Mittwoch, 24. November 2010

Ein Abend wie gemalt


Sven Köhler steht da wie festgefroren. Keine Bewegung, die Hände hält Halles Trainer tief in den Taschen vergraben. Müsste ein Bildhauer ein Denkmal für Ratlosigkeit meißeln, Köhler könnte in dieser 88. Minute des heißersehnten Derbys seiner Mannschaft gegen den Landesrivalen aus Magdeburg Modell stehen.

Es ist ein Abend wie gemalt in Leipzig, wo der Hallesche FC in dieser Saison mangels eigenem Stadion alle sogenannten Sicherheitsspiele austrägt. Hier passt wirklich alles. Die sächsische Metropole hat sich fein gemacht, um die Gäste aus Sachsen-Anhalt zu empfangen: Alle Straßen sind gesperrt, alle Ampeln auf rot, an jeder Ecke steht Polizei, die sogar Verstärkung aus Thüringen bekommen hat und Fahndungsfotos direkt auf der Straße anfertigt. Terrorgefahr an der Pleiße, denn sagenhafte 5000 Zuschauer mit Sitzkissen unbekannten Inhalts werden erwartet! Die Stadt, die Goethe einst für ihre Gastfreundschaft lobte, hat diesmal alle Parkplätze am Stadion gesperrt. Parke sich, wer kann!

Auch das Wetter hat sich anlässlich der Bewerbung Leipzigs um die Eingemeindung nach Sachsen-Anhalt, wo man traditionell nicht in der Lage ist, Fußballspiele mit mehr als 100 Zuschauern auszutragen, fein gemacht. Eisige Kälte ist eingezogen, die ersten spillerigen November-Flöckchen künden von der unaufhaltsam hereinschneienden Klimakatastrophe. Die ersten Minuten des Spieles künden von den Schwierigkeiten des numerischen Gastgebers, vernünftig Fußball zu spielen. Magdeburg, seit der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins "kruden Thesen" (Der Spiegel) ohne Sieg, hat in den ersten fünf Minuten zwei hochkarätige Torchancen. Halle aber hat mehr vom Spiel und die schöneren Trikots, knalliges Rot, Alarmfarbe, Feuerwehr. Aber nicht hier und nicht heute.

Als drückten die Leibchen noch zusätzlich zur erstmals seit Jahren verliehenen Favoritenbürde, schleppen sich die Köhler-Schützlinge über den rasenbeheizten Grob-Acker, auf dem vor vier Tagen die Fußball-Legenden Ost gegen die Fußball-Legenden West wie selbstverständlich siegten. Heute sehen die Guten schlecht aus. Benes springt der Ball ins Aus, Kanitz, früher ein wieselflinker Offensivmann, kennt nur noch den Sicherheitspaß nach hinten, Torwart Darko Horvat, ehemals Garant für die hinten stabil stehende Null, fängt keinen Ball sicher.

Der einzige, der sich in der bitterkalten ersten Hälfte überhaupt bewegt, ist FCM-Trainer Ruud Kaiser. Der Holländer ist sichtlich unzufrieden mit der Art und Weise, mit der seine Männer um seinen Arbeitsplatz kämpfen. Hier noch verlieren, und Magdeburg hat nicht nur keinen Vorstand mehr, sondern auch endlich mal wieder Trainerbedarf.

Doch der Mann muss keine Angst haben. Halles Sturm, seit einiger Zeit dargestellt vom Neuzugang Alen Lekawski, hat auch heute wieder die Sprengkraft einer Papiergranate. Der Kroate, eingestellt, um die ausschließlich langen Bälle, die praktischerweise gleich aus der Abwehr hereingesegelt kommen, mit dem Kopf abzulegen, ist so groß, dass er zum Kopfball gar nicht hochspringt. Dadurch ist er dann zuverlässig zu klein, um auch nur ein Kopfballduell zu gewinnen. Also keine Ablagen, also keine Torgefahr. Ein Freistoß in der 33. Minute, von Boltze frontal in den HFC-Fanblock gehauen, ist der erste Torschuss der Roten.

Das muss gefeiert werden: Ein beherzter Fan wirft ein bengalisches Feuer aus dem HFC-Block direkt ins Tor von FCM-Keeper Tischer, verfehlt den Torwart aber entgegen der üblichen Praxis. Riesige Empörung nun im HFC-Block. Der völlig unfähige Werfer wird gestellt, viel zu kurz verprügelt und dann der Polizei übergeben, die ihn geradezu zärtlich aus dem Stadion führt. Da wartet wieder eine harte Strafe auf den Attentäter, womöglich gibt es sogar einen Eintrag ins Muttiheft.

