unserer Steinkohle und 34 Prozent unseres Mineralöls kommen aus Russland, sind also gar nicht unsere. Jetzt wollen wir schnell davon loskommen - und das am liebsten mit Wollen, wie es jetzt heißt. Was bedeutet das?

Herbert Haase: Eine Abkehr von allem, was Deutschland in den zurückliegenden 150 Jahren groß gemacht, was wirtschaftliche Prosperität geschaffen, Wohlstand genährt und Bevölkerungswachstum geschaffen hat. Selbst die EU, die ja einst als Montanunion entstand, wurzelt in Kohle und Öl, in Stahl, Kupfer und Gas. Das nun alles mit Wollen zu ersetzen, mutet im ersten Moment ehrgeizig an, ist aber wohl machbar. Wollen ist ein Weg, der im Wünschen entspringt. Da gibt es viel Angebot auf dem Markt, und Wollen ist relativ einfach transportierbar und vom Gesamtgewicht flexibel. Die Frage ist nur, wie schnell kann der Wunsch als Vater des Gedankens in der Realität wirklich Wohnungen heizen und Industrieprozesse aufrechterhalten?

PPQ.li: Wissen Sie es? Gibt es dazu seriöse Berechnungen?

Herbert Haase: Da könnten wir nur Pi mal Daumen rechnen, also wie viel Kilo Wollen kann so eine Gesellschaft in ihrer Bedrängnis aufbringen, sagen wir bis Endes des Jahres? Wenn es wieder kalt wird und der Pullover nicht mehr reicht? Man will dann immer noch von Russland unabhängig sein, aber ist dieses Wollen stark genug, die Hütte zu heizen? Vielleicht auch, wo kleine Kinder leben? Das ist dann viel schwieriger zu wollen, beispielsweise für junge Eltern oder auch für alte Leute im Heim.

PPQ.li: Das Wollen wird zur Gewissensentscheidung, die man sich leisten können müssen.

Herbert Haase: Wollen soll. Wir können ja nicht einfach auf die Schnelle eine Pipeline durch den Atlantik ziehen, um Erdgas von den USA bis nach Europa zu kriegen. Da hätten wir früher anfangen sollen, wenigstens parallel zu Nord Stream II. Jetzt ist das nicht mehr akzeptabel, es würde zu lange dauern und uns auch nicht mehr helfen, sondern die Abhängigkeit von den USA nur weiter verfestigen. Und ohne unken zu wollen: Dass einer wie Trump dort eines Tages auch mal wieder eine Wahl gewinnt, ist jetzt nicht unwahrscheinlicher als Putins Einmarsch in die Ukraine. 

PPQ.li: Das ist wohl richtig. Wer aber nichts hat, worauf setzt der, wenn alle sich auf das Eigene besinnen?

Herbert Haase: Sehe Sie, das ist das Sympathische an der Idee mit dem Wollen. Wollen ist ein Energieträger, der aus dem Eigenen kommt, von ganz tief drinnen. Wollen ist eingestandenes Verlangen, also desiderium, wie der Lateiner diesen speziellen Erregungszustand nennt, der die menschliche Psyche auf bestimmte Zielzustände richtet. Wollen kann allem gelten, die Erfüllung richtet sich ausschließlich nach der Form der Erwartung von etwas, was für das Individuum einen Anreizwert darstellt. Es warm haben zu wollen, ist ein Anreiz, der bisher Putin genutzt hat. Die antizipierte Emotion mit Blick auf den Zielzustand bestand darin, Unglück zu riskieren, Geld zu bezahlen und Krieg zu bezahlen, um damit ein Höchstmaß an positiver Emotion zu erlangen, das mit dem anvisierten Zielzustand der warmen Wohnung, einer brummenden Wirtschaft und eines billig zu betreibenden Autos verbunden war. Das geht auch anders.

PPQ.li: Das müssen Sie uns erklären.

