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| Mit ihrem flotten Spruch "Wir schaffen das" beruhigte Angela Merkel vor zehn Jahren Millionen. Woher aber stammte der magische Satz? Forscher haben es herausbekommen. |
Sie trug einen ihrer berühmten Blazer, diesmal in lachs, eine schmale goldene Kette und ein weißes Leibchen. Angela Merkel saß an jenem 31. August 2015 auf der großen Bühne in Berlin und sie war gefordert wie selten. Diesmal galt es für die Bundeskanzlerin, den Kleinmut zu vertreiben, die Zweifel und die miese Stimmung, die sich im Lande breitmachten.
Buhrufe drohten, den Bahnhofsapplaus zu übertönen, der die Zufluchtsuchenden aus aller Welt empfangen hatte, denen Merkel freies Geleit und kostenlose Aufnahme auf unbegrenzte Frist versprochen hatte. Es murrte selbst in ihrer eigenen Partei, in der mancher nicht nachvollziehen wollte, dass eine Naturwissenschaftlerin wirklich glaubte, in ein Gefäß mit begrenztem Volumen passe - guten Willen vorausgesetzt - eine unbegrenzte Menge an Inhalt.
Bewältigung der Flüchtlingssituation
Merkel sprach auf der Pressekonferenz, überschrieben "Zur Bewältigung der Flüchtlingssituation", allerlei Fragen an. 15 Minuten lang nahm sie Stellung, sie lobte die deutschen für ihre Duldsamkeit und Langmut, sie sprach ihnen ihr Vertrauen aus, nur mehr leisten zu können. „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - Wir schaffen das".
Es folgte gleich noch ein "Schaffen", Betonung durch Wiederholung. "Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden." Der Bund werde "alles in seiner Macht Stehende tun - zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen -, um genau das durchzusetzen."
Ein Augenblick, der geblieben ist
Der Augenblick, der bleiben wird, weil er den Weg ebnete zur Grenzöffnung vom 5. September, die später vielfach geleugnet wurde, aber ausweislich der Angaben des früheren US-Präsidenten Barack Obama doch stattgefunden haben muss.
Angela Merkel, gebürtig in Hamburg und doch ein Kind der DDR, schaffte, was kaum einem Kanzler vor ihr gelungen war: Sie veränderte das Land nicht ein bisschen und nicht vorübergehend. Sondern mehr als jeder ihrer Vorgänger in kürzerer Zeit und dauerhafter, nämlich für immer.
Umstrittener Umstand
So umstritten der Umstand ist, ob es sich bei Merkels Entscheidung aus der Nacht auf den 5. September, eine aus Richtung Budapest heranmarschierende große Gruppe nicht an der österreichischen Grenze zurückzuweisen, um eine Grenzöffnung handelte, so unklar ist bis heute, woher die damals 61-Jährige die Inspiration für ihren historischen Satz nahm.
Die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin hat später mehrfach betont, sie sei nicht involviert gewesen. Auch enge Beraterkreise der Kanzlerin haben sich nie geäußert und Vertraute aus der Partei schwiegen ebenso konsequent.
Großzügiger als seit der Völkerwanderung
Der Satz wirkte, das konnte Merkel spüren. Sie hatte es geschafft, mit seiner Hilfe ein ganzes Volk zu beruhigen. Am 13. September 2015 entscheidet sie daraufhin, dass es generell keine Zurückweisungen an der deutschen Grenze mehr geben wird. Die Karnevalsfrage, ob mer se rinlasse wolle, wird nicht gestellt. Es ist entschieden.
Eine Einladung, wie sie großzügiger seit der Völkerwanderung nicht mehr ausgesprochen worden ist. Bis zum Sommer 2016 kommen rund 1,4 Millionen Geflüchtete nach Deutschland, die meisten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, drei Nachbarländern in mehreren tausend Kilometern Entfernung.
Jeder, der kam, musste eine ganze Handvoll sicherer Staaten durchwandern. Jeder, der kam, durchquerte zwangsläufig sichere EU-Staaten und verwirkte damit faktisch automatisch sein Recht, in Deutschland aufgenommen zu werden. Ein Paradoxon.
