Dienstag, 7. September 2021

Sorgenkind Ostdeutschland: Im Corona-Krisengebiet


Der Ostbeauftragte der Bundesregierung warnte wieder als erster, mit allem Nachdruck. Marco Wanderwitz, im Zuge der Thüringer Demokratiekrise ernannt, nahm angesichts der alarmierenden Zahlen kein Blatt vor den Mund: Bald, so der CDU-Mann, würden die Coronazahlen im Osten dramatisch steigen. Das Virus träfe dann dort auf einen weitgehend entvölkerten Landstrich, der von Ungeimpften, Leugnern und greisen Angehörigen der Hochrisikogruppen bewohnt wird. Das bereitet Wanderwitz bereitet das mit Blick auf das hochansteckende Delta-Virus, die vierte Coronawelle und den nahenden Herbst große Sorgen. 

Im Westen große Sorgen um den Osten

Sorgen, die nicht länger verschwiegen werden dürfen. Nur weil die Inzidenzen in Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz über hundert liegen,  kann das kein Grund sein, mit den 25er und 30er Inzidenzen in Thüringen, Mecklenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht Ängste zu schüren. "Bekommt der Osten bald ein Coronaproblem? Bekommt der Osten bald ein Coronaproblem?", fragt das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", das die Begriffe "Westen" und Coronaproblem" noch nie kombinieren musste. In den Ländern der früheren Bundesrepublik leben Menschen, die höhere Ansteckungsraten einfach wegstecken, achselzuckend. Zudem sind hier viel mehr Bürgerinnen und Bürger solidarisch: Die Impfquote in Bayern ist so zum Beispiel um 1,8 Prozent höher als die in Sachsen-Anhalt. Baden-Württemberg liegt sogar nur 0,7 Prozent hinter Mecklenburg-Vorpommern zurück.

Dort, wo die Zahl der neuen Fälle in den vergangenen sieben Tagen in die Zehntausende gingen, herrscht dementsprechend große Sorge, dass die vielen Reiserückkehrer aus den vermeintlichen Niedriginzidenzgebieten im Osten das Virus nun dorthin schleppen, wo es auf eine Gesellschaft trifft, die Corona durch konsequente Impfbereitschaft bereits besiegt hat.

Marco Wanderwitz kennt doch seine Ostdeutschen mit ihren diktaturbedingten Macken, Gebrechen und charakterlichen Verbildungen. Nur weil nie ein Fremder nach Hohenwulsch und Niedrigbachstein kommt, glauben sie, das Virus könne nicht herbeigeweht werden. Er kennt auch das hohe Ansteckungsrisiko, das die Wahl bestimmter Parteien statistisch nachweisbar mit sich bringt. "Das lässt sich nicht wegdiskutieren", befand etwa der BR24, ein Sender aus Bayern, einem Bundesland, in dem der Anteil der vollständig Geimpften niedriger ist als in Mecklenburg-Vorpommern, wo zuletzt 17,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihr Kreuz bei der Schwefelpartei gemacht hatten.

Halb so hoch kann doppelt steigen 

Man muss es nehmen, wie man es braucht, um einen deutlich wahrnehmbarem Effekt zu erzielen. So ist die Inzidenz in Mecklenburgnur halb so hoch wie in Bayern und die in Sachsen-Anhalt liegt bei nur einem Fünftel derer von Nordrhein-Westfalen. Aber: Sachsen droht dadurch womöglich in Bälde ein schneller Anstieg von derzeit 29,3 auf die fast 90, die der Bundeshauptstadt Berlin jetzt erweiterte Lockerungsübungen erlaubt. Zeit, vor dem Drohenden zu warnen, so Wanderwitz: "Einmal, weil das Virus gerade im Osten auf eine im Vergleich zum Westen hohe Zahl von Ungeimpften trifft, aber auch deshalb, weil hier die Zahl derjenigen groß ist, die die Schutzmaßnahmen verweigern."

Im Unterschied zu Marco Wanderwitz hat das seit Februar grassierende hochansteckende Deltavirus die Chance zum Glück noch nicht erkannt, den sich so naiv preisgebenden Osten weiter zu entvölkern. Also ist der Osten noch nicht verloren, er kann, wenn er denn "Spiegel" liest und Wanderwitz lauscht, errettet werden. Schlimmer als jede akute Gefahr ist stets die Gefahr, dass es gefährlich werden könnte. Denn was nicht ist, kann noch werden. Jeder jemals Verstorbene würde bestätigen, dass der Gedanke an den bevorstehenden Tod deutlich unangenehmer ist als das Totsein selbst.


Wahlversprechen: Mut zum Müssen

Das demnächst mehr gemusst werden muss, ist das Heilsversprechen der großen Parteien.

Sie liegen gut im Rennen, die sechs großen deutschen Parteien drei Wochen vor der Bundestagswahl, die wie immer wieder ein Schicksalswahl sein wird. Allen sechs etablierten Kräften dürfte der Sprung ins neue, mit knapp 1.000 Parlamentariern diesmal noch großartigere Parlament erneut gelingen - allenfalls die Linkspartei, seit Jahren auf dem Weg nach unten, könnte womöglich ein wenig zittern müssen. Als ahnten die Genossinnen und Genossen das, ist die pflichtanzeigende Vokabel das Wort, das im Wahlprogramm der mehrfach umbenannten SED am häufigsten vorkommt. Wer die Linke wählt, wird müssen müssen, das steht vorab schon fest, retten kann ihn nur noch der Umstand, dass es trotz Saskia Eskens Avancen auch diesmal nicht reicht für ein paar Plätze am Kabinettstisch.

Das große Muss

Müssen aber wollen auch alle anderen Wettbewerber, die einen mehr, die anderen etwas weniger. Bei der SPD, einem Auslaufmodell im Höhenflug, beflügelt durch den Respektsbotschafter Olaf Scholz, ist "Müssen" wie bei der Linken der Refrain im Wahlkampfschlager.  Getreu der alten Devise, dass die frühere Arbeiterpartei dazu berufen sei, "das tägliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu regeln", weil Freiheit Menschen doch immer nur auf dumme Gedanken bringt, setzt die deutsche Sozialdemokratie bei ihren Versprechen für die Zeit nach der Regierungsübernahme entschieden auf die Durchsetzung des Notwendigen durch Müssen. Watt mutt, datt mutt, wie der Norddeutsche sagt - Aufgaben und Forderungen, die der Bevölkerung aus dem SPD-Wahlprogramm erwachsen werden, sind von einer Natur, deren Erfüllung sie sich wird nicht entziehen können.


Vorhaben von Parteien sind stets mit einem Wollen abgefedert, Pflichten der Allgemeinheit aber tragen sich ein Müssen als Fahne voran. Einsicht in die Notwendigkeit ist Freiheit, freiwilliges Müssenwollen trägt die Handschrift auch der Unionsparteien. In einer alternativlosen Welt, die keine Entscheidungen mehr zur Wahl stellt, sondern nur die Möglichkeit lässt, freiwillig zu tun oder tun zu müssen, verwendet die jüngste sozialdemokratische Partei der Republik das autoritäre Müssen nicht ganz so häufig wie die linke Konkurrenz. Jedoch deutlich häufiger als Liberale, Grüne und Rechte. Müssen ist bei CDU und CSU Dienst an der Allgemeinheit, wer muss, achtet die Pflicht und gilt als tugendhaft

Mitmachen beim Müssen

Bei Angela Merkel wie bei Heiko Maas, dem anderen Vordenker des obrigkeitlichen Staates, ist das Mitmachen beim Müssen Grundlage einer "regelbasierten Ordnung", die überall dort gilt, wo sie sich widerstandslos durchsetzen lässt. Müssen als verbalisierte Pflicht leitet sich nicht ganz zufällig ab vom althochdeutschen Verb phlegan, das "Aufsicht führen" und "anleiten" bedeutet und sich später in das neuhochdeutsche pflegen verwandelte, das "sorgen für" und "die Gewohnheit haben, etwas zu tun" meint. Die Pflicht, geboren aus dem Wort pliht, steht für eine ganze Parade an Mitmachenmüssen: Pflege, Teilnahme, Gemeinschaft, Dienst, Obliegenheit, Sitte - alles, dem niemand entkommen kann, wenn er Teil der Gemeinschaft bleiben will.

"Deutschland schaffen Menschen wollen" hatte es vor Monaten in Angela Merkels letzter großer Rede, geheißen "Deutschland muss wollen Frauen Menschen Zeit Arbeit schaffen", glaubte der mittlerweile vergessene Gottkanzler Martin Schulz.Von Müssen war damals noch weniger die Rede, aber das musste sich dringend ändern. In Zeiten wie diesen, die schwer sind wie nie und aus Sicht der Generation Zentralheizung nur immer noch schwerer werden können, müssen andere Saiten aufgezogen werden, Saiten aus Stahl, die schrill klingeln bei jedem Anschlag: Niemals seit dem Beginn des 19. Jahrhundert, als Deutschland auf einer Welle der Pflichterfüllung surfte, war Müssen so wichtig wie heute, niemals wurde das Versprechen, bald noch mehr zu müssen, als Muss empfunden, das mit offenen Armen begrüßt werden muss.

