Dienstag, 28. November 2017

Wende eingeleitet: Angela Merkels Geheimrede zur Lage der Nation*

Große Stunde gestern im Bundestag: Angela Merkel bekannte sich in einer Geheimrede vor der CDU-Fraktion zu Fehlern und einer Wende der Politik.
Schien es in den ersten Tagen nach der Bundestagswahl noch, als könne es Angela Merkel gelingen, ohne große Kursänderungen weiter am Ruder zu bleiben, kam die Situation in den vergangenen Wochen immer mehr ins Kippeln. Die Kanzlerin, vor zwei Jahren noch so mächtig, dass sie die deutschen Grenzen mit reiner Gedankenkraft öffnen konnte, wirkte angeschlagen, die Mundwinkel hingen noch tiefer als sonst, die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen deuteten auf den erstmaligen Verlust der Machtperspektive der Union seit Helmut Kohls Amtsantritt hin.

Doch nun hat sich Angela Merkel in Klausur begeben, mit wenigen Vertrauten wie Altmeier und Baumann über die Lage beraten und Schlüsse gezogen. Wie stets geschieht das bei der Hamburgerin wie instinktiv, sie reißt das Ruder herum, ohne früheren Positionen lange nachzutrauern. "Fehl­ent­wick­lun­gen der Ver­gan­gen­heit müssen für immer aus­ge­schlos­sen werden", sagte sie in einer Geheimrede auf einer internen Strategietagung der CDU-Fraktion.

PPQ dokumentiert die vielleicht fulminanteste Ansprache, die je eine deutsche Kanzlerin gehalten hat. Beobachter ziehen bereits Vergleiche zur bahnbrechenden Geheimrede Nikita Chruschtschows am 25. Februar 1956 zum Abschluss des 20. Parteitages der KPdSU, in der er mit dem System des Stalinismus und den Verbrechen Stalin abrechnete.

Liebe Freundinnen, Freunde, Parteimitglieder, Funktionäre, Damen, Herren und Mitbürgerinnen!

Unsere heutige Plenartagung hat die Aufgabe, im kollektiven Gedankenaustausch und Meinungsstreit die aktuelle Situation in unserer Gesellschaft aus der Sicht unserer Partei kritisch und selbstkritisch zu analysieren und Schlussfolgerungen für die politische und organisatorische Arbeit der Union zu ziehen - die Grundlagen für die Vorbereitung unseres nächsten Parteitages zu legen und den Mitgliederinnen und Mitgliedern unserer Partei, den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes mit einem Aktionsprogramm unsere Vorstellungen für die weitere Arbeit für ein Land zu unterbreiten, in dem wir gerne leben.

Ich verstehe diese Rede als ersten Beitrag für die Diskussion. Der Meinungsaustausch soll und wird den von der ganzen Partei geführt werden, um den von mir vorbereiteten Entwurf für das Aktionsprogramm unserer Partei zu ergänzen und zu bereichern. Am Ende sollten eine einheitliche Grundorientierung und vor allem die Entschlossenheit zum gemeinsamen Handeln unserer Gemeinschaft stehen, mit dem wir vor unser gesamtes Volk treten.



Gefahren verlangen Reaktion


Die Gefahren, die vor unserem Land und vor unserer Partei stehen, verlangen ein konstruktives, auf die Lösung der gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben gerichtetes Handeln. Die Situation im Land ist angespannt, und sehr widersprüchlich. Das Stimmungsbild ist gekennzeichnet von einer bisher nicht gekannten Spaltung der Gesellschaft. Sie hat sich zuerst an der Basis, mitten im Volk, unter den Bürgern, darunter in den Ortsgruppen unserer Partei, geäußert. Eine Volksbewegung ist entstanden und drückt sich in vielen Formen aus in selbstbewussten Demonstrationen, sogenannten Hasspostings im Internet wie im vielstimmigen Dialog bei Facebook, Twitter und am Rande von Veranstaltungen. 


Diese Volksbewegung hat einen Prozess der Überprüfung und der Veränderung auch bei mir ausgelöst. Unüberhörbar hat sich demokratisches Selbstbewusstsein entwickelt, das eine freiheitliche Gesellschaft einfordert, in der jeder sein Leben in eigener Verantwortung leben und ein Gemeinwesen mitgestalten kann, das sich als lebendiges und schöpferisches Werk eines souveränen Volkes versteht.