Alle anderen HFC-Fans werden allerdings noch härter bestraft. Die in der letzten Saison zu allerlei Hoffnungen ermutigende Köhler-Elf kommt nämlich wie verwandelt aus der Kabine. Jetzt geht gar nichts mehr. Texeira läuft sich abwechselnd mit Benes fest, Boltze kurbelt im Mittelfeld ganz für sich allein vor sich hin und Lindenhahn, die kleine, flinke Nachwuchshoffnung des HFC, spielt um einen neuen Vertrag beim Heimatverein. So wenig, wie ihm heute gelingt, reicht für kein Angebot aus der zweiten Liga.

In der 61. Minute bekommen die Hausherren die Quittung. Magdeburg, nach der Anfangsoffensive bemüht, ein Remis mit nach Hause zu nehmen, kommt über links. Texeira lässt seinen Gegenspieler laufen und passen, in der Mitte steht Köhne und haut den Ball unter die Latte. Von dort springt er ziemlich eindeutig hinter die Linie, sogar zweimal.

Und was macht ein Heimtrainer, wenn der Außenseiter im eigenen Stadion überraschend führt? Richtig, dieser hier schließt messerscharf, dass die jetzt schon leicht platt wirkenden Gäste nun bedingungslos weiterstürmen werden, um das vor zehn Jahren erzielte 7:0 zu übertreffen. Was tut der Taktikexperte dagegen? Natürlich einen schnellen Konterstürmer bringen.

Angelo Hauk, ein 100-Meter-Läufer mit der Schusskraft eines F-Jugend-Kickers, ist kaum auf dem Platz, da kommt Georgi über rechts und macht das 2:0 für Magdeburg. Es ist die 71. Minute, es ist gar fürchterlich kalt geworden im Zentralstadion und Halle beginnt jetzt doch noch, ein bisschen Fußball zu spielen., Ronny Hebestreit, für den eifrigen Finke-Ersatz Phillip Schubert eingewechselt, gibt dem immer noch meist besinnungslos herumstehenden Lekavski eine Lehrvorführung in "Wie ich einen Kopfball gewinne". Boltze müht sich, Lindenhahn ist einmal fast bis zur Torlinie durchgedribbelt. Er holt dann eine Ecke.

Längst singen nur noch die Magdeburger, der Halle-Block macht den Köhler, steht still und schweigt. Auch Thomas Neubert, von den Fachkräften in der Fankurve als "Fußballgott" veräppelt, muss sich nicht mehr warm machen. Alles läuft ja nach Plan, zwei Wechsel reichen. Seit der frühere Stammspieler, von seinen Bewunderern als Westernhagen der 4. Liga verehrt, draußen sitzt, hat der HFC genau null Tore geschossen.

Dabei bleibt es auch heute, obwohl mehrere Magdeburger Fans noch versuchen, durch gezielte Böllerwürfe die vor dem Match von den HFC-Fans favorisierte 0:3-Niederlage zu provozieren. Der Schiedsrichter aber weigert sich, die eigentlich übliche Unterbrechung anzupfeifen. Stattdessen pfeift er das Spiel ab. Sebastian Sumelka, einer von gefühlten 300 auch ohne Sprachkurs super integrierten FCM-Spielern, die aus Holland geholt wurden, nutzt die Gelegenheit, eine Zaunfahne der HFC-Fans als Andenken mitzunehmen. Er pflanzt sie jedoch irrtümlich nicht in den Mittelkreis.

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6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ahja. Sumelka ist deutscher...

ppq hat gesagt…

danke für den hinweis. ich irrte, weil er ja aus holland kam. habs berichtigt

DKF hat gesagt…

Schauriger Bericht, aber gut geschrieben. Sumelka wurde übrigens erst von Stiefel und dann von Köhler aufgehalten.

Anonym hat gesagt…

Schön geschrieben, feine Ironie, das mag ich

1974

ppq hat gesagt…

es war auch ein schauriger abend. der schlimmste mit dem hfc seit langer zeit.

bezeichnend, dass die fans die fahnensache heißer diskutieren als die tatsache, dass die mannschaft hinüber ist.

Anonym hat gesagt…

der schlimmste abende seit langem und ich befürchte, das ist erst der anfang von dem was folgt...