Abfall an den Rändern

Grüne und Liberale haben das verstanden, doch sie sparen deutlich mit Versprechen, was alles in Zukunft gemusst werden sollen wird. "Menschen", "mehr" und "sowie" auf der einen Seite, "Freie Demokraten", "sowie" und "EU" auf der anderen laufen dem Müssen in den Wahlprogrammen der beiden Mehrheitsbeschaffungsformationen den Rang ab - die Wahlumfragen zeigen allerdings, dass Wählerinnen und Wähler diese Knauserigkeit nicht goutieren. Nach einem kurzen Höhenflug sind die Grünen in der Gunst der Wählenden abgestürzt, die FDP hat es mangels ausreichend Mut zum Müssen niemals so hoch geschafft, sie dümpelt nahe den Niederungen, in denen sich die Schwefelpartei mit einer nahezu kompletten Müssen-Leugnungsstrategie eingerichtet hat.

Die Koinzidenz ist unübersehbar. In Zeiten, in denen Menschen geführt und angeleitet werden wollen, in denen die entschiedensten Rebellen gegen das System sich nichts sehnlicher wünschen als zu einer Audienz bei Hofe empfangen zu werden, und koste es sie auch das Leben, führt der Weg zur Macht über das Müssen. In die letzte Schlacht um den Schicksalsberg, den hochaufragenden Thermopylen vor dem großen Klimakrieg, gilt kein "wir haben vor" und kein "wir möchten", kein "wir würden" oder "wir würden uns wünschen", nicht einmal ein "wir werden" oder ein "wir würden" ist erlaubt. Wir müssen müssen und wer als Partei auf sich hält, der macht sich ehrlich und droht an, was er vorhat: Was in jedem Fall muss, muss.

Das Volk will müssen

Das Volk will es doch auch und wo es nicht will, wird es müssen. In der spätrömischen Dekadenz der hochentwickelten Vorgabegesellschaft, in der Gerichte über Wetterschutzmaßnahmen für eine Zeit jenseits der Lebenserwartung der Richter urteilen, erspart jedes Müssen mehr eine freie Entscheidung. Buridans Esel war das Wappentier einer Zeit unendlicher Möglichkeiten, in der das vom Althochdeutschen willio wie der Wille abgeleitete Wollen regierte.

Frei sein, high sein, Terror darf gern dabei sein, hieß es dazumals, ehe sich die Ansicht durchzusetzen wusste, dass das Leben einfacher ist, wenn man tut, was einem gesagt wird.  Anschnallen. Mülltrennen. Zuhausebleiben. Wassersparen. Mitsternchensprechen. Die Sehnsucht danach, in einem Land zu leben, in dem einem andere zuverlässig sagen, was man zu tun und zu lassen hat, spiegelt sich in der Vollbedienung mit Müssens durch die Wahlprogramme. Hier wächst zusammen, was zusammengehört. Ein Muss.

Montag, 6. September 2021

Zitate zur Zeit: Vor dem Wiederaufbau

Der Wiederaufbau wird lange dauern.

Nach den Versuchen zahlreicher Medienhäuser zieht  Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals selbst Bilanz über ihre 16 Jahre im Amt.

Böhmermann: Keinen Meter den Menschenfeinden

Es ist ein wuchtiger Aufruf, den der beliebte Entertainer Jan Böhmermann da im Rahmen einer Diskussion beim Hamburger Wochenblatt "Die Zeit" ins Land geschickt hat. Warum noch, warum überhaupt Leute ins Fernsehen lassen, die Ansichten formulieren, aus denen die Menschenfeindlichkeit nur so tropft? Böhmermann, der wegen hoher Einschaltquoten in den Bionadeadelvierteln der Republik als moralische Instanz gilt, ließ dem Talkmaster Markus Lanz keinen Ausweg: Mit der Einladung "von so Leuten wie Hendrik Streeck und Alexander Kekulé, wo man fachlich wirklich sagt, das ist keine gute Idee" schade Lanz dem Kampf für eine allumfassende Einheitsmeinung und das wiederum torpediere alle Anstrengungen, Teile der Bevölkerung nicht zu beunruhigen.

Keine Plattform dem Feind

Ein Vorstoß, der beim journalistisch interessierten Südtiroler auf sichtlich Verblüffung stieß. Wer denn das sei, der sage, Streek und Kekulè hätten durch ihre Ansichten und Äußerungen das Recht verwirkt,  im Fernsehen auftreten zu dürfen?, frug der augenscheinlich bass erstaunte frischgebackene Anwärter auf den Deutschen Fernsehpreis. Jan Böhmermann, in Geschichte nicht der sicherste, aber Vorreiter der Wiedereingliederung von Nazi-Frauen, verweist auf "Leute", also "Wissenschaftlern", mit "denen du sprichst, die seit Jahren an diesem Thema forschen" - und dann komme das so ein "Hallenser Mikrobiologe, der nichts publiziert hat". Und meint, nun auch etwas sagen zu dürfen.

Das kann nicht richtig sein in Zeiten, in denen es ohnehin schon schwer ist, die ausufernde Diversität der Ansichten zum Umgang mit dem Corona-Virus einzuhegen. Selbst der Bundesregierung gelang es über die vergangenen Monate allenfalls tageweise, mit einer Stimme zu sprechen. In EU-Europa - Stichwort "Gesundheitsunion" - herrscht inzwischen völlige Maßnahmenanarchie, die sich weltweit fortsetzt, so dass enge Verbündete, die selbst zumindest teilweise auf die notwendige Maskenpflicht verzichten, Einreisenden aus dem konsequenten Maskenland Deutschland aber bis heute den Grenzübertritt verwehren.
 

Die Falschen neutralisieren

 
Wo soll das hinführen? "Wenn man Leuten eine Bühne gibt, die eine Meinung vertreten, die man nur deswegen veröffentlicht, weil man sagt, man muss auch die andere Seite hören", wie Böhmermann formuliert? In eine Welt, die den Falschen die Möglichkeit gibt, die Grundlagen der staatlichen Ordnung zu unterminieren, Fragen zu stellen, die niemand beantworten will, und eigene Erkenntnisse zum Besten zu geben, von denen "Wissenschaftlern, mit denen du sprichst, die seit Jahren an diesem Thema forschen", vielleicht sagen würden, sie seien ganz anderer Meinung?
 
Aus dem Blickwinkel des öffentlich-rechtlichen Meinungsaufsehers heißt es hier, klare Kante zu zeigen. "Meinungen, die sind so durchtränkt sind von Menschenfeindlichkeit" (Böhmermann) oder sogar "so motiviert sind von Dingen, die nichts damit zu tun haben", gehören draußen gehalten, neutralisiert durch einen cordon sanitaire aus bürgerschaftlicher Eigenverantwortung. An der fehlt es Lanz augenscheinlich ebenso wie am wissenschaftlichen Rüstzeug, fachlich sagen zu können, wen einzuladen eine gute Idee ist.

Böhmermann ordnet ein

Böhmermann dagegen hat auf der "Zeit"-Bühne nicht zum ersten Mal zu Fragen der Virologie, Epidemiologie und Mikrobiologie publiziert. Unvergessen ist seine wissenschaftliche Einordnung von Mitte August, als der TVologe Laschet-Lockerungen scharf als "unverantwortliche Scheiße" brandmarkte. Nordrhein-Westfalen hatte damals beschlossen, Schülerinnen und Schüler, die keine Symptome zeigen oder bereits vollständig geimpft sind, von Quarantäne-Regelungen auszunehmen - wenig später trafen die meisten anderen Bundesländer ähnlich verantwortunglose Regelungen, offenbar, ohne Böhmermann zu konsultieren, um von seiner Sach- und Fachkenntnis zu profitieren.
 
Das hat den 40-Jährigen spürbar verbittert. Seit seinem Ziegenficker-Gedicht sieht sich das ernsteste Gesicht in der Humorwüste Deutschland auf einer Mission gegen Abweichler, Andersmeinende und Anhänger falschen Glaubens. Erblickt er Schund und Schmutz im Fernsehen, noch dazu in seinem eigenen Sender!, tut ihm das unsagbar weh. "Manchmal frage ich mich", klagt er seinen Kollegen Lanz als einen der Verantwortlichen an, "warum einige Leute bei dir sitzen". Menschen, die Positionen beziehen, die "im Kern menschenfeindlich sind" (Böhmermann)! Wie jeder sofort erkennt, der sich wie Böhmermann schon verschiedentlich der Qual ausgesetzt sah, einer Gestalt zuhören zu müssen, die gänzlich außerhalb der Gemeinde der Wissenschaftler steht, mit denen Böhmermann spricht und die seit Jahren an diesem Thema forschen.

Unzuverlässigkeit ausschalten

 
Damit muss Schluss sein. Kein Fußbreit den Menschenfeinden, nicht in unserem Fernsehen, nicht in unserem Land. Um die Unzuverlässigkeit einzelner Redaktionen auszuschalten, die Jan Böhmermann zurecht beklagt, weil eine tiefgehende inhaltliche Kontrolle vielerorts gar nicht stattfindet, könnte die derzeit in der Planung befindliche Bundesdiskussionsbehörde (BDB) künftig vorgeschaltete Zulassungsprüfungen zur Erlangung der Bildschirmerlaubnis anbieten, bei denen unsichere Kantonisten und Abweichler, die "durchtränkt sind von Menschenfeindlichkeit" aussieben, so dass nur saubere und amtlich besiegelte Ansichten und Erkenntnisse über die Sender gehen.

