Dienstag, 23. April 2024

Nach Steinmeier-Appell: Das neue Wir-Gefühl

Wie ein soziales Thermometer hat Bundespräsident Steinmeier erfühlt, dass die Frage des "Wir" immer wichtiger wird. Als Referenz an Freddie Quinn nannte er deshalb auch sein Buch so.

Das kann man nicht lernen, das hat man. Und Walter Steinmeier hat es mehr noch als alle anderen. Kaum hat der frühere Kanzleramtsminister, SPD-Fraktionschef, Außenminister und Kanzlerkandidat seinen neuen Ratgeber "Wir" vorgelegt, rückt die Nation spürbar zusammen. Dieses Wir aus dem renovierungsbedürftigen Schloss Bellevue, es ist ansteckend, elektrisierend.  Dieses Wir aus dem Mund des letzten Sozialdemokraten, der die große Zeit des Reformkanzlers Schröder noch selbst miterlebt hat, ist kein leeres Wort wie bei so vielen Politiker. Sondern gefühlte Amtsrealität eines Mannes, der sich noch nie davor gescheut hat, mit dem Finger auf die Wunde zu zeigen und um Hilfe zu rufen.

Das neoliberale Ich

Das neoliberale Ich, es war gestern. Das Dieda, das andere ausschloss, es wird nun selbst ausgeschlossen. "Wir" ist ein Wort, das ein emotionales Feld von Bindungen und Zusammenhalt bildet, in dessen Zentrum Walter Steinmeier steht und die Zugangsmöglichkeiten verwaltet. Für uns, so heißt das Wir aus der Binnensicht? Oder gegen uns? Teil des großen Ganzen, das vom gleichen Teamgeist, vom Gefühl der Kameradschaft und von einem gemeinsamen Korpsgeist beseelt wird. Oder Fremdkörper, der sich der Gruppenkohäsion verweigert und als störrisches Individuum Bedürfnisse verfolgt, die der Bewältigung der Gruppenaufgabe und der Erreichung des Gruppenzieles vielleicht sogar schaden.

"Wir" ist schon länger der von Politikern aller Lager verwendete Code für einen neuen Kollektivismus, der eine homogene Gesellschaft herbeibittet, in dem er ihr Notwendigkeiten vor Augen führt. Sollte es früher eine "Leitkultur" sein, die zu innerer Überzeugung führt, obwohl jenseits der Sprache nirgendwo Spuren einer solchen "Leitkultur" auszumachen sind, dient nun die gemeinschaftlich erlebte Lähmung angesichts globaler Herausforderungen als einigendes Band für alle, die ähnlich wie die Bundesregierung nicht mehr weiter wissen. 

Buchtitel von Freddie Quinn

"Wer hat noch nicht die Hoffnung verloren? Wir! Und dankt noch denen, die uns geboren? Wir!", sagt Freddie Quinn vor fast 60 Jahren in seiner "Hymne der Anständigen", den Liedtitel "Wir" borgte sich nun der Bundespräsident als Buchtitel, um dieselbe Botschaft ins Land zu tragen: "Denn jemand muss da sein, der nicht nur vernichtet, der uns unseren Glauben erhält, der lernt, der sich bildet, sein Pensum verrichtet, zum Aufbau der morgigen Welt".

So wahre Worte, dass die angesprochene Primärgruppe der dem Bundespräsidenten selbstähnlichen Zielgruppe der Gruppenmitglieder heute noch damit angesprochen werden kann. Das Wir, bisher appellativen Charakters in Sonntagsreden und mahnenden Ministerworten, entfaltet als Tageslosung formative Kraft. Wer nicht für uns, also für das Wir ist, der ist dagegen, der gehört nicht dazu, der hat sich selbst ausgeschlossen, obwohl er anders gekonnt hätte. 

Das neue Steinmeier-Wir

Das neue "Wir"-Gefühl steht für alle offen, die zu den Personen gehören wollen, zu denen der Bundespräsident gehört, zu einem illustren Kreis also, der an Lösungen arbeitet, keinen Rechtsruck "hat", aber "Angst", der "schneller und einfacher"  werden will, aber auch das Miteinander der Generationen stärken. 

Wie ein Wetterleuchten schwebt es über allem, dieses Wir aus Menschen, zu denen die eigene Person zählt, aber eben auch die anderen, die so sind wie sie, so denken, fühlen, handeln. Wo Freddie Quinn noch glaubte, ein "ihr" erwähnen zu müssen, als das Andere, Fremde, Unverständliche, kommt das Steinmeier-Wir ohne sein Gegenteil aus. In ist, wer drin ist, denn hilft, Schluss zu machen mit Konflikten und Wettbewerb innerhalb des Wir, die nur die Gruppenkohäsion schwächen. 

Ein Wir aus Wiren

"Wir sehen, dass diese turbulente Weltlage, gerade auch für Demokratien eine große Herausforderung ist, weil Autokratien ganz gezielt die jetzige, so volatile Situationen nutzen, um Demokratien zu destabilisieren", hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ("Wie wir unser Land erneuern") die Thesen des Bundespräsidenten bekräftigt. Deswegen brauche es gerade in solchen Momenten, gerade vor der Europawahl, "Geschlossenheit zwischen allen demokratischen Akteuren in unseren Gesellschaften." Die auf ihre Weise auch nur ein Wir sind, nur eben eins aus vielen Wiren.

Draußen bleibt wer Pech hat und sich die Anpassungsleistung nicht zutraut. Auch er aber leistet der Gemeinschaft des Wir einen unschätzbaren Dienst, denn der Grad der Gruppenkohäsion steigt immer dann, wenn die Gruppe im Wettbewerb mit einer oder mehreren anderen Gruppen steht.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Steinmeier, Schriftsteller, Philosoph und Dönerschneider. In allen Bereichen Weltklasse.

Volker hat gesagt…

Ich mag ihn am meisten als Dönerschneider