Wir alle erleben in diesen Tagen ohne Regierung ein nie dagewesenes Volksgespräch. In ihm wird ungeahnter origineller und engagierter Geist im Meinungsstreit für ein Land, in dem wir alle gerne leben sichtbar. In diesem Dialog sind viele elementare Forderungen formuliert worden. Sie finden sich auch im Aktionsprogramm wieder, das ich erarbeitet habe. Aber es gibt auch illusionäre Vorstellungen und - das kann und darf niemand überhören - ebenfalls demokratiefeindliche Auffassungen.


Zügellose Feinde der FDGO


Das beunruhigt viele Bürger, die Tag für Tag erleben müssen, wie zügellos sich die Feinde unserer FDGO in die inneren Angelegenheiten des Volkes einmischen und seine berechtigten Forderungen auszunutzen versuchen, um unsere offene Gesellschaft zu beseitigen und damit alles, was die Arbeiterklasse, die Unternehmer, die Genossenschaftsbauern, die Angestellten und alle anderen Bürger, was das gesamte Volk an Gutem geschaffen hat. Deshalb muss unsere Gesellschaft wachsam sein. Das Eigenständige und Unverwechselbare, das in den Jahren nach der Niederlage des Hitlerregimes entstanden ist. sollte niemand leichtfertig aufs Spiel setzen.

Zugleich wird das gegenwärtige Bild von der Einsicht und Haltung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung gekennzeichnet, dass bei aller unaufschiebbaren Aufarbeitung brennender Probleme, bei allem notwendigen Dialog, bei allem berechtigten Widerspruch nicht weniger wichtig bleibt, Augenmaß anzulegen, weiter am Aufschwung zu arbeiten und den Menschen aus aller Welt, die Schutz suchen, zu helfen. 



So richtig es ist - und die aktuelle Lage ist Ausdruck dafür - dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, so richtig ist auch, dass er auch das Brot braucht, die Milch, das Licht und die Wärme. Jeder, auf welcher Position er im aktuellen Geschehen auch steht, trägt als Bürger dieses Landes seine Verantwortung für das Funktionieren der Gesellschaft, in der wir alle gerne leben. Worüber in Rathäusern und auf der Straße, in Arbeitskollektiven und Gremien auch debattiert wird, manchmal auch kontrovers, immer muss an das Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und an die Verpflichtungen Deutschland gegenüber den europäischen Partnern gedacht werden.

Wir leben nicht auf einer Insel. Wir sind Teil eines sehr sensibel reagierenden europäischen Organismus. Niemand kann so tun. als ginge es nur um seinen eigenen Herd. Wir alle sind gefordert, uns mit der Anspannung all unserer geistigen und moralischen Kräfte aus eingefahrenen Denkgleisen herauszureißen. Politik ohne Wissenschaft führt in die Irre. Wir brauchen Vernunft, und Wissenschaft ist konzentrierte Vernunft. Das Wort vom Denken als erster Bürgerpflicht ist aktuell, und Nachdenklichkeit gehört dazu.

Denken ohne Schablonen


Ohne ein von jeder Schablone befreites Denken und ohne gründliches Nachdenken werden wir die Sachlichkeit, die für das Finden tragfähiger Lösungen unbedingt erforderlich ist, nicht erreichen. Sachlichkeit, Sachkenntnis und Besonnenheit sind der große gemeinsame Nenner dieser Regierung und unserer Partei, sie sollten auch Ziel aller sein, die Verantwortung in dieser Gesellschaft tragen beziehungsweise bereit sind, sich an dieser Verantwortung zu beteiligen. Es geht um nichts geringeres als um die Zukunft dieses Landes als Mitglied der EU im Herzen Europas. 


Uns alle im Parteivorstand und auch mich persönlich schmerzt es tief, wie unsere Partei in die öffentliche Kritik geraten ist. Es schmerzt viele um so mehr, da sie in Tausenden Stunden ihres Lebens die Pflicht gegenüber dem Allgemeinwohl höher angesetzt haben als ihre persönlichen Interessen.  Wer dieses Arbeitswerk der Menschen bei aller berechtigten Kritik entwürdigt, der muss sich auch fragen lassen, welche Achtung er vor den arbeitenden Menschen, vor ihrem Fleiß und ihrer Ehre hat!

Die Mehrzahl der Mitglieder unserer Partei, der Ortsgruppen, Bürgermeister, Kassenwarte, Abgeordnete, die Funktionäre aller Ebenen bemühen sich, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, leisten viel Arbeit und kämpfen. Manchem wurde in der Vergangenheit Unrecht getan, wenn seine Meinung, die Protest gegen unverständliche oder falsche Entscheidungen der Parteiführung war, zu Parteistrafen oder gar Parteiausschluss führte. Solche Entscheidungen sind zu überprüfen und wo notwendig rückgängig zu machen.