Sonntag, 5. September 2021

Corona-Werbung: Künstliche Dummheit

Schlagzeilen für Suchmaschinen gehen kompromisslos an die Grenze dessen, was Relotius unerkundet gelassen hat.

Es ist keine Montage, aber eigentlich doch eine. Ein Kinosoldat aus dem Film "Der Überläufer" schaut halb ratlos, halb grimmig in die Kamera, das Gewehr angelegt, selbst aber auch bedroht von einer Pistole, die auf ihn zielt. Zur Erklärung steht die Überschrift "Verstoß gegen Corona-Regel: Jugendliche leisten heftigen Widerstand" oder manchmal auch "Jugendliche in Leipzig leisten heftigen Widerstand" unter der clickbait-Kachel, die von einer künstlichen Intelligenz aus möglichst vielen buzzwords angefertigt wurde, um über zahllose angeschlossene Internet-Sendeanstalten ausgespielt zu werden.  

Stahlhelm mit Sprengkraft

Sieht aus wie ein redaktioneller Artikel mit gewaltiger Sprengkraft, denn der vermeintliche jugendliche Corona-Leugner trägt eine Wehrmachtsuniform und Stahlhelm. Zudem spielt das alles in Sachsen, einem Landstrich, der - hätte Thüringen zuletzt nicht straff aufgeholt  - weiterhin als der verlorenste, dunkelste und verdächtigste in ganz Deutschland gelten würde.

Was hier über renommierte Adresse ausgespielt wird, hat aber eben nichts mit Nachrichten und noch weniger mit Journalismus zu tun als manch anderer leitmedialer Komplettausfall. Die bizarre Kombination von Nazi-Soldat und Corona-Schlagzeile verdankt sich allein dem Ziel, Suchmaschinen dazu zu bringen, die Reichweite der Seite zu erhöhen. Je krasser, desto geiler, je schlimmer, desto besser. 

Suchmaschinenoptimierte Wirklichkeit

Ein Text, der mit dem Halbsatz "diese Personenkontrolle verlief unschön", beginnt, vermag zu verwundern, verrät aber ihre Abstammung. Dergleichen entsteht im Setzkasten menschlicher Versuche, anzuspitzen und aufzublasen, was die Wirklichkeit an bedauernswerten Petitessen aus den Polizeirevieren in den Redaktionsalltag spült. Die künstliche Dummheit hochartifizieller Algorithmen geht ganz anders mit den Rudimenten einer Realität um, die häufig genug nur Langeweile zu bieten hat. 

Maschinen erschaffen Texte für Maschinen, der Mensch gehört zur Fruchtfolge, er ist das Produkt, das in einer Aufmerksamkeitsökonomie gehandelt wird. Der Mann mit dem Gewehr zielt nicht auf Corona-Kinder im Widerstand, nicht in Leipzig und nicht sonst irgendwo, wo eine IP-Adresse detektiert und die Schlagzeile entsprechend automatisiert angepasst wird, sondern auf die Vernunft der armen Toren, die durch eine Suchmaschine hierher geleitet wurden. 

Klick mich, ich bin wichtig

Klick mich, ich bin wichtig, ruft die absurde Zusammenstellung aus Kinofantasie und freier Dichtung aus dem Serverraum einer Zeit, die  kompromisslos an der Grenze des Landes lebt, das Claas Relotius unerkundet verlassen musste. Hier produziert eine weltweite Unsinnsindustrie himmelhohe Halden aus Schwachsinn, Dreck und traurigen fake news. Von den Bundesprüfungsprogrammen für sauberen web content werden die Schwindelschmieden allerdings eben so wenig erfasst wie von den Bemühungen der EU, Desinformation und Falschmeldungen zu bekämpfen.

Wegweisende Beschlüsse: Bis in alle Ewigkeit

Der Traum von der Schuldenbremse wurde lange geträumt, er war nie wahr und soll nun für immer weichen.

Keine Scheu vor historischer Verantwortung, auch in den letzten Tagen der auslaufenden Legislaturperiode fasst der Deutsche Bundestag entschlossen weiter Beschlüsse, die weit über den Tag, das Jahr und die nächsten paar Wahlperioden hinausreichen. Mit dem Quotengesetz für private Aufsichtsräte nahm das Parlament die Wirtschaft in die Pflicht, mit dem Lieferkettengesetz wurden die Arbeitsbedingungen weltweit verbessert und die Klimabeschlüsse machten Deutschland vom Bummelletzten im Braunkohlezug zum global beneideten Vorreiter beim Energieausstieg. Vergleichbar bedeutsam war womöglich nur der Beschluss zur Einführung einer sogenannten "Schuldenbremse", der vor zehn Jahren in Kraft trat und beinahe ein ganzes Jahrzehnt Gültigkeit hatte.

Zehn Jahre historische Stunde

Auch damals war die Stunde historisch: Mit 418 Ja-Stimmen verabschiedete das Hohe Haus die erste Schuldenbremse für die Finanzen von Bund und Ländern seit der Unterzeichnung der europäischen Verträge, die 1992 mit ihren Maastrichter Kriterien  strenge Regeln für die künftige Staatsverschuldung aller EU-Mitgliedsstaaten festgelegt hatten. Das neue straffe Schuldenverbot, das die nie eingehaltenen Maastricht-Regelungen ergänzte und verschärfte, eröffnete der Postdemokratie völlig neue Schaffensräume: Nachdem es sich als weitgehend unmöglich erwiesen hatte, die Gegenwart zu regieren, verlegte sich die politische Klasse nunmehr darauf, Vorschriften zu erlassen, die als Leitplanken für das Leben künftiger Generationen dienen sollen.

Für alle Zeiten festgelegt wird, was nicht bei Fünf auf dem Baum ist: Von der Umwidmung der EZB zur Ersatzkasse der EU über die Errichtung der Schuldenunion auf dem Fundament der Versicherung, diese sei ausnahmsweise und einmalig, bis zur erklärten Absicht, die globalen Temperaturen durch einen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in den kommenden 80 Jahren stabil halten zu wollen, ist der aktuellen Politikergeneration keine Aufgabe zu groß für eine entschiedene Lösungsidee. Hauptsache, der Tag der Endlösung liegt weit genug von der aktuellen Amtszeit entfernt.

Gesetze für kommende Generationen

Es sind Gesetze, die vor allem andere binden, Generationen, die noch kommen, Menschen, die noch nicht geboren oder wenigstens noch nicht im wahlberechtigten Alter sind. Nach dem Willen des zur Zeit der Einführung der Schuldenbremse amtierenden Bundestages sollte es künftigen Volksvertretern weitgehend verboten sein, eigene Entscheidungen über Kreditaufnahmen zu fällen, um eigene politische Ziele zu verfolgen. Ein Konzept, das an Eltern erinnert, die ihre Kinder noch mit Mitten 30 ermahnen, vorsichtig zu fahren, nicht so viel zu trinken und sich die Nase zu putzen.

Zum zehnjährigen Jahrestag der Schuldenbremse sind allerdings schon zu einem guten Teil nicht mehr die Politiker in Amt und Würden, die den vorsorgenden Nanny-Staat seinerzeit in alle Ewigkeit hatten ausweiten wollen. Entsprechend grummelt es nun schon nach einem knappen Jahrzehnt über die angelegten Fesseln: Von Linkspartei bis CSU, von SPD bis Grünen möchte die Politik das Recht zurück, Schulden machen zu dürfen, so viel und so lange es nur geht. Natürlich sind dieselben publizistischen Gehilfen, die seinerzeit willfährig trompeteten, es gehe gar nicht ohne eine Schuldenbremse, diejenigen, die heute ins Horn der Abschaffer eben jener Schuldenbremse blasen.

Politik für die Ewigkeit

Politik für die Ewigkeit, sie hält immer nur sehr kurz. Das war so beim festen Entschluss, die EZB müsse so unabhängig sein wie die Bundesbank, das war so beim klaren Kurs auf eine EU, die keine Schuldenunion sein würde, und es zeigte sich zuletzt in der Corona-Krise, als das Mantra der offenen Grenzen genau so lange hielt wie sich ignorieren ließ, dass ein Infektionsgeschehen in einer offenen Gruppe niemals zu kontrollieren ist. Mit derselben Ernsthaftigkeit, mit der im Wahlkampf vor zwölf Jahren über die unbedingte Notwendigkeit der Schuldenbremse debattiert wurde, geht es nun darum, wie unbedingt notwendig, ja, unerlässlich, eine sofortige Abschaffung ist, die selbstverständlich dann auch für immer gelten muss.

