Donnerstag, 18. Februar 2021

Sehnsucht nach Impfstoffresten: Im Wartesaal der Zukunft

Seit drei Wochen campiert Horst L. (hinten rechts) in der Hoffnung auf abendliche Restimpfdosen im Impfzentrum in Bautzen.

Er ist seit drei Wochen hier, jeden Tag. Und es besser geworden, sagt er, viel besser. Horst L., der ein Leben lang als Fernkabelleitungsmonteur gearbeitet hat, schaut zufrieden zurück auf, das, was er selbst "seine verrückte Corona-Zeit" nennt. Vier Wochen im Ballon, sagt er, jede Nacht im Schlafsack, anfangs noch draußen im Gebüsch am Parkplatz vor dem großen Impfzentrum im sächsischen Bautzen (Name geändert), wo täglich geheime Lieferungen mit dem kostbaren Impfstoff von Moderna und Biontech eintreffen, penibel abgeschirmt und unauffällig. 
 

Der Mann, der warten kann

 
L., ein immer noch stattlicher Mann von 82 Jahren, straffe Körperhaltung, schmale Brille, dunkler Parka und feste Boots an den Füßen, lebt hier, seit er einen Entschluss gefasst, der sein Leben verändern, vor allem aber es retten soll. "Ich war es nach dem 270. Versuch leid", sagt er über seine Versuche, über die Impfhotline des Bundes oder die Internetadresse an einen Impftermin zu kommen. "Es ging einfach nicht."
 
Ein Gespräch beim Bäcker machte den gelernten Fernmeldemechaniker der früheren deutschen Post dann hellhörig. "da erzählte doch eine ältere Dame in meinem Alter, dass es ihr genauso ging." Dann aber habe sie eines Abends aus dem Fenster geschaut und gesehen, dass vor dem hellerleuchteten Impfzentrum kein einziges Auto mit Impfwilligen mehr gestanden habe. Spontan und ohne großen Plan sei sie dann gemeinsam mit ihrem Mann einfach mal rüber geschlendert, das war noch vor dem großen Schnee und Ausgangssperre sei auch gerade nicht gewesen. 
 

Immer wieder Restepanik

 
Es stellte sich als tolle Idee heraus", berichtet Horst L., "denn im Impfzentrum war gerade große Panik." Kurz vor Ladenschluss hätten noch sieben aufgezogene Spritzen herumgelegen, allerdings mangelte es an impfberechtigten Impfwilligen. Zum Glück habe der Wachschutzmann am Tor das gerade gehört gehabt. "Der winkte die Frau und und ihren Mann gleich durch und eine halbe Stunde später waren beide immunisiert."
 
Horst L. gründete seinen persönlichen Plan zum Überleben in der Corona-Krise auf dieses kleine Erlebnis. "Ich dachte mir, wenn ich vor Ort bin, wenn sich wieder einmal ein Impfrest angesammelt hat, dann werden die mir den ja schon geben, sind ja keine Unmenschen." Da er selbst aber auf einem Dorf lebe, mehrere Kilometer entfernt vom Impfzentrum, das in schneehellen Nächten weithin in die Region ausstrahlt, habe er beschlossen, dorthin zu ziehen. "Ich war bei der Armee früher", sagt er, "mir macht es sicher nichts aus, auch mal draußen zu übernachten."
 

Zwei Lagen Unterwäsche

 
Mitte Januar zog der rüstige Senior also um. Gewappnet mit zwei Lagen Unterwäsche, einem kleinen Zelt, einer Kiste kleiner "Jägermeister"-Fläschchen "gegen die Kälte" (L.) und einem dicken Daunenschlafsack, schlug er sein Lager im Gebüsch vor dem IZ auf, Blickrichtung Einfahrtstor. "Somit kann ich jederzeit sehen, was dort vorgeht." L. hat einen Gaskocher dabei, genug Essen für jeweils drei Tage. Zwischendurch, so hatte er beschlossen, würde er immer mal nach Hause fahren, um zu duschen. 
 
Es ist ja meist auch gar nichts los im IZ, weil mangels Impfstoff zu ist. Zu Beginn sei er sehr enttäuscht vom Start in die größte Impfkampagne der Geschichte gewesen, gesteht Horst L. "Ich konnte Impfwoche für Impfwoche sehen, dass es kaum voranging." Die Impfstoffreste, auf die er spekuliert habe, gab es anfangs kaum, weil es insgesamt kaum Impfstoff gab. "Das bisschen, was übrigblieb, wurde dann natürlich sofort an örtliche Funktionäre gegeben, die durch ihre Arbeit im Katastrophenstab besonders gefährdet sind", sagt der Impfstoffjäger einsichtig.
 