Ohne Wenn und Aber der Kritik stellen


Die auf unsere Partei, vor allem auf ihre Führung, konzentriert Kritik resultiert aus der von uns in der Gesellschaft wahrgenommenen Verantwortung. Wer entsprechend seinem Auftrag aus der Verfassung mit seinem Programm vorangegangen ist, der muss nun in der Stunde des offenen Widerspruchs auch bereit sein, für diese Verantwortung ohne Wenn und Aber geradezustehen. Wie wir diese Republik als Teil des Volkes mit dem ganzen Volk aufgebaut haben, so müssen wir als Teil des Volkes auch dem ganzen Volk Rechenschaft geben. Dazu bekenne ich mich, dazu bekennt sich die Führung der Union. Aus meinem Verständnis für Verantwortung habe ich in dieser schwierigen Situation den Auftrag  übernommen, weiter als Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin zu arbeiten, obwohl ich die Schwere dieser Arbeit kenne.



Die Frage, die alle bewegt, ist: Was hat zum gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft geführt? Unsere Partei hat große geistige Anstrengungen übernommen, um ihren Führunganspruch zur Geltung zu bringen. Und viele Mitgliederinnen und Mitglieder haben ihn mit ihrer Arbeit getragen. Und doch, ein Grundmangel unseres bisher existierenden Systems war eine solche Beziehung zwischen Partei und Staat, dass die Partei diesen Anspruch letzten Endes doch in hohem Maße administrativ durchzusetzen versuchte. Ich als Kanzlerin habe den Kurs festgelegt, alle anderen waren bemüht, ihn ohne große Gegenrede umzusetzen.

Das künftige politische System unseres Landes muss so beschaffen sein, dass unsere Partei einen Führungsanspruch durch größtmöglichen Anspruch an sich selbst vertritt - durch demokratisch und mit Wissenschaftspotential erarbeiteten Vorlauf zur Lösung anstehender Probleme, durch eine überzeugende Gesellschaftskooperation, durch die Lernfähigkeit im Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften, durch die Kompetenz ihrer Mitglieder, durch harte Arbeit jeder Parteiorganisation.


Tatsache ist: Die heute in aller Öffentlichkeit behandelten Probleme und Fragestellungen sind nicht über Nacht und auch nicht erst im Sommer vor zwei Jahren entstanden. Die tiefgründige Analyse der Entwicklung seit dem Beginn  meiner ersten Amtszeit wird uns zu manchen neuen Erkenntnissen fuhren. Heute wissen wir zum Beispiel, dass der Ansatz für ein gemeinsames Europa nicht auf einer realen Einschätzung der Lage beruhte. 


 Aus den Erkenntnissen, die uns jetzige Analysen vermitteln, wird deutlich, dass damals bei der Formulierung ökonomischer Aufgaben nicht von der Realität, sondern von subjektiven Wunschvorstellungen ausgegangen wurde. Eine gemeinsame Währung sollte einen gemeinsamen Wirtschaftsraum hervorbringen, der wiederum sollte zu einem gemeinsamen politischen Raum zusammenwachsen. Dabei wurde aus den bedeutsamen internationalen Entwicklungen wie sie sich vor allem in der Sowjetunion, aber auch in Jugoslawien vollzogen, nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Eine Einheit von oben ist nicht herstellbar, eine Währung kann den Willen der Menschen nicht ersetzen.

Statt Lösungen gab es Losungen


Negative Erscheinungen, die aus den ungelösten objektiven Entwicklungsproblemen und auch zunehmend aus subjektiv bedingten Fehleinschätzungen resultierten, hatten sich auf vielen Gebieten ausgebreitet: in der Wirtschaft, in der Informationspolitik und den Medien, im Kultur- und Geistesleben, in der Volksbildung, in der Arbeit staatlicher Organe, gesellschaftlicher Organisationen und nicht zuletzt in unserer Partei.

Anstatt Lösungen von Problemen zu beraten, wurden allgemeine Losungen in Umlauf gebracht und stereotyp wiederholt, um in Ordnung zu bringen, was noch nicht in Ordnung ist. "Wir schaffen das", habe ich selbst zum Beispiel behauptet. Anstatt Probleme sofort und direkt anzusprechen, ließen wir uns von der Hoffnung treiben, sie eines Tages bei günstigeren Konstellationen wieder in den Griff zu bekommen. Anstatt unsere Genossen und alle Bürger ins Vertrauen zu ziehen und sie so für eine engagierte Mitarbeit zur Lösung zu gewinnen, wurde versucht, ihnen ein Gesellschaftsbild zu suggerieren, das immer weniger den Alltagserfahrungen der Menschen entsprach. Konflikte wurden verdrängt und notwendige Antworten oft durch Administration und Gängelei ersetzt. wer kritisierte, wurde als "Hassposter" oder "Hetzer" oder "Zweifler" angeprangert.