Was das für den Energieausstieg, das Zwei-Grad-Ziel, die Weichenstellung zur Abschaffung des Verbrennungsmotors, der Umstellung der Gesellschaft auf ein Steuersystem, das sich am CO2-Ausstoß von Waren und Dienstleistungen orientiert, und alle weiteren klimagerechtigkeitsschaffenden Maßnahmen bedeutet, ist noch gar nicht abzusehen. Entgegen der Annahme der aktuell gewählten Parlamentarierinnen, Parlamentarier und Regierungsmitglieder liegt es gar nicht so weit außerhalb des Bereichs des Denkbaren, dass kommende Politikergenerationen die Ewigkeitsbeschlüsse des aktuellen Parlaments ebenso ändern wie das aktuelle Parlament die Gesetze früherer Parlamentarier geändert haben. 

Der große Plan von CDU, CSU, SPD, Grünen, FDP und Linker, jetzt und hier ein für alle mal und für alle kommenden Zeiten über alles zu entscheiden, was jemals zu entscheiden sein wird, wäre damit hinfällig. Man müsste womöglich, sollte sich das Scheitern herumsprechen, plötzlich wieder beginnen, in der Gegenwart zu regieren, statt gestrenge Vorschriften für eine möglichst weit entfernte Zukunft zu entwerfen. Das aber ist nicht das, was Politik will, denn dabei kommt es nur allzuoft zu Situationen, in denen der Termin für ein versprochenes Ergebnis heranrückt, während der, der es versprochen hat, sich noch im Amt befindet. Kleine Geister in hohen Posten fürchten den Moment der Abrechnung.

Große allerdings nutzen ihn, um sich für das Verfehlen des Ziels gleich zweimal feiern zu lassen.

Samstag, 4. September 2021

Spahnloses Trennverfahren: Die Leerstelle neben Laschet

Gruppenbild ohne Spahn: Armin Laschet muss ohne seinen Tandem-Kollegen gewinnen.

Acht statt sieben Samurai, vier Frauen, fünf Männer, mit Brille und ohne, im Hosenanzug, Rock und Sneakers, divers und sich begeistert selbst beklatschend - mit der Vorstellung seines Expertenteams hat Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet die finale Phase des Schlafwagenrennens ums Kanzleramt eröffnet. 22 Tage noch, das Ruder herumzureißen. 22 Tage, die nebelstochernden Demoskopen einmal mehr Lügen zu strafen. Rotrotgrün abzuwenden. Deutschland mit einem entschlossenen Weitersonuranders in eine klimagerechte Wohlstandszukunft zu führen.  

Der geplatzte Pakt

Auffällt, was fehlt: Damals im März 2020 hatte Laschet seine Position im Kampf um die demokratische Krone durch ein gewitztes Teambuldingmanöver mit seinem schärfsten Konkurrenten nachhaltig verbessert. Statt mit Jens Spahn um den CDU-Vorsitz zu wetteifern, schloss der gewiefte Machttechniker einen raffinierten Packt mit dem 20 Jahre jüngeren Gesundheitsminister. Der würde ihm in den Sattel helfen. Und dürfte dafür später, wenn Laschet nach einer Amtsperiode abgewirtschaftet haben würde, selbst auf den Thron steigen. Ein unschlagbares Team: Hier der junge, seinerzeit noch nicht von Corona verschlissene Hoffnungsträger. Dort der mit allen lauen Wassern gewaschene Westfale, dem es an Charisma mangelt, aber nicht an selbstbewusst sein.

Der Plan ging auf. Die beiden frisch Verbündeten schlugen Friedrich Merz und Norbert Röttgen, knapp, aber gerecht. Spahn saß nun auf dem Rücksitz der Limousine zur Macht. Ausdrücklich traten der Fahrer und sein Passagier als Tandem auf, in dem Laschet lenkt und Spahn, der "Mann wie eine Walze" (SZ), sich für den Tag bereithält, an dem geerbt werden muss, was dann noch übrig ist. 

Leerstelle neben Laschet

Nun aber ist eine Leerstelle rechts neben Laschet auf den Bildern, die das Kompetenzteam zeigen, das Laschets Kanzlerambitionen retten soll. Jens Spahn, in seinen besten Deichgrafmomenten im Corona-Kampf Deutschlands beliebtester Nachwuchskader, ist aus dem Team verschwunden wie feindliche Fremdsenderlogos aus MDR-Beiträgen verschwinden. Keine Spur vom Spannemann, der im Zuge der Pandemie genau so viel Beliebtheit gewonnen hatte, wie er im Zuge der Pandemie wieder verlor.

Will Laschet seine Kampagne nicht mit so einem belasten? Haben sich die beiden Teamplayer über die notwendigen Maßnahmen zerstritten? Ist der zweite Mann im Team nun nicht mehr zukunftsfähig?  Ist der Sicherheitsexperte Peter R. Neumann die bessere Lösung? Der Musikmanager Joe Chialo eher jemand, der die Massen locken wird? Kann Barbara Klepsch aus Sachsen, ehemals Bürgermeisterin von Annaberg-Buchholz, die Leugner, Zweifler und Skeptiker im dunkeldeutschen Osten überzeugen? Oder wollte Jens Spahn etwa nicht mehr, um nach einer verlorenen Wahl den Trümmerhaufen zu übernehmen, der die CDU dann sein wird? 

Der Reserveheld

Offiziell heißt es, Armin Laschet habe Leute von außerhalb der Politik einbeziehen wollen. Dorothee Bär steht für dieses Konzept, eine Frau, die mit 24 in den Bundestag einzog und seitdem schon Spezialistin für Familie, Frauen, Senioren, Gesundheit, Jugend, Kultur, Medien, Verkehr und Digitalisierung war. Viel mehr als Spahn zu bieten hätte, der „jüngste und erfolgreichste Minister im Kabinett Merkel“ (FAZ), der sich seine Zukunft nicht verderben lassen wird vom verzweifelten Versuch eines womöglich schon Gescheiterten, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen.

Grüner Ihrtum: Parole kleingeschrieben

Einsicht, aber ganz leise: Noch plakatiert die grüne Partei auch die Parole mit dem Rechtschreibfehler, aber erste Beispiele finden sich auch mit einer korrigierten Variante.


Einsicht, auch wenn sie spät kommt, hilft häufig bei der Friedenssicherung. Reue muss nicht einmal dabei sein, es reicht völlig, begangene Fehler stillschweigend zu korrigieren. Schwamm drüber, es weiß doch jeder, wie das ist. Asche aufs Haupt, die von dort oben auch schnell verweht. Vergeben. Vergessen. Verziehen.

Dass die Grünen in der Euphorie des Mitte Juni bereits haushoch gewonnenen Wahlkampfes beschlossen hatten, das große Binnen-I, eine Erfindung der spätkindlichen Gleichstellungsbewegung des gerechten Mitmeinens, auf allen ihren Wahlplakaten demonstrativ an einer Stelle unterzubringen, an der es eigentlich - wie alle Binnen-I - nichts zu suchen hatten, galt als nachvollziehbare Machtdemonstration. Sprache defineiert Wirklichkeit und wer die Macht hat, unblamiert zu schreiben, wie ihm die Feder fliegt, der hat die absolute Macht, Realität verstehen lassen zu können, wie immer er will.

Seid bereit, ihr Pioniere

Grüne Physik, erneuerbare Industrien und Lastenfahrräder wären so in der Lage, die ganze Welt zu retten. Das Binnen-I auf den grünen Wahlplakaten verwendet im Satz "Bereit, weil Ihr es seid", obwohl der nach allen derzeit noch geltenden Vorschriften mit einem kleinen I hätte gebildet werden müssen, sollte eine Machtdemonstration sein: Würden die Leitmedien den Fehler unwidersprochen schlucken? Kann man durchkommen mit einer Parole, die beim "Seid bereit" der totalitären Pionierorganisation der DDR anknüpft und diese mit einem Rechtschreibfehler verbunden als zentrale Parole einer kommenden Klimazukunft ausgibt?

Sie taten es. Von "Tagesschau" bis "Tagesspiegel" wurde der lehrplanwidrige Unsinn der grünen Wahlkampagne akzeptiert als sei er nur eine weitere Behauptung, man könne mit "grünem Wasserstoff" aus sauberem Reststrom eine ganze Volkswirtschaft betreiben und mit ein paar tausend Windrädern mehr 40 Millionen Automobile in Bewegung halten. "Bereit, weil Ihr es seid" wurde in die Wohnzimmer verklappt, zweifellos sahen auch Kindern die an "das König der Biere" erinnernde Parole, ohne dass der Falschdarstellung sofort von Faktencheckern widersprochen wurde, um Schaden am Volkskörper zu verhindern.

Bundesweit plakatiertes Bildungsversagen

Erst als das Fake-Prüfungsportal PPQ.li das bundesweit plakatierte Bildungsversagen aufdeckte und direkt in der grünen kampa nachfragte, wie es eigentlich um die Bildung bestellt ist in der Partei der Hochschulabschlüsse, kam etwas in Bewegung. Zwar wurden Anfragen in der Grünen-Zentrale nach der Causa "Ihr" nicht beantwortet - zu peinlich schien das Komplettversagen aller grammatikalischen Reflexe wohl selbst   denen, die die Ansprache der breiten und bereiten Masse von Millionen Grün*innen hier irrtümlich mit dem förmliche Anredepronomen in der Höflichkeitsform versucht hatten. Statt die 2. Person Plural zu benutzen, wie es der Rat für deutsche Rechtschreibung als maßgebende Instanz in Fragen der deutschen Rechtschreibung zwingend vorschreibt.

