Samstag, 24. Februar 2018

Nach dem Koalitionskracher: Der Vertrag, der keiner ist

Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech gilt als intime Kennerin politischer Sprachpraxis.

Es war ein schwere Geburt am Ende eines langen, schmalen Geburtskanals, ein blutiger Akt der Transplantation sozialdemokratischer Inhalte aus der Union in eine neue SPD-Führung unter Andrea Nahles, der dritten Parteichefin in nur zwölf Monaten, allerdings einer, die für Aufbruch und Spaß an der Politik steht,  die Seelen der Mitglieder ihrer Partei und ihres Volkes streicheln kann, die eigene Verletzlichkeit in den Mittelpunkt aller Machtkämpfe stellt und die Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses in der Europa-, Kriegs- und Wirtschaftspolitik immer wieder unterstreicht, egal, wie er aktuell gerade ausgerichtet ist.


Das Koalitionspapier bestätigt, dass auch die neue Bundesregierung antritt, um alles richtig zu machen. Doch wie ernst ist das Papier zu nehmen, das mit fast 170 Seiten viel zu dick ist, um von irgendwem gelesen zu werden? Für PPQ hat Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech die Inhalte querlesend analysiert und aus dem Propagandistischen ins Deutsche übersetzt.


PPQ sprach mit der 44-jährigen Spezialistin für U-Botschaften, die sich im gedruckten Wort häufig unter Adjektivattacken und hinter zusammengesetzten Subversiven verstecken und hier einen vermeintlichen "Vertrag" tarnen sollen, der in Wirklichkeit gar keiner ist, sondern allein der Täuschung der Öffentlichkeit dient.

PPQ: Vizekanzler Martin Schuld hat vor einigen Tagen auf den Bildschirmen des Deutschen Fernsehens der Öffentlichkeit offenbart, dass er das Koalitionsabkommen zwischen CDU/CSU und SPD überhaupt nicht kennt und dass es ihn auch nicht interessiert. Er sprach von "Aufbruch", "Neuanfang" und "Dynamik", also offenbar von einem Papier, das bisher geheim ist. Frau Hahnwech, Sie haben das Papier als eine von nur sieben Deutschen gelesen, sagen Sie uns, was steht denn drin?

Hahnwech: Ich kenne das Koalitionsabkommen in der Tat. Juristisch ist es Abkommen schwer zu erfassen und einzuordnen nach den überkommenen Begriffen von Vertrag, Übereinkommen, Abmachung. Ob es Rechtswirkungen erzeugt, wie man sie gemeinhin bei Verträgen beabsichtigt und auch erwartet, das ist sicherlich die Frage. Vieles ist ja auf einer romantischen Ebene gehalten, man verspricht sich einiges, ohne direkte Lieferung oder Termine zu vereinbaren. Die Frage ist ja auch: Wenn ein solches Abkommen echte Ansprüche und Pflichten im Rechtssinne beinhalten sollte, dann wären sie ja keineswegs mit den gewöhnlichen Mitteln durchsetzbar. Die Parteien müssten zur Umsetzung ihre Abgeordneten zwingen, so abzustimmen, wie das im Sinne des Abkommens jeweils notwendig wäre. Das ist aber verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch nicht möglich, weil der Abgeordnete frei ist, zu entscheiden, wie er möchte.

PPQ: Damit wäre diese Vereinbarung im Sinne von ...
Hahnwech: ... eine Zusammenfassung von Richtlinien, von Arbeitsrichtlinien, die die Fraktionen des Bundestages, die sich zu dieser Koalition zusammengefunden haben, miteinander ausgemacht und an die sie sich zu halten versprochen haben. was sie aber nicht müssen, weil sie es nicht können.


PPQ: Wer ist durch das Abkommen rechtlich gebunden, die Parteien, die Fraktionen, jeder einzelne Abgeordnete?

Hahnwech: Das kann man, glaube ich, so eingeschätzt werden, dass die Unterzeichnenden, also die Parteiführer, hier eben der Herr Schuld und die Merkel, haftbar sind. Klappt nicht, was sie sich im Sinne gemeinsamen Machterhalts zugesagt haben, verlören sie am Ende ihre Posten. Deshalb gibt es Bestimmungen des Abkommens, die scheinbar die Fraktionen binden. Doch wir müssen dieses Wort in Anführungsstriche setzen, denn gebunden werden können Fraktionen nicht. Und es gibt eine Reihe von Bestimmungen, die nur die Vorsitzenden der Fraktionen binden, weil die sich ihrerseits verpflichtet - auch wieder in Anführungsstriche gesetzt: verpflichtet - haben, ihrerseits auf ihre Fraktionsmitglieder einzuwirken, mit einem Fraktionszwang, den die Verfassung nicht vorsieht, politische Entscheidungen in einem bestimmten Sinn durchzusetzen, von denen die nach Gewissen freien Abgeordneten heute noch nicht einmal wissen, was es für welche sein werden und was vereinbart wurde, wie sie dann abzustimmen haben.