Tatsache ist auch: Die vorhandenen vielfältigen Formen der Demokratie blieben hinter den breiter werdenden Interessen und Bedürfnissen der Bürger zur Mitsprache zurück. Die politische Reife der Bürger und ihre Bereitschaft, sich mit ihrer unverwechselbaren und selbstbewussten Individualität in die Gesellschaftsgestaltung einzubringen, wurden unterschätzt. Auf diesem Boden wuchsen bürokratisches Verhalten und Herzlosigkeit im Umgang mit Bürgern. Die Missachtung der Individualität und Kompetenz in der beruflichen und gesellschaftlichen Tätigkeit führte nicht selten zur Ignoranz gegenüber geistigem Volksvermögen und ließ Schöpfertum verkümmern.

Tatsache ist nicht zuletzt: Unsere Wirtschaftspolitik ist hinter den Realitäten zurückgeblieben. Neue Anforderungen an unsere Wirtschaft. auch wachsende außenwirtschaftliche Probleme, Stichpunkt Digitalisierung, wurden nicht mit notwendigen Veränderungen in der Volkswirtschaft beantwortet. Große Investitionen, die nicht ausreichend zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes beigetragen haben, nahmen bedeutende materielle und finanzielle Ressourcen in Anspruch. 


Das Prinzip, dass nur verbraucht werden kann, was vorher erwirtschaftet worden ist, wurde sträflichst verletzt. der Staat nahm immer mehr ein, den Bürgern blieb immer weniger. Den immer schneller steigenden Steuereinnahmen standen nochschneller steigende Sozial- und Subventionsausgaben gegenüber. 

Unsicherheit und Unruhe breiteten sich aus


All das hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Stimmung im Lande. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nahm zu. Unruhe und Unsicherheit breiteten sich aus. Demonstrationen setzten ein, etwa bei Pegida in Dresden, deren Teilnehmer in ihrer überwiegenden Mehrheit für notwendige Veränderungen in der Gesellschaft eintraten, unter die sich aber auch staatsfeindliche, auf Konfrontation und Konflikt bedachte Kräfte mischten. Ohne den Einfluss der Russen zu unterschätzen, müssen wir uns doch eingestehen, daß die eigentlichen Ursachen dieser für unsere Gesellschaft schmerzhaften Abkehr von den eingeübten Ritualen der Meinungsbildung in unserem Lande bei uns selbst zu suchen sind. Viele Menschen hatten den Glauben an die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland verloren und sahen für sich keine Lebensperspektive mehr, obwohl es uns wirtschaftlich so gut geht wie noch nie zuvor.


All das, was gut und wertvoll ist in unserem Land, ist nicht allein Resultat der Initiative der Regierung, sondern Ergebnis gemeinsamen Wirkens aller gesellschaftlichen Kräfte, der Anstrengungen, der Arbeit von Millionen. Zweifellos ist es diese historische Leistung unseres Volkes, die die Welt bewundern und manchmal auch neidisch auf unser Land zu schauen.


Uns aber hat diese Bewunderung verleitet, die Existenz sich verschärfender Widersprüche, die aus der Tiefe der Gesellschaft ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drängten, zu verleugnen. Deutlich wurde, dass aus längere Zeit angestauten unbewältigten Problemen schwerwiegende Konflikte entstanden waren und unser Land in eine politische Krise geraten war. Wir standen an einem Scheideweg. Und wir sind stehengeblieben. 

Wir brauchen die offene Debatte


Die offene Debatte über das, was die Menschen bewegt, das gemeinsame Suchen nach Lösungen, der Streit um die jeweils beste Variante entwickelte sich in vielen, wenn nicht in allen Fällen zu einer Schule demokratischen Umgangs miteinander für alle Beteiligten. Die Bürgerinnen und Bürger wollten diskutieren. Wir wollten weitermachen wie bisher. Die vielschichtige Entwicklung spiegelt sich zunehmend in Massenmedien vor allem im Internet wider, in denen schon nach dieser kurzen Zeit wohltuende Veränderungen und ein neuer, erfrischender Geist unübersehbar sind. Statt unkritisch zu berichten, wird hier eine andere Elle angelegt. Wir finden das erfrischend, denn wir sehen die Verantwortung der Journalisten vor dem gesamten Volk darin, daß sie die eingeleitete Wende mit persönlichem Engagement und Besonnenheit, mit Sachkenntnis und Weitsicht befördern. Eine  öffentliche, sachkundige Erörterung gesellschaftlicher Probleme ist die Voraussetzung, Wege zu ihrer Lösung zu finden. Das ist gut, und das sollten wir fördern.