Der magische Satz
Merkels magischer Satz aber, zusammengesetzt auch nur 14 Buchstaben, setzte Recht und Logik außer Kraft. Der Ausspruch wurde zu dem historischen Zitat der Kanzlerin. Er machte sie zur mächtigsten Frau der Welt, denn mit ihm hatte sie gezeigt, dass wirklich Macht nicht Gewehre, Gesetze oder skrupellose Gefolgsleute in großer Zahl braucht. Sondern einzig und allein den bedingungslosen Glauben von Millionen, die da oben wüssten allemal besser, was gut und richtig ist.
Merkel wusste es nicht, das ist zehn Jahre später unverkennbar. Unbekannt aber war bisher, woher sie sich den wirkungsmächtigen Satz geholt hatte, mit dem es ihr gelang, die furchtsamen Reaktionen auf den starken Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland zu beschwichtigen. Das sprachliche Bild vom "Wir", das etwas "schaffen" werde, verschaffte ihr Prokura dafür, den Bürgerkrieg in Syrien als ein deutsches Problem zu behandeln, das in Deutschland gelöst werden müsse. Sie musste kein Parlament fragen. Sich keiner Wahl stellen. Das Wir-schaffen-das-Wunder allein bewirkte alles.
Sie war dankbar
Später ist Angela Merkel vielfach auf diese wolkige Formulierung zurückgekommen. Sie hat sie zum Markenkern ihrer auf Verwaltung und Verzögerung ausgerichteten Politik gemacht. Man habe „ein freundliches Gesicht gezeigt“, wie Merkel später formuliert hat, als sie „auch heute noch überzeugt" war, "dass das in diesem Moment und in dieser Situation die richtige Entscheidung war".
Ihr Satz war so stark in der Außenwirkung, dass Merkel dauerhaft vollkommen darauf verzichten konnte, Details zu erwähnen. Zwar nannte sie Plätze "wo uns etwas im Wege steht". Als Rezept dagegen reichte aber der Hinweis, das müsse dann eben "überwunden werden", indem "daran gearbeitet werden" müsse, etwa vom Bund der "alles in seiner Macht Stehende tun" wird - "zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen -, um genau das durchzusetzen."
Was, wo, gegen wen?
Was, wo, gegen wen. Merkels Satz konnte und wollte es nicht durchbuchstabieren, denn wie Forschende des An-Institutes für Angewandte Entropie in Frankfurt an der Oder jetzt ermittelt haben, entstammt er einer völlig anderen Zeit, in der von einer "Herausforderung der Flüchtlingsaufnahme" durch ein "starkes Land, das bereits viele Herausforderungen erfolgreich bewältigt" habe, noch keine Rede sein konnte.
Auf der Suche nach dem großen, geheimnisvollen Ursprung des "Wir schaffen das" stießen die Wissenschaftler in der Literatur auf den britischen Autor Robert Harris, der fast zwei Jahrzehnte vor Merkels Weichenstellung das Fundament für ihren Geniestreich gelegt hatte. In seinem Roman "Aurora" - englisch "Archangelsk" - schickt der für Bestseller wie "Vaterland" und "Enigma" bekannte frühere BBC-Reporter den Historiker Fluke Kelso nach Russland, um an einem Kongress in Moskau teilzunehmen. Dort trifft er auf einen früheren Leibwächter des von Stalins Geheimdienstchefs Lawrenti Beria, der ihm von einem Tagebuch des roten Höllenfürsten berichtet, das er vergraben habe.
Gleichnis aus Sibirien
Kelso findet das Versteck der mutmaßlichen Dokumente. Er reist nach Sibirien, um Stalins geheimen Sohn zu suchen, den der sterbende Diktator von eingeschworenen Parteisoldaten hat zu seinem Nachfolger heranzüchten lassen. Dieser Sohn, ein Ungeheuer mit Stalins Aussehen und Stalins Geist, hält Kelso in seiner Behausung, die ebenso verfallen und verrottet ist wie das Russland der 90er Jahre, einen Vortrag über Treue und Verrat, Stalinschen Geist und Gottvertrauen, das in seinem Fall das Vertrauen in einen gottgleichen Führer ist.