Herbert Haase: Im Wollen liegt die Lösung! Wollen wir statt einer warmen Wohnung und alldem gezielt auf einen Zielzustand hinwirken, bei dem positive Emotionen entstehen, wenn Putin unsere Unterstützung komplett verliert, dann ist der Verlangensakt ausgerichtet auf etwas, das vermeintlich unbequem ist, aber mit der richtigen Einstellung in uns doch einen positiven Reiz auszulösen verspricht. Uns ist kalt, aber wir wollen es ja so! Die Industrie liegt brach, aber das ist Folge unseres Wollens! Niemand kann uns hindern, das als positiv zu empfinden.

PPQ.li: Wir müssen nicht mehr betteln und keinen bitten, wir sind wieder frei, zu tun, was wir wollen?

Herbert Haase: Das trifft es. Ohne es zu wollen, setzen wir uns doch derzeit in Abhängigkeit zu norwegischen Gaskonzernen, zu texanischen Frackern und arabischen Blutprinzen. Dass sich Robert Habeck dafür so sehr eingesetzt, statt klar zu machen, dass nur im Wollen als kollektivem Akt der gesamten Gesellschaft unsere Erlösung liegt, ist für mich schwer nachzuvollziehen. Das ist kurzfristig sicher hilfreich. Allerdings hat Deutschland 2020 mehr als 50 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland importiert, eine Menge, die auch von der ganzen Welt nicht ersetzt werden können. An der Zahl sieht man, dass allein unser Wollen diese Lücke schließen kann: Wollen wir verzichten? Dann können wir das sofort. Unser Wollen reicht vollkommen, das Land am Leben zu halten.

PPQ.li: Auf einem niedrigeren Wohlstandsniveau allerdings, oder?

Herbert Haase: Ein anderes Wohlstandsniveau wird es sein, das ist richtig. Aber wenn wir wollen, können wir die Art, wie Wohlstand gemessen wird, sofort so ändern, das die Dekarbonisierung, die neue Autonomisierung unseres Lebens und das niedrigere Emissionsniveau angerechnet werden. Es kommt darauf an, das Richtige zu wollen, dann kann man es auch genießen. Nehmen Sie einen Mann, der Flugangst hat: Der will nicht fliegen, um keinen Preis will der das. Wenn er nun nicht mehr soll, beeinträchtigt das sein gefühltes Wohlstandsniveau wie genau? Richtig: gar nicht! 

PPQ.li: Sie haben am Klimawatch-Institut einen eigenen Fachbegriff für diesen originären Zustand neuer gesellschaftlicher Stabilität erfunden?

Herbert Haase: Ja, richtig. Wir nennen es Wollstand - und wir finden, dass es wichtig ist, möglichst schon in den nächsten Tagen bundesweit auf dieses Berechnungssystem umzustellen. Mit der Orientierung auf Wollstand internalisieren wir das Problem der fehlenden Versorgungsgüter und erlangen damit die Möglichkeit, eine Industrie, die wegen Energiemangel über Produktionsausfälle klagt, oder einen Kindergarten, der im Winter nur noch zehn, zwölf Grad hat, als Folge eines entschiedenen Willensaktes von uns wahrzunehmen. Am Ende zeigt das, das in dieser Frage das Primat allein bei uns liegt, und wenn es hilft, unser Gewissen zu beruhigen, dann sollten wir dazu bereit sein.

Freitag, 1. April 2022

Abschied von Anetta Kahane: Oma gegen rechts

Im Angesicht des Bösen: Anetta Kahane hat ihr Leben lang mit den eigenen Waffen auf der richtigen Seite gekämpft und immer gewonnen.


Sie geht, aber niemals so ganz. Anetta Kahane, erst über Jahrzehnte Teil des festen Fundamentes der Funktionärsdiktatur im Osten Deutschlands, später dann in einer zweite Karriere höchste Moralwächterin des neuen, liberalen Deutschlands, hat das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" erklären lassen, dass sie sich mit nun 67 Jahren aufs Altenteil zurückziehen will. Nicht allerdings weiterhin alles im Blick zu behalten: Die Feinde unserer Ordnung, die Quertreiber, Verschwörungstheoretiker, Russen, Kritikaster und Sachsen. Menschen also, die ihr ein Leben lang Lohn und Brot verschafften, erst als Mitarbeiterin der Staatssicherheit der DDR. Dann als Chefin des Wächterrates "Amadeu Antonio Stiftung".

