Donnerstag, 6. August 2020

Das (vorläufige) Ende der Sarrazin-Kriege

Schon vor zehn  Jahren spielten Masken symbolisch eine große Rolle.

Länger als ein Jahrzehnt hat es gedauert vom ersten Kugelwechsel bis zur finalen Schlacht. Viel zu lange für ein Publikum, das keine Langspielplatten mehr kauft, weil ihm schon so manche Single zu lange läuft. Damals jedenfalls, die SPD war noch eine Art Arbeiterpartei, Angela Merkel regierte zusammen mit der FDP, einer damals real existierenden liberalen politischen Kraft, und der Subprimesound, der vom Atlantik wehte, war eine "amerikanische Krise" (Peer Steinbrück), beschloss der frühere Bundesbanker und Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, ein Buch zu schreiben. "Deutschland schafft sich ab" nahm viel von dem vorweg, was später kommen sollte. Kaum jemand las es, aber es wurde gekauft, vor allem, als das Lesen der "kruden Thesen" (Spiegel) nach den ersten Rezensionen zu einem Akt des Widerstandes aufgewertet wurde.

Simulierter Skandal


Skandal, orgelten die Schlagzeilen, Empörung simulierten die Auguren im politischen Berlin, noch ehe sie das Buch nur aufgeschlagen hatten. Eine Staatsaffäre im Sommerloch, die keineswegs gleich als Versuch eines Kartells aus Medienkonzernen und Inhabern höchster Parteiämter quer durch das politische Spektrum zu erkennen war, einen Buchautoren zu instrumentalisieren, um den Korridor zu verengen, innerhalb dessen sich Meinungsäußerungen bewegen müssen, um "zulässig" zu sein. Gestalten wie der TV-Moraltheoretiker Michel Friedman, bekannt geworden als Liebhaber ukrainischer Nymphen, aber justament zurück im Scharfmacher- und Scharfrichtergewerbe, exekutieren den Täter öffentlich und mit einem Eifer, der nur durch ihre eigene Geschichte erklärlich ist: Können anderer Leute Sünden als schwer gebrandmarkt werden, erscheinen die eigenen gleich viel weniger verwerflich.

Sarrazin war keineswegs der erste Fall von Einhegung. Wohl aber der, in dem mit den brachialsten Mitteln, mit den schärfsten Waffen und den harschesten Vorwürfen gearbeitet wurde. Wie es gekommen wäre, wenn der kantige, oft unbeholfen wirkende und durch freie Reden holpernde und stolpernde Sarrazin sich als psychisch anfällig erwiesen hätte? Wenn er dem Druck nicht hätte standgehalten können? An wessen Händen würde sein Blut kleben? Am damaligen Bundespräsidentendarsteller Wulff, der Überparteilichkeit als allen zu Willen sein übersetzte, ehe er selbst ins tiefe Loch der Medienfeme fiel? Am liberalen Außenminister Westerwelle, der glaubte, höchstmögliche Biegsamkeit im Charakter forme den Grashalm zur Eiche? Oder an der Kanzlerin, die einen deutschen Provokateur verteufelte, ehe sie einen Moment später einen dänischen ehrte, weil er nicht sie provoziert hatte, sondern nur die islamische Welt?

Femegericht in der Wertegemeinschaft


Die deutsche Sozialdemokratie, seinerzeit noch geführt von wahren Bossen der Genossen, deren Namen heute allerdings längst vergessen sind, wollte jedenfalls nicht mithaften. Ein durchschnittlicher Schichtarbeiter hätte die 464 Seiten des "Machwerkes" (DPA) vermutlich nicht einmal komplett weggeschmökert, da startete die mehr als 100 Jahre alte sozialistische Wertegemeinschaft schon ein Femegericht: Sarrazin sollte raus, weg aus der Partei. Der Sturkopf aber wollte nicht - und so begann, was später als die Sarrazin-Kriege in die Geschichte der deutschen Meinungsfreiheitsschutzdebatten einging.

Nun ist "Sarrazin" ein Name, der auf seine Herkunft aus dem Jemen verweist. Von dort aus wanderten die Angehörigen des Volkes der Königin von Sanaa Richtung Nordafrika, später eroberten sie Frankreich, wo ihnen der Name "Sarrazenen" gegeben wurde. Einen Mann, der einen solchen Weg hinter sich hat, ausgrenzen zu wollen, obwohl er nicht Strafbares, ja, nicht einmal etwas Verbotenes geschrieben oder geagt hat, zeigt zum vielleicht ersten Mal, wohin eine Gesellschaft gerät, die sich das Meinungskorsett genüsslich selbst immer enger schnürt. Sarrazin wollte nicht gehen, die SPD-Führung, besser: die SPD-Führungen, denn es waren etliche seitdem, konnte nicht aufgeben. Hirsche, im Geweih verhakt.

Länger als der 2. Weltkrieg


Ein ganzes Jahrzehnt lang blieb irgendwer im Vorstand immer dran, unerbittlich, durch alle Instanzen und durch noch ein paar mehr. Das Medieninteresse, obgleich anfangs einem Dritten Weltkrieg angemessen, schlief aber doch bald ein. Die SPD ging durch ein tiefes Tal der Müdigkeit. Der "Spiegel" startete eine Werbekampagne für Testkits, die die Ermittlung des berühmten "Juden-Gens" zu ermöglichen versprachen, das Sarrazin zuvor angeblich erfunden hatte.

Erst die daraufhin wieder aufflackernde Empörung zwang zum Weitermachen - und nun, nach einem epischen Kampf, der länger gedauert hat als der 1. und der 2. Weltkrieg, konnte SPD-General Lars Klingbeil, zu Beginn der Affäre noch ein gerade 32 Jahre alter Hinterbänkler in seiner ersten Legislatur, Vollzug melden: Die SPD hat das undenkbare Titanenwerk vollendet und den mittlerweile 75-jährigen Bestsellerautor letztinstanzlich ausgeschlossen.

Sarrazin, der fünf Jahre länger SPD-Mitglied ist als Lars Klingbeil auf dieser Erde wandelt, hat allerdings bereits Verlängerung angekündigt. Er werde nun vor ein ordentliches Gericht ziehen, ließ er die Partei wissen, die in Jahren der Konzentration auf den Kampf gegen ihn und für eine saubere Parteilinie zwei Fünftel ihrer Wähler verlor. Da geht noch mehr. Das geht noch länger.

6 Kommentare:

Florida Ralf hat gesagt…

poesie, so schoen wie nie. eine wucht von einem blog post. aussenseiter - spitzenreiter.

Anonym hat gesagt…

Ein historischer Sieg für die Arbeiterklasse! Vorwärts!
Die SPD und ihre umnachteten Wähler sind nur noch ein Haufen Rollenspieler, die überlieferte Texte aufsagen, deren Bedeutung in den Läufen der Zeit verlorenging.

Anonym hat gesagt…

höchstmögliche Biegsamkeit im Charakter forme den Grashalm zur Eiche?
Ein wunderbarer Satz, gefällt mir sehr gut. Wie kömmt man auf sowas?

ppq hat gesagt…

danke, aber der satz ist einfach da, wenn er gebraucht wird. man muss ihn nur aufschreiben

Anonym hat gesagt…

eloi eloi, lama sabachthani

Grobübersetzung: Mein Gott, mein Gott, wieso hast du mich derartig in den Ursch gekniffen?

Eine akzeptable Antwort darauf fände sich bei Hyam Maccobi, so man denn wollte.

Anonym hat gesagt…

"Mene mene tekel u-parsin!"