Freitag, 10. September 2010

Bimmelkopf im Zeitenschimmel

Halle sei für ihn "eine nackte Stadt, nicht Haut, nicht Haar. Nicht Stein, nicht Fleisch", sagt der Dichter Peter Wawerzinek, den eine lange Geschichte mit der fadenscheinig-schönen Saalestadt verbindet. Damals, als er öfter hier war, seien die Häuser "Knochenbauten", gewesen "Hautbezug ihre Patina". Wawerzinek, der sich anschickt, als erstes Waisenkind den Deutschen Buchpreis zu gewinnen, hat "Zeitenschimmel" gerochen. In einem Text, den er in seinem "Baader"-Buch versteckt, porträtiert der Dichter "Halle als einen Ort ohne Zeit für Gefühle". Ein Geschwurbel ist das, in dem das ganze Elend sich wiedererkennt:

So kalt war die Stadt, Ausdruck von Gleichgültigkeit ihren Bewohnern gegenüber.

Wir sind zusammen Pioniereisenbahn gefahren. Auf Pioniergleisen im Pionierpark. Halle ist in diesem Moment für mich wunderschön.

Halles Zentrum wird dominiert von Billigläden. Für einen Euro kann ich mich mit Krempel eindecken. Billige T-Shirts, Schuhe. Die hallesche Skulptur, ein nackter Mann hebt ein nacktes Weib über die Schulter, wirkt durch den Hintergrund, diese vielen plumpen Billigläden, nicht nur anders. Hier scheint die Frau den Heber angestiftet zu haben, sich über dessen Schulter hocherhoben Übersicht über das Tagesangebot der Billigläden zu verschaffen. Oder ist es bereits zum Kaufrausch gekommen und der nackte Mann hält die nackte Frau zurück, will nicht, dass sie in einem der erstschlechten Läden rennt, sich billig mit Konsumtand bedeckt.

Alles ist anders, neuer. Und doch weiß ich die ausgeschlagenen Kacheln im Gebiss der Bahnhofskneipe wieder. Ich höre Wassertropfen stetig von der Decke tropfen.

Der Turm am Ende vom halleschen Boulevard ist schön.Die Kreuzung beginnt mit einem Parkstreifen linker Hand. Bänke und alte Telefonzellen stehen neben neuen, modernen, lila Telefoniersäulen. Der Mensch, der seine Wohnung verlässt, um zu telefonieren, ist im Aussterben begriffen.

Am Ufer der Saale finde ich die Pioniereisenbahn, die in Parkeisenbahn umbenannt worden ist, stehe am Bahnhof. Die alten Bänke sehen wie ehemals aus, als ich vierzehn Jahre alt war und mit den beiden halleschen Cousinen auf den Zug wartete. Das Grau der mechanischen Teile für die Schranke erkenne ich wieder. Das Grau der Geländer. Schwarzgelb abgesetzt zu den Gleisen. Der Bimmelkopf an der Schranke ist rot gestrichen und mit kleinen weißen Punkten versehen, einem Fliegenpilz ähnlich. Vor den Depot steht das Doppelhäuschen. Tiefblau wie die Sehnsuchtseele der Matrosen gestrichen. Schwanenbrücke heißt das idyllische Örtchen mittenmang im Parkgestrüpp gelegen. Bäume von Efeu umrankt. Licht fällt durch den Spalt des Efeumantels. Den großen Baum am Bahnhofseingang nehme ich als alten Bekannten wahr.

Keutgen, steht Ecke Kuhgasse am Balkonsockel über dem Eckladen geschrieben. Die Fenster sind verrammelt. Das Glas ist mit Plakaten zugekleistert. Luthers Gesicht sehe ich mal und die Zahl Fünfhundert. Aufgeschrieben wie auf einem Geldschein. Wie zum Hohn den Pleitegeier symbolisierend.

Die Fahne von einst ist aus Beton. War früher rot gestrichen. Rot wie Zornesröte im Gesicht. Vom Rot von einst ist etwas rot geblieben, insgesamt das Mahnmal abgeschwächt erhalten geblieben. Weiß vermengt mit Orange. Was früher die Arbeiterfahne war, weht heute keinem Hoffen mehr voran. Wo früher der Fahne zum Wedeln Platz beschieden war, ist alles zugebaut und Tiefgarage. Man kann den Anstrich auch als Computerschirm und Pixel deuten. Schöner als unschön anzusehen wird das Betongebilde davon nicht.

Der Name des Platzes, auf dem ich lande, kommt mir bekannt vor. Die zum Himmel sich reckenden Fäuste aus Stein fallen mir ein, die dort nicht mehr zu sehen sind. Was haben sie mich früher bedroht, wenn ich in Halle war, mich geballt begrüßt.

Verschwunden, erledigt, abgeschafft. Historisch überlieferte Plastik. Statt der Statue nun eine bebaute Leere, die den Platz bestimmt. Geschichtskorrektur schafft Vakuum. Das Verwinkelte und die schöne Enge sind im Halle von heute verschwunden. der Zahn der modernen zeit, die neumodische Architektur nagen große, weite, hohle Räume, freie Flächen. Wasserabweisende Fassaden. schmuckloses Glas. Kalte Materialien. Das Unterkühlte beim Bauen nimmt überhand. Kaum noch Winkel und Ecken zum Hindurchsehen.

Gewollter Leerstand, absichtliche Ruinen. Einst recht schöne Eingangsbögen, die man zugemauert und mit formlosen Metalltüren versehen hat. Die Arbeiten erledigt hier eine einzige Firma. Unterer Standard. Eomitionslos eingesetzte Blechtüren. Treu nach Vorschrift hingeklatscht. Einfache Mauerungen, potthäßliche Metallklappen. Presspappeähnliche Deckel in den Fenstervertiefungen. Ganze Häuserreihen durch.

Halle macht den Anfang, Halle bestimmt einen Trend und setzt neue Maßstäbe. Aus dem Land, aus allen teilen Europas kommen die Leute , machen Halle an der Saale zur kreativen Metropole. Besucher reisen in Scharen an, um mitzugestalten und von den halleschen Genies zu lernen, das Erlernte in ihre Kontinente mitzunehmen. Das hallesche Modell ist ein weltweiter Begriff, der um sich greift. Die hallesche Ruinenschmuckkultur gleichberechtigt neben der Wertschätzung für den Bauhausstil. Hallesche Träume in Architektur. Hallesche Fassaden. weltbekannt. Ein unbedingtes Muss in der schöpferischen Welt. Halle-Art der Begriff zum Mainstream. Die Stadt, die für Farbe und Kreativität steht.

Kongresse. Symposien. Japaner. Amerikaner. Ölschöpfende reiche Multis, die Halle so belassen wollen, wie Halle nun mal ist, und die Stadt in ihrem Land nachzubauen beginnen.

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