Hinter den Kulissen aber wälzten Grünen-Mitarbeitende und Mitarbeiterinnen offenbar das amtliche Regelwerk für die deutsche Rechtschreibung. Gerade als Bewegungs - und Bildungspartei, geführt von einem Germanisten und einer früh mit dem Projekt "Zeitung in der Schule" sozialisierten Völkerrechtsexpertin, kann sich Bündnis90/Die Grünen einen fauxpas wie den mit dem großen I einfach nicht leisten. Ein öffentliches Zurückrudern angesichts der Vielzahl der bekanntgewordenen Fälle von Bildungsversagen jedoch auch nicht -  wer Fehler zugibt, der verliert in Wahlkämpfen immer.

Das Hoheits-Ihr verschwindet still

Die Grünen sind deshalb den goldenen Mittelweg gegangen. Leise und und unauffällig wurde der im Wortsinn kapitale Fehler korrigiert. Zwar werden die alten, bereits gedruckten Plakate noch aufgebraucht - alles andere würden gerade die umweltbewussten Nachhaltigskeitswählenden in den Wohngebieten des lastenradfahrenden Bionadeadels ihrer Partei auch nicht verzeihen. Doch wo die Vorräte ausgehen, wird die Variante mit dem hochsprachlichen Hoheits-Ihr der Ansprache des Wählenden als "Ihre Hoheit" stillschweigend aussortiert und durch eine regelgerechte Version mit "Bereit, weil ihr es seid" ersetzt. Ein Eingeständnis, das den kapitalen Fehler nicht gänzlich ausräumt, ihn aber im Vorwärtsschreiten bewältigt.


Freitag, 3. September 2021

Zweierlei Zaun: Flucht vor der Wirklichkeit

Wie glücklich ist der, der jeweils situationsangepasst feste Prinzipien zur Verfügung hat.

Viktor Orban zeigte sein hässliches Gesicht zum ersten Mal so richtig, als die Züge der heute "Flüchtende" genannten Flüchtlinge damals über die Balkanroute Richtung Nordwesten wanderten. Gnadenlos setzte der Machthaber von Budapest nicht nur der deutschen Regierung die Flinte auf die Brust, als er Angela Merkel zwang, die Grenzen nicht zu schließen und Busse zu schicken, sondern zudem auch noch einen Grenzzaun baute, der nachfolgende Trecks abhalten sollte, sich überhaupt auf den Weg nach Ungarn zu machen. Berlin schwieg zwar laut, denn ein ungarischer Zaun versprach, auch Deutschland Zustromproblem lösen zu helfen. Doch die EU-Kommission in Brüssel sprang mit umso lauterer Kritik ein:  Die Kommission Juncker bemängelte "Barrieren und Zäune", denn "eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration" sei die Bewegungsfreiheit der EU-Bürger in Europa. "Wir sind gegen alles, was sie behindert", merkte Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos an.  

Trojanische Pferde

Ungarn baute unbeirrt weiter, bis die Balkan-Route geschlossen war. Zwei Jahre später ließ Orban dem ersten Zaun sogar noch einen zweiten folgen, erneut harsch kritisiert von den EU-Staaten, die eine "systematische Abschreckung von Migranten" (Deutschlandfunk) ablehnten. Die Behauptung des ungarischen Ministerpräsidenten, Migration sei ein "trojanisches Pferd für den Terrorismus", verschaffte dem 58-Jährigen den Ruf eines Menschenfeindes. Nachbarländer zeigten sich geschockt vom 175 Kilometer langen und vier Meter hohen Neubau. Eine Forderung Ungarn an die EU, sich finanziell an der Sicherung der EU-Außengrenze zu beteiligen, lehnte Brüssel entschieden ab: "Wir finanzieren keine Zäune", ließ Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bestellen.

Ganz korrekt war das nicht, denn schließlich hatte die EU den türkischen Grenzzaun aus mobilen Betonblöcken, Stacheldraht und Wachtürmen, immerhin 911 Kilometer lang und drei Meter hoch, mit 80 Millionen Euro bezuschusst. Auch an der Finanzierung der sagenhaften ukrainischen Stahlwand zur Abwehr einer russischen Invasion, imponierende 2.300 Kilometer lang und mit Panzersperrgräben versehen, ließ sich die EU 60 Millionen Euro Aufbauhilfe kosten. "Wir finanzieren keine Zäune" gilt aber nun erst recht nicht, seit Litauen unter bjelorusslanddasfrühereweißrussischen Migrationsattacken leidet: Kaum hatte die litauische Regierung ihre Absicht bekundet, einen Zaun zu errichten, war der gute Zweck amtlich und es flossen knapp 37 Millionen Euro Soforthilfe aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU.

Zaun ist nicht gleich Zaun

Zaun ist nicht gleich Zaun, Mauer nicht Mauer. So wie stets klar war, dass Donald Trumps Mauer an der Grenze zu Mexiko "gar nichts" (Die Zeit) lösen wird, die Fertigstellung der türkischen Mauer hingegen "Schmuggler und illegal Einreisende aufhalten" (Der Spiegel) kann,  sichert Litauen mit seinem Stacheldrahtzaun nicht nur "seine Grenze zu Weißrussland gegen Flüchtlinge" (DLF), sondern die vitalen Interessen der gesamten EU mit deren Wissen und Zustimmung. Adalbert Jahnz, ein "EU-Sprecher für Inneres", den angesichts der virtuellen Mauern, die Dänemark in letzter Zeit errichtet hat, große Sorgen quälen, hat die digitale Natur der EU-Position scharf umrissen. „Die Kommission finanziert keine Zäune oder Barrieren", sagte er. Die EU gebe Geld für humanitäre Zwecke. So dass Litauen diese Mittel spart, um sie in den neuen Grenzzaun zu investieren.

Eine win-win-Lösung, die der Absicht der EU-Kommission entspricht, "die Mittel, die der EU für den Grenzschutz zur Verfügung stehen, dort einzusetzen, wo sie den größten Mehrwert haben" (Jahnz).  Derzeit ist das dort, wo Alexander Lukaschenko eine Krise "orchestriert" (DPA), um die Friedensnobelpreisgemeinschaft in Bedrängnis zu bringen. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen, die sonst so kommen, kommen die, die aus Belarusdemfrüherenweißrussland kommen, "illegal" (ZDF), inzwischen auch nach Polen. Das macht, dass der litauische Zaun wie auch der polnische, der gerade entsteht, nicht mehr im Widerspruch zu Angela Merkels Festlegung steht, dass Grenzen sich nicht schließen lassen.  Sondern dass die, die Migranten nicht einreisen lassen, selbst wenn sie laut "Asyl" rufen, sich nur gegen einen Angriff einer feindlichen Macht wehren.

Angriff einer feindlichen Macht

Dass Viktor Orban die Einwanderung von Flüchtlingen vor sechs Jahren zu einer der größten Bedrohungen der Europäischen Union erklärte war genauso falsch wie  jetzt richtig ist, dass Polen wegen der "illegal" aus Belarus einreisenden Migranten den Ausnahmezustand in der Grenzregion zu dem östlichen Nachbarland erklärt hat. Orban martialische Sperre, errichtet an den Grenzen eines Landes, das seine Grenzbefestigungen vor 30 Jahren abbaute und damit den Zusammenbruch des Ostblocks beschleunigte, war die verachtenswerte Tat eines Mannes, der Asylsuchende widerrechtlich am Weiterkommen hindern wollte und mit seinem Alleingang zurecht viele EU-Partner verärgerte. Der litauische wie der polnische Nachbau dagegen sind tragende Wände in einer Gemeinschaft, die seit Jahren auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist und dabei notgedrungen immer wieder vergisst, was gestern noch richtig gewesen ist.

Die Rolle seines Lebens: Der beliebte Herr Scholz

Für den erträumten Posten ist Olaf Scholz auch bereit, Rollen zu spielen, die ihm nicht liegen.

Er tut immer, was er muss. Er ist schnittig, hart am Wind mit lockerem Segel. "Wenn ich Bundeskanzler bin, kümmere ich mich um Ostdeutschland", hat Olaf Scholz auch mal versprochen, als es um eine Wahl in Dunkeldeutschland ging. Er sei dann "kein Kanzler aus dem Osten, aber einer der sich um den Osten bemühe". Dasselbe würde Scholz auch jedem im Westen versprechen, nur andersherum.  

Ein Kanzlernder aus Hamburg

Der Mann, der nach der Kanzlerin aus Hamburg endlich mal ein Kanzler aus Hamburg wäre, obwohl er eigentlich aus Osnabrück kommt, hat sich nach seinem Umzug in die Bundesrepublik einen Wahlkreis in Brandenburg geschnappt, den eigentlich eine junge, hoffnungsvolle Ostdeutsche bekommen sollte. Scholz aber schaute kurz nach links, sah die aus Hannover stammende Grüne Annalena Baerbock, die sich ebenfalls in Brandenburg mit einer aussichtsreichen Kandidatur versorgt hat. Das ist machbar. Und wenn nicht, reicht die Liste.