Schon als junger Mann, berichtet Stalins Erbe, habe er "Erscheinungstendenzen des Rechtsabweichlertums" erlebt. Die Genossen, die in bewachten, aufzogen, ausbildete und schützen, glaubten nach den Radionachrichten vom Tod seines Vaters nicht mehr an die große Mission. "Oh, Genossen, in den Dörfern sagen sie, dass der Leichnam des Genossen Stalin von seinem ihm zustehenden Platz neben Lenin entfernt worden", jammern sie. "Oh, Genossen, es ist hoffnungslos, Genossen! Wir müssen uns ergeben!"
Die Fischer im Sturm
Das aber ist nicht, wie große Führungspersönlichkeiten reagieren. "Haben Sie je erlebt, wie sich Fischer verhalten, wenn auf einem großen Fluss ein Sturm aufzieht?", fragt der neue Stalin. Er habe es viele Male erlebt und gesehen, dass es zwei Typen von Fischern gebe - "diejenigen, die, wenn sie einen Sturm befürchten, den Mut verlieren, zu winseln beginnen und ihre eigenen Kollegen demoralisieren: Was für ein Unglück, ein Sturm zieht auf, legt euch hin, flach auf den Boden des Bootes, macht die Augen zu; wir können nur hoffen, dass wir irgendwie ans Ufer kommen."
Und diese anderen, die angesichts des Sturms ihre gesamte Kraft zusammen nehmen, die Kollegen ermutige und sich dem Sturm kühn entgegenstellen. "Nur Mut, Freunde, lasst das Ruder keine Sekunde los, zerteilt die Wellen", ruft Stalin junior durch seinen verfallenen Bau: "Wir schaffen das!"
"Rechtsabweichlerisches Geblök"
Danach, beschreibt Harris, spuckte der Russe bekräftigend auf den Boden. Es ist das Ende des "rechtsabweichlerischen Geblöks", das sich bis in den sibirischen Dschungel geschlichen hat. Das Ende von Zweifel und Kleingeist. "In den nächsten paar Jahren ging die stetige Arbeit weiter, geprägt von unseren vier Parolen: der Parole Kampf gegen Defätismus und Selbstgefälligkeit, der Parole Bemühen um Autarkie, der Parole Konstruktive Selbstkritik", sagt Stalin. Das "ist das Fundament unserer Partei und der Parole Aus Feuer wird Stahl!"
Angela Merkel muss beeindruckt gewesen sein. Kampf gegen Defätismus! Kampf gegen Selbstgefälligkeit! Bemühen um Autarkie! Konstruktive Selbstkritik! Aus Feuer wird Stahl! Öffentlich hat Merkel mehrfach erklärt, dass sie keine Krimis möge. Doch Harris' Buch ist weniger Kriminalroman als historischer Schnitzeljagd-Thriller, ein Metier, in dem auch die langjährige CDU-Vorsitzende tätig war. Merkel hat sich immer wieder bei großen Denkern Inspiration geholt.
Gorbatschows neues Denken
Gerhard Schröders "Reformen" gehörten zu Merkels Lieblingsfloskeln. 2015 übernahm sie mit dem "neuen Denken" eine Erfindung des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michael Gorbatschow, um die globale Einbettung Deutschlands trotz ihrer einsamen Grenzentscheidung zu betonen.
"Selten haben wir so hautnah erlebt, wie unser eigenes deutsches Handeln und Tun in eine globale Welt eingebettet ist", sprach sie und teilte noch tiefergehende Erkenntnisse, die ihr neu waren: "Dieses Jahr hat uns in umfänglicher Weise bewusst gemacht: Wir leben in einer gemeinsamen Welt." In der könne Zusammenarbeit die Probleme bewältigen, "wenn jeder seinen Beitrag leistet".
Angela Merkel landete schließlich wieder bei Robert Harris, Stalin junior und dem Gleichnis mit den Fischern: "Ich bin davon überzeugt, oder andersherum: Wir schaffen das".


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