PPQ: Wer sind die vertragschließenden Partner bei diesem Abkommen?
Hahnwech: Ich würde sagen: Die vertragschließenden Partner sind die Fraktionsvorsitzenden, vielleicht auch die Parteivorsitzenden.

PPQ: Welche juristische Qualität haben die Fraktionsvorsitzenden?
Hahnwech: Sie sind die Sprecher ihrer Fraktion, sie haben keine Entscheidungsbefugnisse, sondern sind im Grunde das Sprachrohr der Mitglieder ihrer Fraktionen, also verfassungsrechtlich gesehen. dass sie dafür eine Zulage bekommen, ändern nichts daran, dass es sich rechtlich mehr um Pressesprecher als um "Chefs" im herkömmlichen Sinne handelt. Der Fraktionsvorsitzende verkündet Vorschläge und Beurteilungen der Fraktion im Bundestag, seine ganze "Macht" bezieht er allein aus der Geschäftsordnung des Bundestages.

PPQ: Das würde bedeuten, daß die Sprecher der Fraktionen ihre Fraktionen und die Chefs der Partei ihre Partei rechtlich gebunden haben durch ein Abkommen, dessen Inhalt sie ausweislich Martin Schulds Ansagen im Fernsehen selber nicht ganz kennen und verstanden haben und von denen sie zudem nur glauben, sie hätten eine rechtliche Relevanz?

Hahnwech: Nun, man kann Verträge auch einhalten, die schwebend unwirksam sind. In den Fraktionen weiß ja offenbar niemand, dass kein einziger Abgeordneter durch diese 170 Seiten rechtlich gebunden ist, sich also an den Inhalt nicht halten muss.

PPQ: Die abschwächende Formel, nach der sich die Fraktionsvorsitzenden lediglich verpflichten, darauf hinzuwirken, dass bestimmte politische Richtlinien beachtet werden, steht nicht in den ersten Absätzen des Koalitionsabkommens. Da steht vielmehr die eindeutige Verpflichtung, etwas Bestimmtes zu tun beziehungsweise zu unterlassen, nämlich vier Jahre lang, mag kommen, was will, diesen Koalitionspakt einzuhalten. Und da heißt es nicht, daß man darauf hinwirken will, sondern: Wir verpflichten uns.

Hahnwech: Wir verpflichten uns wir, die wir es gesagt und unterschrieben haben. Aber schauen Sie doch, der Herr Schuld hat ja nun schon eine andere Beschäftigung gefunden.

PPQ: Wie lässt sich denn so eine Koalitionsvereinbar mit Grundgesetzartikel 65 vereinbaren, nach dem der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin die Richtlinien der Politik bestimmt? Im Koalitionsabkommen bestimmen die Vertragspartner die politischen Richtlinien gleich für vier Jahre.

Hahnwech: Ich glaube nicht, dass die, die am Zustandekommen des Abkommens beteiligt gewesen sind, sich vorstellen können, dass diese Bundeskanzlerin - den nun wir alle seit zwölf Jahren als Regierungschefin kennen, in seiner ganzen Art und Weise, zu regieren und keine Entscheidungen zu treffen und wenn, dann auf eine ganz einsame Art -, dass sich diese Bundeskanzlerin in ihren Rechten, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, von einem Vertrag zwischen Bundestagsparteien beeinträchtigen lässt. Sie nickt und tut am Ende doch, was sie tut. das sagt die Erfahrung.

PPQ: Die Kanzlerin tut das. Aber darf sie zuvor auf dieses Recht der Richtlinienkompetenz verzichten? Sie kann im Einzelfall mit dem Koalitionspartner einen Kompromiss eingehen, das ist klar. Aber sie kann doch nicht schlechthin für die Dauer einer Legislaturperiode sagen: Der Artikel 65 des Grundgesetzes gilt die nächsten vier Jahre nicht.

Hahnwech: Ich denke doch. oder hören Sie irgendwo Widerspruch, Bedenken?

