Es ist ein überaus faires, transparentes Verfahren, über hunderte von Jahren antrainiert und perfektioniert. Wer in Deutschland Einkommen erzielt, der muss Steuern zahlen, wer vom verbliebenen Netto etwas kauft, muss Steuern zahlen. Und wer mit dem Rest spart, muss eventuelle Gewinne versteuern. Bleibt am Lebensende zu viel übrig, sind die Erben dran. Sie haben auf den Nachlass Steuern zu zahlen.
Doch das System ist bei weitem nicht perfekt. Wie das Spremberger Zentralinstitut für schwierige Gerechtigkeitsfragen (ZISGF) in einer Studie für das Bundesfinanzministerium feststellt, klaffen bei selbstangesparten Lebensversicherungen bis heute eklatante Lücken. "Wenn der Vertrag vor 2005 abgeschlossen wurde, bleibt die Auszahlung komplett steuerfrei", sagt Rolf Karvatz. Einzige Voraussetzung sei, dass der Vertrag mindestens eine Laufzeit von zwölf Jahren erreicht habe und Beiträge über wenigstens fünf Jahre lang eingezahlt worden seien.
Steuerfrei für Anspruchsberechtigte
Nicht nur die Rückzahlung des angesparten Kapitals, sondern auch der sogenannte Ertragsanteil werden dann steuerfrei an die Anspruchsberechtigten ausgeschüttet. Die könnten dann meist sogar wählen, ob sie sie ihr Geld als monatliche Rente bis zum Lebensende oder auf einen Schlag am Stück erhalten wollen.
"Für die Berechtigten macht das keinen Unterschied", erklärt Karvatz. Bei der Entscheidung, auf welchem Weg das Geld in Empfang genommen werden soll, spiele nur eine Rolle, welche verbleibende Lebenserwartung der Vertragspartner für sich annehme.
"Wer hochalt wird, ist mit einer monatlichen Auszahlung besser dran", hat Karvatz errechnet. Dazu reiche es oft schon, etwa 95 Jahre alt zu werden. Auch bei einer solchen Zahlung über Jahrzehnte falle nur eine Steuer auf den sogenannten Ertragsanteil an. Die sei so gering, dass mit den Beträgen kein Finanzminister große Sprünge machen könne.
Ausgehebeltes BFH-Urteil
"Zwar ist diese Praxis bereits 2021 vom Bundesfinanzhof (BFH) (VIII R 4/18) als ungesetzlich verworfen worden. Mit dem Jahressteuergesetz 2024 aber sei das BFH-Urteil gezielt ausgehebelt worden. "Die Versicherungsträger müssen Rentenzahlungen wieder als steuerpflichtige Einkünfte melden, die Finanzämter erheben dann Steuern darauf." Die Hoffnung des damaligen Bundesfinanzministers Christian Lindner sei gewesen, dass es um so geringe Beträge gehe, dass nur wenige Widerspruch einlegen. "Viele wissen ja nicht einmal, dass sie das könnten."
Aus Sicht nachhaltiger Gerechtigkeit, wie sie die Parteien der Mitte seit Jahrzehnten herzustellen angetreten sind, sei das ein Schritt in die richtige Richtung. Zugleich aber zeige das Vorgehen, wie tief die Kluft zwischen Menschen ohne Lebensversicherung, Menschen mit Renten aus Lebensversicherungsverträgen und Menschen sei, die sich für eine Kapitalauszahlung entscheiden. "Wer das tut", warnt Kravatz, "bekommt sein Geld nämlich weiterhin steuerfrei".
Rückkehr der Anlagebesteuerung
Zwar hätten die damalige Bundesregierung und der Bundestag Anfang des Jahrtausends beschlossen, dass auch auf Gewinne aus langlaufenden Verträgen ab 2005 Einkommen- oder Abgeltungssteuer fällig wird. Doch Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sich vorher einen entsprechenden Vertrag zugelegt hätten, seien bis heute privilegiert.
Die Dimension des Steuerbetrugs ist erschreckend. "In Deutschland wurden im vergangenen Jahr knapp 100 Milliarden Euro an Versicherte ausgezahlt", klärt Experte Rolf Karvatz auf. Begünstigte vereinnahmen das angesparte Geld "in einem großen Happen", wie er formuliert. Bis zu 25 Milliarden Euro plus Solidaritätszuschlag entgingen der Gemeinschaft auf diesem Weg. "Das ist der Betrag, den die Finanzämter beanspruchen, wenn die Menschen in Fonds, ETFs oder Einzelaktien investiert haben, die sie mit Gewinn verkaufen."
Ein Drittel für Vater Staat
Der damalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück hatte die bis dahin geltende Spekulationsfrist im Jahr 2008 abgeschafft, um kleine Anleger vor dem Zinseszinseffekt zu bewahren. Egal, wie lange Kleinsparer eine Aktie oder einen Fonds im Depot haben, beim Verkauf wird am Ende immer eine Abgeltungssteuer auf Zinsen und Kursgewinne fällig. Diese kräftige Steuererhöhung hatte Steinbrück mit der notwendigen Vereinfachung bürokratischer Verfahren begründet. Statt komplizierte Steuervordrucke für Kapitalerträge auszufüllen, führen Deutschlands Anleger seitdem pauschal ein knappes Drittel ihrer Gewinne ans Finanzamt ab.
