Mittwoch, 6. Oktober 2010

Doku Deutschland: Ich dagegen bin dafür

Ich bin dafür, wenn man das denn noch sagen darf. Damit meine ich wirklich dafür, also nicht dagegen. Dagegen sind ja inzwischen alle, die etwas auf sich halten. Gegen Atomkraft und Gentechnik, gegen Krieg und Friedenseinsätze, gegen Stuttgart 21 und Mediaspree, gegen den Neubau von Autobahnen und den Ausbau von Landstraßen, gegen die Erhöhung der Sozialleistungen und des Rentenalters, gegen die Kürzung bei den Theatern und beim Verteidigungshaushalt, gegen mehr Geld für die Reichen und gegen höhere Steuern.

Ich dagegen bin dafür. Einer muss ja dafür sein. Und wenn Sie mich so fragen, bin ich es auch, ohne groß nachdenken zu müssen. Atomkraft? Ich bitte Sie, was macht es vor der Weltgeschichte für einen Unterschied, ob deutsche Kernkraftwerke 40, 50 oder 70 Jahre laufen? Gentechnik? Zeigen Sie mir einen, der durch gengeimpfte Kartoffeln kranker geworden ist als durch regelmäßiges Schokoladeessen!

Verstehen Sie mich richtig, ich habe gar nichts gegen Leute, die dauernd dagegen sind. Ich sage meinen Kindern immer, ein funktionierendes Gemeinwesen braucht einen gemeinsamen Feind, um sich als Gemeinwesen überhaupt empfinden zu können. Ja, man hat manchmal solche Anwandlungen. Aber im Ernst, ich meine das auch so. Noch besser sogar: Ich war früher selbst dagegen! Was, das glauben Sie nicht? Können Sie ruhig. Mittendrin bin ich gewesen, als wir auf die Straße gegangen sind, die ganze Generation. Gegen Nachrüstung, den Nato-Doppelbeschluß und Atomkraftwerke, gegen die Startbahn West und den Atombau Gorleben und den ersten Irakkrieg von Vater Bush und dann gegen den zweiten vom Sohn und schließlich gegen Hartz4 und die ganzen Sozialkürzungen. Ich sage nur: WAA-hnsinn! Mit BAP und den ganzen anderen engagierten Rockgruppen, die es damals noch gab. Der Pulsschlag einer kompletten Alterskohorte, wie der Soziologe sagen würde. Gegen Luxussanierungen, gegen das Kaputtmachen ganzer Kieze, gegen Tiefflüge.

82 sage ich nur, 500.000 in Bonn! Und 91, 200.000 in Bonn! Und 2003, 500.000 in Berlin! Was haben wir den Mächtigen auf die Finger geklopft, immer wieder, hartnäckig, weil wir einfach besser wussten, was gut ist für das Land und die Menschen, als die Schmidts und Kohls und Schröders, die selbstherrlichen Typen.

Das war ja auch erfolgreich, wie man heute sagen muss. Dadurch, dass der Schmidt soviel Gegenwind hatte beim Nato-Doppelbeschluss, das weiß ja heute gar keiner mehr, hat der erst recht den Rücken geradegemacht. Gegen das Volk hat der das durchgezogen, genauso der Kohl danach, gegen die revolutionären Massen einfach durchregiert, basta, Schnauze da draußen. Dabei hätten wir viel lieber mit den moderaten Sowjets Übergabeverhandlungen geführt als die US-Raketen ins Land zu lassen!

Gut, dann wäre die Mauer vielleicht nicht gefallen, das ist wahr. Aber es hätte auch keinen Atomkrieg gegeben! Gucken Sie sich doch nur an, wie recht viele hatten, die damals gesagt haben, ich bleib lieber am Fernsehen, mir ist das wurscht, wie man so sagt. Die Startbahn West, die Hüttendörfer, die Polizeibrutalität am Zaun, die toten Polizisten. Und jetzt fliegen sie von da nach Spanien in den Urlaub! Oder Hartz4 meinetwegen. Uns war allen klar, dass der Schröder den Sozialstaat aufgibt. Komplette Demontage! Jeden Montag sind wir auf die Straße, bis keiner mehr mitkommen wollte. Und auf einmal war nicht nur der Schröder weg, sondern auch die Arbeitslosenzahlen niedriger. Diese Überraschung hätte es doch nie gegeben, wenn wir nicht ganz anderer Meinung gewesen wären.

Man muss dann aber auch mal konsequent sein und im Nachhinein dreist behaupten, man habe es auch vorher schon besser gewusst. Als der Bush senior damals loszog, um Kuwait zu befreien, da sind meine Töchter sowas von engagiert auf der Straße gewesen. Schülerdemos in allen Städten, als wäre unser alter Geist wiederaufgelebt. Der Geist der Revolte! Sie wissen schon, Rio Reiser, Ton Steine Scherben, Macht kaputt was Dich kaputt macht! Klar, der Saddam Hussein hatte Kuwait überfallen. Aber muss man denn da mit Waffengewalt? Also geht es denn nicht auch anders? Später war ich dann sicher, dass der alte Bush den Krieg nicht nur nicht hätte führen dürfen, nein, er hätte auch zumindest bis Bagdad durchmarschieren müssen! Auch ohne Uno-Mandat meinetwegen. Dann wäre uns doch der zweite Irakkrieg, der vom Sohn dann, der wäre uns doch erspart geblieben!