Noch zwei Westdeutsche für den Osten, die zwei Ostdeutschen den Platz wegnehmen, um sich künftig besser für den Osten einsetzen zu können - die Dialektik der deutschen Einheit will es so. Und der Umfragebeliebtheit der Umzügler tut das keinen Abbruch. Baerbock und Scholz würden die Bundestagswahl beide gewinnen, wäre sie die amerikanische Präsidentschaftswahl. 

Bei Baerbock liegt das inzwischen an ihrer Partei, Scholz dagegen schafft es trotz der seinen, in der der distinguierte Nordmann wirkt wie ein Erwachsener unter Kindern. Neben Kevin Kühnert ist Scholz hühnenhaft groß und erzkapitalistisch. Verglichen mit Saskia Esken sieht er entspannt und kaum gefährlich aus.  Jeder kann sich vorstellen, Olaf Scholz zu wählen, weil Olaf Scholz für alles steht: Klimagerechtigkeit und Marktwirtschaft, Sozialismus, Rente, Fördermittel, EU und Umwelt, seriös, aber auf unbedingt.

Der Scholzomat als Sympathieträger

Und wie er das alles verkörpert. Hinter sich eine Partei, die versucht, sich nirgendwo blicken zu lassen, spielt der Kandidat die Rolle seines Lebens. Geschmeidig und ohne Furcht davor, ausgelacht zu werden, ist der trockene Hanseat mal intersektionaler Feminist, mal multisexueller Regenbogenaktivist. Er kann den Finanzminister geben, kühl und verantwortungsbewusst. Doch seine Berater haben ihm auch gesagt, dass er mehr Mensch werden muss, will er nicht nur weiter Finanzminister bleiben müssen. Wie seine Vorgängerin hat auch Olaf Scholz keine Kinder, er engagierte sich aber lange in der Hamburger Initiative "Mehr Zeit für Kinder". Im übrigen sind seine Mündel die Menschen im Land, 82 oder 83 Millionen Betreuungsfälle, so genau weiß das gar keiner.

Alle wollen jedenfalls ihn, den früheren Überwinder der kapitalistischen Ökonomie, der in der CIA-finanzierten International Union of Socialist Youth als Vizepräsident gedient und in den fabelhaften Schröder-Jahren als SPD-Generalsekretär all die sozialen Fürchterlichkeiten mitbeschlossen hatte, an denen die deutsche Sozialdemokratie bis heute würgt wie eine Eule am Gewölle.

Durchhalten bis ins höchste Amt

Alle sind sie weg, die damals das Sagen hatten, selbst Walter Steinmeier, der sich einmal sogar nur noch "Frank" nennen lassen wollte, um dynamischer zu wirken, damit die Leute ihn als Kanzler wollen, ist mit dem Posten im Schloss Bellevue weggeparkt. Er aber, der letzte Schröderianer, hat einfach immer weitergemacht, jahrelang wusste gar keiner, wo eigentlich und warum. 

Olaf Scholz steckte Niederlagen ein, er schüttelte sie ab, er wartete auf seine Chance und er blieb einer Partei treu, die heute mehr Positionen mit der Linkspartei teilt als mit der SPD der Schröder- oder Schmidt-Zeit. Wichtig ist, was hinten rauskommt: Als Kanzler wird Olaf Scholz ein wenig gegen den aktuellen Geist der SPD regieren und ganz kräftig gegen den von freiheitlicher Liberalität. Aber es wird nicht für alle so schlimm werden, wie es sich anhört. 

Der Klimageneral der Mitte

Das macht den Mann, von den Esken und Kühnert hoffen, ihn lenken zu können, für jedermann brauchbar. Für die einen soll Olaf Scholz den Klimageneral geben, der Deutschland in den Endkampf gegen die Erderwärmung führt, indem er rigoros Klagerechte wegdampft, Stromtrassen mit Rasanz durchs Land zieht, Energie rationiert und Mindestlöhnern Solarwindräder vor die Tür setzt, von denen sie gut und gerne leben können. Für die anderen ist der spröde Sozialist der Gewährsmann der Verhinderung des noch Schlimmeren: Man traut Olaf Scholz die Vernunft zu, die SPD um wenigstens so viel nach rechts in die Mitte zu ziehen wie Angela Merkel die CDU nach links verschoben hat. 

Der Erfolg des Konsenskandidaten all derer, die vor der naiven Hybris einer Annalena Baerbock genau so viel Angst haben wie vor der bräsigen Unbedarftheit des Armin Laschet, liegt auf der Hand. Olaf Scholzens Ritt auf der Umfragewelle ist Ausdruck der Sehnsucht nach "Maß und Mitte" (Konfuzius), nach einem Weiterso mit besserer Laune und einem Wohlstand, der endlich wieder mit gutem Gewissen genossen werden darf. Wird er es wirklich, wird alles anders kommen. Wird er es nicht, geht es noch schrecklicher aus.

Donnerstag, 2. September 2021

Kanzler*innenkandidat*innen: Raub der Raute

Viermal die Raute, einmal im Original, dreimal im Nachfolgeformat.

Er ist lähmend langweilig, eine Karikatur auf frühere Wahlkampfschlachten geradezu. Drei Kandidaten, die sich nicht wehtun, drei Kandidaten vom selben Zwergenformat, drei Kandidaten mit derselben Strategie: So lange über die eigenen Pläne schweigen, bis die, die an den Weihnachtsmann glauben, ihr Kreuz gemacht haben. Es ist eine Schicksalswahl, bei der nur über Petitessen gesprochen wird. Die Rezepte, die künftig gekocht werden sollen im neuen klimagerechten Volksheim des fürsorglichen Staates, unterscheiden sich allenfalls marginal. Baerbock, Scholz und Laschet machten zuletzt im "Triell" deutlich, dass sie auch gut alle drei eine Trehe eingehen könnten. Ein lahmer Dreier ohne Steuermann, ambitionös, aber unfähig.

Lahmer Dreier ohne Steuermann

Die entscheidenden Fragen, sie sind diesmal von formaler Natur. Olaf Scholz zum Beispiel, nach Annalena Baerbocks tiefem Sturz in der bundesweiten Redaktionsbeliebtheit zum neuen Hoffnungsträger der Massen ausgerufen, ist anhand seiner Krawatte in seiner Funktion zu erkennen. Trägt er eine, ist er Finanzminister. Trägt er keine, macht er den Arbeiterführer. Bei der Entscheidung, wessen Leben mit einem Kreuz an der richtigen Stelle zerstört werden kann, helfen zudem Agenturtexte über die Eheleute der kommenden Kanzler*in: Eine hat keinen Besseren abbekommen, einer ist in Elternzeit, weil Töchterchen bald zur Schule geht, und die Dritte auch Politikerin.

Wer ergibt die beste Merkel? Wer garantiert ein Weiterso, wie es die seit Beginn der Corona-Pandemie weitgehend unsichtbare mächtigste Frau der Welt so souverän herbeiregiert hat, dass ihr Name zuletzt beim "Afghanistan-Desaster" (Armin Laschet) nicht einmal mehr jemandem einfiel? PPQ, das Beobachtungsboard für psychologische Kleinteiligkeit in der großen Politik, hatte sich zum Zwecke der tieferen Recherche früh die Fähigkeiten der Kandidat*/%$Innen bei der Rautenformung angeschaut. Die ehemals von einer Wuppertaler Fotografin für Angela Merkel entworfene Handhaltung gilt als wichtigstes Machtmittel deutscher Kanzler*innen: Wo der amerikanische Präsident seinen Bombenkoffer hat und der Russe mit einem Fingerschnipsen unsichtbare Panzer in Marsch setzt, faltete die deutsche Regierungschefin regelmäßig die Hände, legte die Fingerkuppen aneinander und zeigte so, dass längst noch nicht alles zu spät ist.

Kernfrage Raute, weil sonst nichts ist

Können sie das, die Möchtegern-Nachfolger? Eine Kernfrage, die knapp zwei Wochen nach ihrer Erstbeantwortung hier bei PPQ.li auch die großen Medienkonzerne beschäftigt. "Wer macht die bessere Merkel-Raute?", fragt der frühere Börsensender n-tv, als Teil der RTL-Gruppe Teil des Bertelsmann-Konzerns, der seinen Geschäftserfolg nicht nur seinen umfangreichen Schmöker-Lieferungen an die Wehrmacht, sondern auch der jahrelangen engen Beziehung zu Helmut Kohl verdankt. Die Rautenfrage, von Laschet (oben links oben) ohne Spannkraft und Charisma, von Baerbock (oben rechts oben) absichtsvoll schlampig und von Scholz mit Daumen beantwortet, die sich kaum zu berühren scheinen (oben rechts unten), stellt die drei Aspiranten auf das "höchste Amt im Land" (Quotenmeter) auf die Probe. 

Wer imitiert die Scheidende am besten? Wer vermittelt am ehesten das Gefühl, dass alles weitergehen kann wie bisher, während alles anders werden wird? Glück für alle Kandidatinnen und Kandidaten ist, dass ein Wahlkampf wie früher, auf großen Plätzen mit großen Menschenmengen, nicht stattfinden kann. So merkt niemand, dass niemand kommen würde, um sich die Wohlfühlreden und Wirmüssenpredigten anzuhören.