Der gestohlene Nachname

Mit dieser von ihr selbst gegründeten Firma, benannt nach dem 1990 in Eberswalde von Skinheads erschlagenen Amadeu Antonio Kiowa, dem Kahane einfach den Nachnamen abschnitt wie das im weißen Umgang mit Schwarzen Menschen Tradition hat, gelang der früheren IM Viktoria nicht nur der späte Sprung zur "Bürgerrechtlerin" (Die Zeit), als die sie nun schon immer gegolten haben wollte und sollte. Sondern auch eine der seltenen deutschen Erfolgsgeschichten des Internetzeitalters: Kahane, zeitweise als "Bundesmahnbeauftragte" nicht unkritisch betrachtet, weil sie im revlutionären Furor auch mal die Falschen verriet, schaffte, was sonst kaum jemandem im alten Europa glückte. 

Mit ihrem kleinen start up und Starthilfe aus antifaschistischen Förderprogrammen der Bundesregierung gelang es ihr, mit Internetriesen wie Facebook auf Augenhöhe zu kommen und die eigenen Meinungsfreiheitsschutzabteilungen als höchstes deutsches Demokratiegericht dauerhaft zu etablieren. Dank der Übertagung von Netzhygienefunktionen durch den US-Internetreisen gelang es sohar, sich von Zahlungen der Bundesregierung unabhängig zu machen. 

Öffentlich anschubfinanziert

Ein Beweis dafür, dass Deutschland mithalten kann, wo öffentliche Anschubfinanzierung und privates Engagement gemeinsam auf ein richtige Ziel zuarbeiten. Heute ist AAS hochprofitabel. Keine "dunkelste Ecke der Online-Welt" (AAS) ist mehr sicher vor den Fachleuten für porentiefe Sprachhygiene, die "Ausschau" hielten "nach rechtsextremen Influencern, Hass-Kommandos & der nächsten Terrorzelle in Planung" (Amadeu Antonio).

Anetta Kahane schaffte es nicht nur, ihren Wikipedia-Eintrag dauerhaft so zu verändern, dass selbst die Geschichte ihrer Enttarnung als Stasi-Spitzel zu mutigen Tat einer reuigen Sünderin wurde. Nein, sie rückte als erste ehemalige IM des Ministeriums für Staatssicherheit auch in den Zauberzirkus der medialen Dauerberieselung auf. Kahane war eine Instanz. Was sie zu sagen vorgab, galt, und es galt für alle, sich daran zu halten. Anetta Kahane war es, die festlegte, dass„alles sagen zu können, einfach alles“ dasselbe sei „öffentlich hassen zu dürfen, als gäbe es kein Morgen“. 

Falsche Übersetzung als Grundlage

Ihr hat Deutschland zu verdanken, dass mit dem selbst ausgedachten Begriff der "Hassrede" - einer simplen, wenn auch falschen Übersetzung des englischen hate speech - als "segensreiches Ergebnis eines langen Zivilisationsprozesses“ (Kahane) "jenseits des Juristischen ein Klima" entstand, "das weit Gefährlicheres mit sich bringt als ein Wettrennen von wildgewordenen Säuen, die durchs Dorf getrieben werden". 

Nämlich eine Gesellschaft, in der auch Dinge, die nicht strafbar sind, plötzlich nicht mehr sagbar scheinen, weil sie zwar nicht verboten, aber auch nicht erlaubt sind. So dass Menschen, die etwas sagen wollen, lieber schweigen, weil sie es für sicherer erachten, still zu sein als sich als "wildgewordene Säue" bezeichnet und von den Hexenjägern der Hatespeech-Sturmtrupps bei virtuellen Hetzjagden um Job und Ruf, Einkommen und Auskommen gebracht zu werden.