Ausharren bis zum Piks

 
Dennoch sei er entschlossen gewesen, nicht aufzugeben, bis er seinen Piks erhalten habe. Als der große Schnee kam, kam dann auch Hilfe. L. hatte sich inzwischen mit mehreren Mitarbeitern der Schutzwache des Impfzentrums angefreundet, auch die Schwestern, Pfleger und Ärzte, Reinigungskräfte und Listenbuchhalter der Einrichtung waren ihm nicht mehr fremd. "Man kennt sich, ab un dzu bringt mir jemand vom IZ auch schon mal einen Kaffee oder einen Tee vorbei." Natürlich imemr mit Abstand, immer mit Maske. "Wir sind alle Profis hier."
 
Entsprechend machte man sich im IZ wohl auch Sorgen, als die Temperaturen in der ersten Nacht der Schneekatastrophenzeit in den Keller gingen. Horst L. schmunzelt, heute gesteht er, dass er diese Nacht nicht im Zelt, sondern bei einer Bekannten "um die Ecke" verbracht habe. Doch morgens war er wieder am Ort, gerade richtig, um vom Chef des IZ eingeladen zu werden, künftig in der Einrichtung auf seine Impfung zu hoffen. "Wir haben Platz", ließ der Herr Professor mir bestellen, zugleich aber stellte er klar, dass ich nicht glauben solle, dass durch meinen Einzug gleich ein zusätzliches Döschen übrigbleiben werde."
 

 Ein eigenes Eckchen im Wartesaal

 
Nach fast fünf Wochen im IZ weiß das niemand besser als Horst L. Jeden Tag wartet er, mucksmäuschenstill in einen Schlafsack gekuschelt ganz am Ende des großen Warte- und Trennbereiches des IZ, der für 12.000 Menschen ausgelegt ist, derzeit aber nur von etwa 17 am Tag benutzt wird. Immer wieder mal habe es ausgesehen, als bleibe eine Spritze übrig, schildert er, aber immer gelang es den Angestellten des IZ dann doch noch, einen Hochrisikopatienten aus der Gruppe 1 zu erreichen, die Überachtzigjährige, Pflegepersonal, Ärzte und ausgewählte Verwaltungsmitarbeiter umfasse. 
 
Das ist für mich schade, aber ich verliere den Mut nicht", sagt L. Er sei sich sicher, dass die große Impfkampagne eines Tages richtig in Gang kommen werde, "muss sie ja", sagt er. Schon heute, hat Horst L. ausgerechnet, müssten bundesweit täglich über 500.000 Impfungen verabreicht werden, damit das Wahlversprechen der Bundeskanzlerin wahr werde, bis zur Bundestagswahl 70 Prozent der Bevölkerung zu impfen. "Zuletzt wurden aber nicht mal 70.000 am Tag geimpft." Es müsse also beschleunigt werden, dann stügen auch seine Chancen auf einen Restepiks außer der Reihe. "Ich bleibe Optimist, bin aber auch Realistiker", sagt L., "und als der weiß ich, dass die Alternative zum Warten hier im IZ mich noch schlechter dastehen lässt."
 
Selbst in seiner Altersgruppe sei es dem berühmten Organisationstalent der Deutschen ja gerade mal gelungen, in den ersten knapp acht Wochen um die acht Prozent der Hochbetagten zu impfen. "Wenn ich mir ausrechne, dass es natürlich mehr 70-Jährige gibt, dann wird man mit denen nicht vor Ende Juni durch sein." 

L. hofft, bis dahin mit seiner Impfung durch zu sein. "Ich setze große Hoffnungen in Astrazeneca, da will ja kein Mensch den Impfstoff haben." Umso größer würden die Reste sein, die in den nächsten Tagen übrigbleiben. "Dadurch fällt bestimmt auch bald was für mich ab", sagt er, winkt einer Impfschwester zu und geht langsam zurück zu seinem improvisierten Lager am Rand der großen Impfhalle des Volkes.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich bin tief ergriffen, ich nominiere diesen Text für den Literatur Nobelpreis.

Anonym hat gesagt…

Bewundernswert! Vermutlich träumt er jede Nacht, dass Ursula von der Leyen durch die Türe schreitet und ihm eine Impfdosis verpasst, die sie persönlich auf europäischer Ebene für ihn beschafft hat.

Anonym hat gesagt…

Sepp wäre auch gerne ein Gutschreiber - ist aber nur klein und dumm

Gerry hat gesagt…

Jeder hat so seine schräg/schrillen Geschichten mit C.

Der Sanitäter mit seinem Banditentuch neben der jungen Frau scheint auch ein Coronaablehner zu sein. Lobenswert, wie die Politik diesen Maskenwildwuchs eindämmt und jeden, aber auch jeden per FFP2/medizinische Maskeblabla-Tragzwang mitnimmt. Damit alle am gleichen Strang in dieselbe Richtung ziehen.