Generation to go: Hungerstreik der Wohlstandskinder

 

Frühere Generationen hatten Kriege, Hungersnöte, Seuchen, die Hunderttausende hinwegrafften. Es gab Diktaturen, die Familien auseinandergerissen und ganz normale Familienväter zu Massenmördern machten. Nachbarn verrieten einander, es wurde gefoltert, Luft geatmet, die aus Blei, Stickoxiden und puren Kohlendioxid bestand. Zu Essen gab es, was da war, gefahren wurde in überfüllten Bahnen und Bussen und Zügen, die Alternative war Laufen auf Sohlen ohne jede fußgerechte Ergonomie. Fahrräder hatten keinen Elektroantrieb, Vater hatte keine Rechtsanwaltskanzlei. Man flog nicht in den Urlaub, weil man überhaupt nicht flog. Man litt unter den Verhältnissen, aber man spielte sich nicht auf als derjenige, der schlimmer litt.

Wehleidig und selbstgerecht

Die Jugend aber ist anders, zumindest in den Teilen, die öffentlich auf sich aufmerksam machen. Fordernd und verlangend, wehleidig und selbstgerecht, dazu noch berauscht von der eigenen Bedeutung hat jetzt etwa die selbsternannte "Letzte Generation"  einen Opfergang in eigener Sache angetreten, der erklärtermaßen bis zum Tode führen soll. Wenn nicht die drei "Kanzlerkanditat*innen" zu einem sofortigen Gespräch mit der Gruppe bereit seien, werde man kollektiv hungern bis zum bitteren Ende. "Wir sind jung, aber wir sind bereit, unser Leben zu riskieren", schreiben die Teilnehmer auf ihrer professionell umgesetzten Webseite http://hungerstreik2021.de.

Ja, selbstverständlich geht es beim "Hungerstreik der letzten Generation" um alles. "Wir hungern für das Leben", sagen sie und meinen, dass sie nach Aufmerksamkeit hungern. Ein Leben lang hat man ihnen eingeredet, sie seien die Herren ihres egozentrischen Weltbildes.Nicht die Pappkameraden, die im Graben neben einem tödlich getroffen zusammenbrechen, völlig sinnlos. Sondern der Held, der am Ende den Krieg entscheidet durch eine mutige Tat, die niemand anders hätte vollbringen können. Sie halten sich für herausragend, ohne jede Dankbarkeit denen gegenüber zu empfinden, die ihnen die Welt zu Füßen gelegt haben, die sie päppelten und fütterten und ihnen immer wieder versicherten, wie  herausragend und überaus bedeutsam sie doch seien. 

Die Generation to go

Herausgekommen ist eine Generation to go, eine Generation, die sich selbst nicht genug ist, sondern anderen erzählen will, wie es richtig zu leben wäre, das Leben. Sie sind die ersten gewesen, die ihre Jeans nicht mehr selbst zerreißen musste, weil das kleine Kinder in Asien für sie erledigt haben. Die ersten, die Nasenringe aus klimafrei gefördertem Silber trugen. Die erste Generation, die keinen Ärger bekam, wenn sie die Schule schwänzte. Die erste Generation, die nicht gegen Staat und Obrigkeit rebelliert hat, weil sie sich selbst schon als Staat und Obrigkeit versteht. 

Sie haben keine Ahnung von Zusammenhängen und keinen Schimmer von der Realität. Aber eine "Scheißangst", wie es die Hungerstreikenden ausdrücken. Alle sollen auf sie hören müssen, sonst werden sie sich auf den Boden werfen und mit den Fäusten trommeln. Für sie ist selbst eine Botschaft wie die vom Starkregen, der durch den Klimawandel "1,2 bis neun Mal häufiger vorkommt" pure, reine, saubere Wissenschaft. Sie wären sogar bereit, aus Angst vor dem Tod zu sterben, wenn es denn hülfe, alle anderen in dieselbe Panik zu versetzen, die sie spüren, seit sie ihre Kinderzimmer verlassen haben und ihnen niemand mehr den Hintern abputzt. 

Zittern zu einer alten Melodie

Wir haben noch "3 Jahre, bis wir die 2 Grad globaler Erhitzung reißen" zittern sie nach einer alten Melodie. Wie ein Büßerzug im Mittelalter wollen sie den Klimagott mit Menschenopfern gütig stimmen: "Unser Planet" muss gerettet werden, das Ökosystem darf nicht "zerbrechen". Korruption und Machtkonzentration in den Händen weniger rauben ihnen "jede Hoffnung auf Wandel" und "mit dem Ausverkauf unserer Zukunft wird jede Minute Profit gemacht". In einem solchen Moment geht es um Leben und Tod für die Generation to go, die sich für den Schaum der Schöpfung hält und glaubt, sie sei "die letzte Generation, die noch handlungsfähig ist". 

Statt ein start up zu gründen, das CO2 aus der Luft filtert, an der Kernfusion zu forschen oder klimaneutrale Sprudelwasser zu erfinden, wollen sie, dass "die Regierung" ihr Recht auf Leben schützt. Und um das durchzusetzen, fällt ihnen ein, was ihnen angesichts ihres poperen BMI nicht so schnell schaden dürfte: "Wir sind bereit, unser Leben zu riskieren und keine Nahrung mehr aufzunehmen."

Krieg, Hungersnot, Klimatod

Wann, wenn nicht sie, wo, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht gleich? Drängend sei die "moralische Pflicht in diesen Zeiten", denn "die Größte aller Pflichten – das Leben zu schützen – wird von so vielen mit Füßen getreten". Sie fordern, sie warnen, sie wollen vor allem beachtet werden mit ihrer Untergangsfantasie vom "unermesslichen Leid des Klimazusammenbruchs", das "unsere Kinder in Kriege und Hungersnöte schicken" werde. Sie sind nicht gehört worden, sagen sie, dabei waren sie doch ein halbes Jahr hartnäckig auf der Straße, ehe die meisten schon wieder den Spaß daran verloren. 

Nun klagen sie "die Verantwortlichen und das kaputte System", das sie bis hierher ernährt und angezogen, gewärmt, ihnen Bildung, Sport, Spiel und Spaß, McDonalds und Sega, Coca Cola und Langneseeis kredenzt hat, eines "Klimaverbrechens" an, das abzuwenden "die wohl schwierigste und die entscheidende Aufgabe der Menschheitsgeschichte" sei. Was war dagegen die Landung in  der Normandie?

An der Verfassungsorganen vorbei

Massenaussterben oder Systemwandel? Wettersozialismus oder Weiterso? Clima O Muerta? Sieben junge Menschen im Klimawahn, seit vorgestern im unbefristeten Hungerstreik gegen den "Mord an der jungen Generation". Alle sieben durch deutsche Schulen gegangen. Alle eine Kindheit lang vom Gemeinsinnfunk unterhalten. Alle mit unbeschränktem Zugang zu allen nur erdenklichen Informationen, selbst zu Büchern. Und alle sieben demnächst tot, wenn nicht alle drei Kanzler*innenkandidat'innen ihnen sofort in die Hände versprechen, dass eine neue Regierung "direkt" (Zitat) einen Bürger*innenrat einberufen wird, der an den verfassungsmäßigen Organen vorbei  Sofortmaßnahmen gegen die Klimakrise erlässt - "unter anderem eine sofortige 100% regenerative Landwirtschaft".

Mittwoch, 1. September 2021

Corona: Rücksichtslose Rechenspiele

 

Er heißt Marcel Barz, ist von Beruf Informatiker und seit seiner Jugend begeistert von Mathematik. In der Pandemiezeit erging es Barz wie vielen: Kaum kam das Thema mit dem großen C auf, wurden Diskussionen ungemütlich, unerbittlich und unversöhnlich. Die Impffrage, eine Glaubenssache, spaltet Freundeskreise und entzweit sogar Familien, weil sie zu einer individuellen Entscheidung über das Schicksal der Nation erklärt worden ist. dass irgendetwas nicht stimmen kann, wenn eine Impfung eigentlich den Geimpften schützt, der aber nur wirklich geschützt sein soll, wenn sich alle impfen lassen haben, spielt keine Rolle - ebenso wenig wie all die Zahlen, Daten und Fakten, die Marcel Barz beim Versuch aufgearbeitet hat, einen guten Freund, der Corona hartnäckig leugnet, mit Hilfe "der Wissenschaft" von Ausmaß und Auswirkungen der Pandemie zu überzeugen.

Der Statistiker will überzeugen

Barz, 46 Jahre alt, beschäftigt sich in seinem Film - von Youtube aus Gründen der Volksgesundheit umgehend gelöscht -  mit den Zahlen der Pandemie und der Statistik von Infektionszahlen, Sterbefällen und der Belegung der Intensivbetten. Der ehemalige Bundeswehroffizier ist keineswegs ein Leugner, ganz im Gegenteil: Als Marcel Barz anfängt, sich die Rohdaten vom Robert-Koch-Institut und  aus dem DIVI-Intensivregister zu ziehen, tut er das in der Erwartung, seinen guten Freund davon überzeugen zu können, dass eine kreuzgefährliche Seuche durchs Land jagt. 