Protest ist gut, sage ich seitdem, zumindest, wenn er ergebnislos verhallt. Serbien, Hufeisenplan. Alles gelogen, aber der Protest war da, dafür und dagegen. Wissen Sie noch? Und was waren wir empört über die Rente mit 67! Das ist doch unzumutbar, völlig klar! Aber ehrlich, noch empörter bin ich persönlich gewesen, als ich hörte, wie empört die in Frankreich über die Rente mit 62 sind. 62! Überlegen Sie mal! Das sind fünf Jahre weniger! Und das soll nicht gehen? Können Sie mir doch nicht erzählen.

Also da bin ich doch lieber dafür. Ich sage da klar, Stuttgart 21, her damit, das ist auch nichts anderes als diese Brücke in Dresden, über die alle so empört taten, als noch nicht gebaut wurde. Jetzt wird gebaut, und mir fällt der Name nicht mal mehr ein. Fragen Sie mal rum, wie vielen das noch so geht. Aber fragt ja gar keine mehr. Kein Wort mehr. Dresden steht noch! Wer hätte das gedacht? Und später fahren sie alle drüber, über die Brücke, da wette ich doch! Oder Berlin, was haben die getobt wegen Schönefeld, Hauptstadtflughafen, erinnern Sie sich? Und nun? Es wird gebaut und dann ist es fertig und dann wird es still ringsum und alle fliegen fleißig.

Man muss da ohne Illussionen sein. Solche Proteste dienen vor allem der Unterhaltung und der Berichterstattung, sie verschaffen einem, da fragen Sie ja genau den Richtigen, sie verschaffen einem das wohlige Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, Baumschützer, Strauchschützer, Atomkrieg und Tschernobyl, Elbetal und Juchtenkäfer, was weiß ich, ist auch egal. Das fusselt dann aber hinten so raus, bis nur noch die richtig Hartnäckigen Lust haben, da weiterzumachen.

Alle anderen wissen ja eigentlich von Anfang an, dass dieses Rumgetrabe auf der Straße dem eigenen Gewissen dient, aber nicht irgendeiner Sache. So lange ein Regime nicht völlig, ich sags mal mit meinen Worten, also völlig im Arsch ist wie das damals in Ostberlin, so lange juckt das keinen Demokraten, ob da 50, 5000 oder 500.000 Leute um sein Regierungsviertel traben. Der weiß doch, sowas wächst sich aus. Dann sind die Leute immer noch gegen Atomkraft, gegen Großflughäfen und Datensammlungen, aber wenn Tui günstige Reisen nach Tschernobyl anbietet, haben die, schwupps, die Kreditkarte durchgezogen und einen Flug gebucht, der flott über die Startbahn West rausflattert.

Weitere Folgen der PPQ-O-Ton-Reihe Doku Deutschland: Sorgen auf der Sonnenbank
Rock an der Rütlischule
Schwimmen mit Sirenen
Hausbuchführer im Widerstand

7 Kommentare:

Le Penseur hat gesagt…

Danke! Genialer Text!

bpb hat gesagt…

Selten hat mir jemand so aus dem Herzen gesprochen. Und es erinnert mich an alte HRK-Zeiten. Als die Städte noch aussahen wier schlafende Hunde. Ich bin gegen den Frieden.

ppq hat gesagt…

danke. für den frieden bin ich ja auch, so lange er zu meinen bedingungen herrscht

VolkerStramm hat gesagt…

"... das ist auch nichts anderes als diese Brücke in Dresden, über die alle so empört taten, als noch nicht gebaut wurde. Jetzt wird gebaut, und mir fällt der Name nicht mal mehr ein. Fragen Sie mal rum, wie vielen das noch so geht."

Es ist die Waldschlößchenbrücke.

Ich war und bin dagegen.
Nein, ich habe nicht demonstriert oder protestiert. Und ich habe mich auch nicht an Bäumen angekettet und ähnliche Faxen gemacht.

Ich bin dagegen, weil dieses Bauwerk ein Fall von Betrug ist.
Mit einem Aufwand von 180.000.000€ (zzgl. jährliche Wartungskosten 1.000.000€) wird ein Bauwerk errichtet, dass nur wenig nützt, das das Kernstück einer totalen Fehlplanung (innerstädtische Autobahnumgehung) ist und das die wirklichen Verkehrsprobleme nicht mal entschärft, geschweige denn löst.

Die übelste Elbeüberquerung in Dresden ist das sog. „Blaue Wunder". In der Rushhour geht dort (wegen stadtplanerischer Idiotie) gar nichts mehr. Und wenn das alte Bauwerk (Baujahr 1893) den Geist aufgeben wird, dann bricht das Chaos aus; und die WSB nützt da auch nichts.

War das jetzt ideologisch?
Ich denke nicht.

ppq hat gesagt…

kann ich nicht beurteilen. beurteilen kann ich nur, dass der mediale wind, der wegen des waldschlösschenfalls wehte, mit sicherheit in keinem verhältnis zu den auswirkungen des brückenbaus auf mind. 99,9 prozent der inländischen wohnbevölkerung stand.

aber nun hat er ja auch aufgehört. apropos hören. man hat da auch lange nichts mehr gehört: was macht eigentlich die loveparade?

Anonym hat gesagt…

zynisch, unverschämt!

ppq hat gesagt…

schlimmer noch! man sollte den autoren erschießen. sowas gehört sich nicht zitiert, das kann man in aller stille denken, damit ist es aber auch genug