PPQ: Erlaubt ist, was durchgeht?
Hahnwech: Richtlinien der Politik sind bekanntlich die großen politischen Entscheidungen, die sogar das Kabinett binden, die jeden Bundesressortminister binden, die nicht einmal durch das Kabinett revidiert werden können.

PPQ: Das Abkommen verpflichtet also die Kanzler nicht, sondern die Kanzler verpflichtet sich.

Hahnwech: Die freie Entschlussmöglichkeit der Kanzlerin, jederzeit so zu entscheiden, wie es im Koalitionsvertrag vereinbar wurde, ist in keiner Weise beeinträchtigt.

PPQ: Aber eine juristische Garantie gibt es dafür nicht?
Hahnwech: Nein. Sie nennen es "Vertrag", können aber zu keinem Gericht laufen, wenn einer der drei Vertragspartner vertragsbrüchig wird. Eine juristische Garantie gibt es in dem ganzen Abkommen an keiner Stelle. Ungeachtet dessen, was da medial angeboten wird, folgen aus dem Abkommen keine Rechtspflichten und Ansprüche im Sinne unserer überkommenen Rechtseinrichtungen. Damit ist das Abkommen verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch und allgemeinpolitisch irrelevant, was auch die Voraussetzung ist, dass es ganz bestimmte Wirkungen erzielen kann.

PPQ: In dem Abkommen steht, daß die Vertragspartner vier Jahre lang den Pakt halten wollen, gleichviel, was in der Politik auch immer passieren mag. Das bedeutet doch, daß der einzelne Abgeordnete in seiner Gewissensfreiheit, mithin in seiner Entscheidung durchaus beeinträchtigt ist.

Hahnwech: Das glaube ich nicht, auch nicht bei Betrachtung unserer Verfassung und, wenn ich einmal sagen darf, weil die Verfassung des Bundestages, das ist seine Geschäftsordnung, die steht dann höher. Wenn ein Abgeordneter, eine Gruppe von Abgeordneten sich in ihrer Fraktion mit einem Antrag durchsetzen, das Koalitionsabkommen zu kündigen ...

PPQ: Es gibt keine Kündigungsklausel ...
Hahnwech: ... dann ist es rechtmäßig gekündigt, obwohl eine Kündigungsklausel darin nicht enthalten ist.Es ist ja auch kein Vertrag im herkömmlichen Sinne, weil sich Verträge nicht für andere schließen lassen.

PPQ: Dann der sogenannte Koalitionsvertrag nichts anderes als die Bekundung von Loyalität mit dem Versprechen, all die kleinen Details, die man sich ausgedacht hat, so lange umzusetzen, bis einer es sich anders überlegt?

Hahnwech: Nur so geht es, und selbst dann nur eingeschränkt. Sie müssen natürlich den Druck auf die Abgeordneten aufrechterhalten, damit die mitziehen. Das können Sie dann als Parteiführung nur tun, indem sie ihnen ankündigen, dass nur Wohlverhalten im Sinne der Parteiführung eine Fortsetzung der Karriere möglich macht. Aller Erfahrung nach ist das aber vollkommen ausreichend.



3 Kommentare:

Casper von Milz hat gesagt…

Dad Netzdg wurde von weniger als 50 Abgeordneten verabschiedet. Wichtig ist, dass es nicht mehr Gegenstimmen gibt. Mehrheit im Bundestag bedeutet “Mehrheit der Anwesenden“. Fraktionsdisziplin ist überflüssig.

ppq hat gesagt…

das stimmt nicht ganz. jede fraktion kann nach einem rundblick auf das häuflein anwesender jederzeit fordern, dass die beschlussfähigkeit festgestellt wird. das ist nur der fall, wenn mehr als die hälfte der bt-mitglieder im sitzungssaal anwesend sind.

es hat sich aber eingebürgert, ist ja auch bequemer, dass danach niemand fragt. die fraktionen sprechen ab, wer wie viele leute schickt, so dass die verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. die anderen können dann wahlkreisarbeit machen, essen gehen, den hund ausführen, in arbeitskreisen und ausschüssen sitzen und sich mit dem wiederaufbau ihrer parteien beschäftigen.

gäbe es eine partei, die aus dem konsens ausschert, wäre es um die komfortzone geschen, im nu

Casper von Milz hat gesagt…

Jetzt, wo die "Schlimmen" (Bernd Zeller) im Bundestag sitzen, könnte es etwas ungemütlicher werden. Groko+Grüne haben aber eine satte Mehrheit.