Geschrumpfte Gefahren

Anetta Kahanes Abschied kommt in einer Zeit, in der die großen Gefahren, die Deutschlands erste Oma gegen rechts stets so unvergleichlich an die Wände malen konnte, dass viele frühere Abnehmer ihre Kolumnen mittlerweile gelöscht haben, dramatisch schrumpfen. Die Wohlstandssorgen vor einer Machtübernahme durch sächsische Nazis, die Angst vor Menschen, die nicht geimpft werden wollen, die Ausgrenzung aller, die "trotz des hohen Verfassungsguts der Meinungsfreiheit" (Kahane) sagen wollen, was sie sagen zu müssen glauben, sie scheinen vor dem Hintergrund der neuen Weltlage kaum mehr von Bedeutung. 

Ein Vierteljahrhundert nach der smarten Idee, mit der "Antonio Amadeu Stiftung" (Original ohne Bindestriche und ohne Kiowa) eine eigene Institution zur Feindbeobachtung und -bekämpfung  zu gründen, zieht sich die verdienstvolle Gründerin aus der ersten Reihe der staatlich finanzierten zivilgesellschaftlichen Projekte gegen Rechtsextremismus zurück. Kahane hinterlässt ein blühendes Unternehmen mit fast sechs Millionen Euro Jahresumsatz, 80 Beschäftigten und dem Rufg, über Schicksale entscheiden zu können. Der Kampf gegen aber, er ist noch nicht gewonnen. Ihrer "Amadeu Antonio Stiftung" will Anetta Kahane deshalb "weiterhin beratend zur Seite stehen", auch werde sie "weiter schreiben, eigene Projekte verfolgen und auch für andere Organisationen da sein, wenn sie das wollen."


Im Westin was Neues: Das Opfer, ein Täter

Keine Kette, jedenfalls nicht am Hals. Das irritierte die schreibenden Schnellgerichte keineswegs.

Die Sache war vom ersten Moment an sonnenklar, man kennt diese Ostdeutschen ja. Der "Musiker und Künstler" (Mimikama) wurde in einem Leipziger Hotel diskriminiert, antisemitisch noch dazu, wie das ehemalige Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" aufdeckte, das jahrelang gut vom Verkauf von Juden-Gen-Tests gelebt hatte. "So isser, der Ossi" (Spiegel), eine dumpfe Backe, zerfressen vom Hass auf alles, was anders ist. Selbst als er dann neben dem Hotelbanner Israelflaggen hisste, war das womöglich nett gemeint, wie ein Hamburger Schnellgericht unter Leitung von Samira El Ouassil befand. Aber es ignorierte die Tragweite des Problems.

Faschisten, Rassisten und Antisemiten 

Aus der Ferne war alles ganz genau zu sehen.
 Die konnten nur Menschen erkennen, die wie die waren, die sie erkennen konnte. Heiko Maas etwa, seinerzeit noch eine Art Außenminister. Oder Medienarbeiter beim Gemeinsinnfunk. Oder Faktenchecker in Österreich, die aus nächster Nähe Beweise sicherten und sofort sicher waren, ein "Opfer von Antisemitismus" entdeckt zu haben. Man kennt das von großen, internationalen Hotelketten in Sachsen: Am Empfang arbeiten in der Regel beinharte Faschisten, Rassisten und Antisemiten, die peinlich genau darauf achten, dass Gäste nur ohne Davidstern um den Hals einchecken dürfen. 

Als Hausregel gilt der Hass, frisch vom Hahn gezapft. Gil Ofarim, ein Berufsprominenter, hatte das nun endlich aufgedeckt und vom Außenminister über die Parteiprominenz bis in die Schreibmaschinengewehrstellungen der Leitmedien herrschte Dankbarkeit. Tolles Thema zum kommentieren. Gratismut verurteilte und rief zum Widerstand. Hitler würde diesmal keine Chance haben, nicht in dieser Verkleidung als Hotelmitarbeiter. Jeder hatte ihn sofort erkannt. Jeder prangerte an, so laut konnte.