Man wird sie zweifellos sehen und in Kurven und Grafiken darstellen können, lautet Barz' Grundannahme. Übersterblichkeit und Überlastung des Gesundheitswesens, ein Mangel an Intensivbetten und die unwiderlegbare Wahrheit der Inzidenz, all das will der Mathematiker anhand von Zahlen nachweisen. Und seinem skeptischen Leugnerfreund auf dem silbernen Tablett servieren, auf dass der endlich einsehe, womit wir es hier zu haben.

Von Medien ignoriert

Es geht dann aber anders aus, natürlich, denn sonst hätte Youtube das Video nicht gelöscht und vermutlich wären auch Barz' Bemühungen, mit seinen Erkenntnissen irgendwo in einem seriösen Medium zu landen, nicht vergeblich gewesen. Doch die Fakten, die er auf seine Spurensuche nach der Seuche in der Statistik fand, sind eben, wie sie sind: Die Sterbefallzahlen der zurückliegenden Jahre, Barz' benutzt die amtlichen des Statistischen Bundesamtes, zeigen zu seiner Überraschung keine Übersterblichkeit für die Pandemiemonate, obwohl doch eine stehende These der zurückliegenden Monate stets war, dass genau diese Übersterblichkeit wegen Covid-19 überall zu sehen sei. 

Barz ist verblüfft, er zweifelt und findet schließlich in den Rohdaten einen Grund für die diametral verschiedenen Befunde. Die Daten, auf die sich die offiziellen Stellen berufen, sind nicht gewichtet, sie vergleichen "Äpfel und Birnen", wie wie Barz sagt, der sich auch "Erbsenzähler" nennt, um zu betonen, dass Statistik nur taugt, wenn sie ganz genau angerichtet wird. Dazu gehöre, nicht die Todeszahlen des Jahres 2020 mit denen des Jahres 2012 zu vergleichen, weil Deutschland mittlerweile fast drei Millionen mehr Einwohner zähle. Man müsse den Schalttag aus 2020 herausrechnen. Und nicht nur zwei oder drei Jahre zurückschauen, sondern schon ein paar mehr.

Schneise in der Statistik

Plötzlich ist dann 2012 das schlimme Todesjahr, selbst in Altersgruppen, die seit Beginn der Pandemie "besonders vulnerabel" genannt werden. Was ist da los? Marcel Barz hat schnell eine Antwort parat: Es müssen die guten, schnellen und entschiedenen Maßnahmen gewesen sein, die verhindert haben, dass die Pandemie eine tödliche Schneise in die Statistik fräste. Aber stimmt das? Wenn, so überlegt er, die deutschen Maßnahmen so durchschlagend erfolgreich waren, dann müssten Statistiken aus Staaten, die sich diese Maßnahmen nicht auferlegten, ein anderes, fürchterlicheres Bild zeichnen.

Fehlschluss. Barz schaut nach Schweden und findet nur marginal andere Zahlen als in Deutschland. Dann muss es, schließt er, wohl das Gesundheitswesen gewesen sein, dessen herausragende Leitungen verhindern konnten, dass unzählige Menschen starben. Marcel Barz schaut sich nun die Belegung der Intensivbetten an. Ein heikles Thema, das kurzzeitig sogar von seriösen Medien nicht ignoriert werden konnte, weil die Art und Weise, wie Kliniken bundesweit über den Ausweis der Anzahl ihrer freien Betten Fördermittel abgemolken haben, am Ende nur noch von der Faktencheckerseite mit "da wird aber der Kontext weggelassen" verteidigt wurde.

Erbsenzähler im Intensivbett

Beim Marcel Barz sind es nur die nackten Zahlen, die die ganze Geschichte erzählen. Erstaunt bemerkt der "Erbsenzähler", wie die Zahl der in Deutschland verfügbaren Intensivbetten nicht etwa mit der Zahl der ernsten und akuten Coronafälle schwankt, sondern mit dem Rhythmus der gesetzlichen Vorgaben zum Verlustausgleich. Eine Statistik im Sägezahnstil, bei der - nach einer Veränderung der Vorgaben im November 2020 - sichtlich tagtäglich versucht wird, immer genau so viele freie Kapazitäten zu melden, dass die Vorgabe der 80-prozentigen Auslastung erreicht wird, die Voraussetzung ist für die Auszahlung von Corona-Hilfen. 

Dass die eigentlichen Corona-Fälle in den Grafiken nur den geringsten Teil der Belegung ausmachen und sich die Gesamtauslastung vollkommen unabhängig von diesem schmalen Band bewegt, schildert der Hobby-Filmemacher schon spürbar fassungslos.

Sein Film wird den leugnenden Freund nicht überzeugen, sein Film ist wohl deshalb auch bei Youtube gelöscht und von allen angefragten seriösen Medien ignoriert worden. Barz' Auswertung der Rohdaten von Intensivregister und Statistischem Bundesamt ergibt einfach ein anderes Bild als die offiziellen Pressemitteilungen es zeichnen - zum Entsetzen des Statistikers, der sich nicht erklären kann, wie jemand dieselben Daten nutzen, sie aber so anders interpretieren kann. Absicht? Lüge? Prinzip Nebelkerze nennt Marcel Barz schließlich, was sich da zeigt, indem es sich versteckt. Wenn die Zahlen nicht erzählen wollen, was man zu hören vorhat, dann nimmt man nicht andere Zahlen, sondern man liest sie einfach mit anderer Betonung vor.

Knapp geklappt: Rückzug zum Weltfriedenstag

Verblasste Friedensmacht: Nur der Osten feiert noch Weltfriedenstag.

Ein Tag für Dunkeldeutschland, ein Tag, der die tiefe Kluft noch einmal zeigt, die auch nach 31 Jahren Gemeinsamkeit mitten in Deutschland klafft. Der Weltfriedenstag, in der hässlichen Zeit der Teilung in der DDR als „Tag des Friedens“ oder „Weltfriedenstag“ begangen und in der Bundesrepublik aus purer Quertreiberei kontrafaktisch „Antikriegstag“ genannt, als sei Frieden nicht Antikrieg, existiert im vierten Jahrzehnt neugewonnener Gemeinsamkeit ausschließlich noch dort, wo der Brauch früher ein staatlicher war.  

Gegenüber im Reich der Freiheit und des Lichts dagegen sieht niemand keinen Anlass, nicht zu feiern. Die dreifache Verneinung -im Osten Negation der Negation der Negation - führt zu einer großen, leeren Fehlstelle: Frieden spielt an diesem traditionsreichen Friedensgedenktag keine Rolle in den Erinnerungsmedien. 

Wenigstens aber konnte zuletzt faktisch ein Schritt zurück in die Tage gemacht werden, als deutsche Soldaten sich fernhielten von deutscher Scholle. Mit dem Rückzug aus Afghanistan erlitten die Vorneverteidiger eine krachende Niederlage. Die aber, die schon vor der US-Invasion in der Normandie jeden Kriegseinsatz entschieden ablehnten,  können sich freuen. "Das Schicksal von Millionen Menschen in Afghanistan hat sich durch die Machtübernahme der Taliban dramatisch gewendet", wie es in einer brandaktuellen Petition von "Global Citizen" heißt. Diesmal aber sind wenigstens keine deutschen Landser dafür verantwortlich, dass "die Rechte von Frauen und Mädchen im Land akut bedroht" sind und "jeder dritte Mensch im Land bereits von schwerem Hunger bedroht" (Global Citizen) ist.

Seit der 1. September im Jahr 1946 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone erstmals mit Versammlungen, Kundgebungen und Propagandabannern an den deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 erinnerte, konnte noch kein einziger Weltfriedenstag - im demokratisierten Deutschland ab 1957 unter dem Motto „Nie wieder Krieg“ begangen - einen so sichtbaren Erfolg feiern wie der diesjährige. Mit dem hastigen Truppenabzug und der Übergabe des ganzen Landes an die Taliban wurde ein permanent drohende Eskalation der Lage am Hindukusch vorbeugend bereinigt. 

Knapp geklappt. Pünktlich vor Mitternacht des Friedensfeiertages konnten auch die Evakuierungsflüge aus Afghanistan beendet werden. Bundesaußenminister Heiko Maas ist derzeit noch unterwegs, Verbündete zu werben, frische  Wunden zu versorgen, Extremitäten abzubinden und Verbände anzulegen. Ab sofort aber gilt wieder die 70-Jahre-Frieden-durch-die-EU-Regel, im aktuellen update mit 76 Jahre garantierter Frieden durch die EU, einen Staatenbund, der als einziger weltweit stolzer Träger des Friedensnobelpreises ist wie der frühere Palästinenserpräsident Yasser Arafat.

Einen Weltfriedenstag braucht es nicht mehr, auch die große, stolze und mächtige deutsche Friedensbewegung ist obsolet geworden: Frieden von oben, eine Heimatfront, die steht, und Konsens quer durch alle Parteien, dass  Frieden und Völkerfreundschaft weiterhin mit "Druck" (Walter Steinmeier) und "aller Härte" (Sigmar Gabriel),  mit "Sanktionen" (von der Leyen) und "Strafmaßnahmen" (Heiko Maas) durchzusetzen sind.