"Warum nicht auch bei Lebensversicherungen?", fragt der auf Finanzgerechtigkeit spezialisierte Gesellschaftsforscher Kravatz. Er hält die Steuerfreiheit für langjährige Lebensversicherte für ein äußerst fragwürdiges Privileg. "Wir reden hier schließlich von einer Generation, die oft freundlich als Boomer, zutreffender aber als Raff-Rentner beschrieben wird."
Gewinne für Kreuzfahrten
Gerade diesen Menschen, die ohnehin schon die besten Jahre der Republik im sogenannten besten Alter hatten erleben dürfen, werde mit den häufig präferierten Einmalzahlungen "mit einem Schlag unsinnig viel Geld hinterhergeworfen, das sie oft gar nicht brauchen". Das seine ja häufig "genau die Leute, die zu zweit in viel zu großen Wohnungen mit niedriger Miete oder gar in einem eigenen abbezahlten Haus leben."
Die Folge sei, dass das, was sie im Laufe der Jahre in der Lebensversicherung angespart hätten, "unsinnig für Kreuzfahren und Busreisen verpulvert" werde. "Oder sie stecken es in Aktien, Gold und Bitcoin." Und das in einem Land, das eine vollkommen verschlissene Infrastruktur mit bröckelnden Brücken und eine stillstehenden Bahn, zu wenig Geld für die Integration Schutzsuchender und kaum freie Mittel für die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine habe.
Schlupfloch für Superreiche
Trotzdem weigere sich auch die neue Bundesregierung, dieses kaum bekannte Schlupfloch für Superreiche zu stopfen. "Dabei empfiehlt selbst der Internationale Währungsfonds, ungerechte Steuerregelungen zu schließen, die einseitig Ältere bevorteilen." Ein Federstrich würde aus Kravatz Sicht reichen. "Als Peer Steinbrück damals die Steuerprivilegien für Anleger abgeschafft hat, ging das doch auch."
Dass die Ampel-Koalition trotz ihrer beständigen Geldnöte daran gescheitert sei, für eine Vielzahl immobilienbesitzende Steuerpflichtige und Immobilienunternehmer empfindliche Steuerverschärfungen durchzusetzen, dürfe das schwarz-rote Bündnis nicht abschrecken. "Aber schon im Koalitionsvertrag haben beide Seiten diesbezüglich für eine Leerstelle votiert."
Die CDU rückt von früheren Forderungen ab
Für die CDU sei das zwar ein großer Schritt gewesen. "Sie hat ja über Jahre angekündigt, zum Halbeinkünfteverfahren zurückkehren zu wollen, um mehr Steuergerechtigkeit und verbesserte Anreize für die Anlage in Aktien zu schaffen." Dass die Regierung aber bei Alt-Lebensversicherungen immer noch "Geld mit vollen Händen aus dem Fenster wirft, kann kein Dauerzustand bleiben".
Wer höhere Vermögen- und Erbschaftsteuern fordere, um die schwächelnde deutsche Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen, könne nicht nur parallel Beiträge zu den Sozialkassen erhöhen und mit neuen Zöllen, Grenzabgaben und Klimabußen Dampf für mehr Wachstum machen. "Er muss auch zur Schließung von Schlupflöchern bei Lebensversicherungsbegünstigten bereit sein." Auch die Linksfraktion im Bundestag hatte schon bei der Bundesregierung nachgefragt, ob sie diese millionenschweren Schlupflöcher schließen will und warum nicht. Die Antwort der Bundesregierung war knapp und eindeutig: "Konkrete Maßnahmen im Sinne der Fragestellung sind aktuell nicht geplant".
Armutszeugnis für die Aufbruchskoalition
Ein Armutszeugnis für eine Koalition, die von einem sozialdemokratischen Vizekanzler geführt wird, der nicht müde wird, seine leeren Kassen zu beklagen. Lars Klingbeil fehlen 172 Milliarden Euro in der Haushaltsaufstellung bis 2029, 30 Milliarden werden bereits für das Jahr 2027 benötigt. Doch weil im 146 Seiten langen Koalitionsvertrag kein einziges Mal das Wort Lebensversicherungsbesteuerung auftaucht, duldet auch der SPD-Chef das Fortbestehen der "skandalösen Gerechtigkeitslücke" (Rolf Kravatz). "Dabei weiß Herr Klingbeil genau, dass diese Ungerechtigkeit des deutschen Steuersystems unter Expert*innen seit Langem bekannt ist."


3 Kommentare:
Dabei wäre die Herstellung von Steuergerechtigkeit doch so einfach: Alle Einnnahmen gehen ans Finanzamt und das verteilt die Kohle dann nach Festegungen Unsererdemokratie.
"Alle Einnnahmen" - das reicht doch auch nicht mehr. Es gibt nichts zu verteilen!
Grämt euch nicht. Dass die Strippen ganz woanders gezogen werden, als man wähnt, wussten und sagten schon Disraeli, Rathenau, Tolkien ...
Wir selbst "dun nur so, als ob wir däten" - (Tucholsky). Aber anderseits, es ist zum Speiben, wie die Masse den Kakao, durch den sie gezogen wird, auch noch mit Genuss schlürft.
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