In bewährter Weise ohne störende Kenntnis der Einzelheiten. Aber mit einem Eifer, der bei diesem Thema unerlässlich ist. Entlassen, geteert, gefedert Hätten die üblichen Verdächtiger gekonnt und gedurft, der zweifellos schuldige Hotelmitarbeiter wäre entlassen, geteert, gefedert und nach einem ordentlichen Schauprozess vor dem Fernsehgericht eingesperrt worden. Schlüssel weg, für immer, auf dass es allen anderen Mahnung und Warnung ist. Wie wichtig das gewesen wäre, zeigte sich schon bald. Statt einfach mal zu glauben, was Ofarim gesagt und Heiko Maas wie Joseph Schuster bezeugt hatten, begannen sächsische Staatsanwälte Ermittlungen, um Gil Ofarim "vom Opfer zum Täter zu machen" (Tagesspiegel)

War Leipzig tatsächlich "kein Einzelfall", wie Maas behauptet hatte? Sondern gar kein Fall? Videoaufnahmen aus dem Hotel, einer seinerzeit noch knapp unter Rechtspopulismusverdacht stehenden Postille zugespielt, waren Wasser auf die Mühlen von Zweifler und Verschwörungstheoretikern. An der Rezeption stand der Sänger sichtlich ohne die Kette. Wie und warum also hätte ein Westin-Mitarbeiters ihn auffordern sollen, abzunehmen, was nicht da war?

Sebnitz, Mittweida, Westin

Es war wieder Sebnitz und Mittweida. Wie damals beim "Kinder-Mord" (Spiegel), als die Redaktionen in Hamburg, Frankfurt und München auf sich selbst hereingefallen waren, ehe sie sich noch einmal an derselben Stelle jucken halfen, als die 19-jährige Rebecca in Mittweida von grausamen Stiefelnazis ein Hakenkreuz in die Hüfte geritzt bekam, war der Drang ans Buffet mit dem gefundenen Fressen größer als die professionelle Versuchung, erst mal zu schauen, was war, um dann zu schreiben, was ist.

Zu schön das Klischee, zu risikoreich eine Recherche, die so leicht alles kaputtmachen kann, was man sich ausgedacht hat. "Zu Recht", so hatte es doch gleich im "Spiegel" gestanden, "verurteilte man die beiden involvierten Hotelmitarbeiter, und zu Recht forderte die Öffentlichkeit vom Westin eine angemessene Reaktion!"

Zweifeln heißt Verrat

Nachfragen heißt Zweifeln, Zweifeln aber heißt, den wahren Glauben zu verraten. "Haben wir denn nichts aus der Vergangenheit gelernt?", hatte der Sänger in seinem Video gefragt, das so "wichtig für Deutschland" (Südkurier) war, dass sich jede Betätigung außerhalb des damit vorgegebenen Korridors verbot. Wer das wagte, der erweckte "den Anschein, als sei dieser Antisemitismus ein besonders krasser Einzelfall, weit, weit weg in diesem Sachsen".

Dabei war er nun nicht einmal das, wie selbst die engagiertesten "Anheizer" (Die Zeit)mit einem verdrucksten "wohl" im Kleingedruckten eingestehen müssen. In Hamburg, wo man eben noch wusste, dass die Dinge eben so laufen, weil Gil Ofarim sie berichtet hatte,  wird nun nach Entschuldigen gerufen, die die abgeben müssten, die eben noch wussten, dass es - da drüben im Osten! - nur so gelaufen sein konnte, wie Ofarim berichtet hatte. Gemeint sind "führende Politiker". Nicht deren mediale Lautsprecher, nicht deren Kolumnistenregimenter, nicht die Bezichtiger und Anheizer mit den Stiften und den Tastaturen.