Zu lange war das anders. Wir müssen selbstkritisch einschätzen: Wir waren auf den offenen Ausbruch der Konflikte, auf die neuen Fragen in unserer Gesellschaft nicht vorbereitet! Versuche einzelner Parteimitglieder, Alternativvorstellungen im Bereich der Ökonomie, in der Medienpolitik, in der Jugendpolitik, zu internationalen Aufgaben und zu anderen Fragen zur Diskussion zu stellen, fanden keine Mehrheit, ja mehr noch, wurden verdächtigt, die Gesamtpolitik der Partei in Frage zu stellen. Die unübersehbaren wirtschaftlichen Erfolge führten zu einer unanfechtbaren Dominanz einzelner Funktionäre. Die Kollektivität der Führung war immer weniger gewährleistet. Kritik und Selbstkritik blieben unterentwickelt. Das führte in der Folge immer öfter zu subjektivistischen Entscheidungen. So konnte ich, ohne die Parteiführung, ohne die Mitglieder und ohne die gewählten Abgeordneten zu fragen, im Sommer 2015 einfach so die Grenzen öffnen. Ich habe damals selbst gestaunt, wie wenig Widerspruch daraufhin kam.


Heute ist klar: Die Lage wurde falsch eingeschätzt und deshalb auf Fragen nicht reagiert, die das Leben längst aufgeworfen hatte. Es gab Anzeichen politischer Arroganz. Entscheidungen, die kollektive, besonnene Beratung erfordert hätten, entstanden aus spontaner, oftmals aus persönlicher Verärgerung. Der Blick für das Leben war verlorengegangen.

Parteiführung fand sich zu lange mit Situation ab


Alle Mitglieder der  bisherigen Parteiführung sind sich bewusst, dass sie sich - bei allem Ansatz zum Widerspruch - zu lange mit dieser Situation abgefunden und nicht rechtzeitig genug mit kollektiver  Kraft Einspruch gegen autoritäre Erscheinungen erhoben zu haben. Die Überzeugung, mit demonstrativer Einheit und Geschlossenheit die Partei zu führen, um den Medien kein Futter für Konfliktberichterstattung zu geben, war tiefer als die Einsicht, mit dem persönlichen Beispiel des Widerspruchs das gemeinsame Nachdenken und Handeln auszulösen. Heute wissen wir: Einheit und Geschlossenheit brauchen zu vor den gemeinsamen scharfen politischen Streit.

Selbstkritik kam völlig aus der Mode


Mangel an Realitätssinn drückte sich in der Überbewertung erreichter Ergebnisse, in der Darstellung von Erstrebtem als schon Erreichtem, in der Verdrängung oder gar Negierung von Rückständen, Mängeln und Fehlern aus. Sichtbar für alle war das besonders in den Medien, die in diesem Sinne angeleitet wurden. Die politische Kultur verfiel. In der Gesellschaft kam Selbstkritik völlig aus der Mode. Kritik an negativen Erscheinungen wurde mit der Begründung, man dürfe dem Feind keine Munition liefern, mehr und mehr den ausländischen Medien und kleinen Internetseiten  überlassen. Hinzu kamen abwartende bis ablehnende, teils dogmatische, teils überhebliche Tendenzen gegenüber der Entwicklung in anderen EU-Ländern, die wir als schlecht regiert empfanden..

All das lähmte Initiativen, verschüttete Bereitschaft zum gemeinsamen Überwinden von Schwierigkeiten. Die Autorität der Parteiführung, ihre in Jahrzehnten konsequenten Kampfes für die Interessen des Volkes errungene Verbundenheit mit den Massen, worauf wir immer stolz waren, erlitt schweren Schaden. Als kluges, entschlossenes, einheitliches Handeln besonders dringlich war, gab es an der Spitze der Partei Sprachlosigkeit. Das beeinträchtigte die Handlungsfähigkeit der Partei und begünstigte die Destabilisierung im Lande, die von zum Teil aus Russland gesteuerten Bots geschürte Psychose und die Ausbreitung krisenhafter Erscheinungen fand bei manchem Bürger offene Ohren.


 Schwierige Zeiten für die Partei


Alle diese Fragen bedürfen einer weitergehenden, konsequenten und vollständigen Klärung. Diese Zeit zählt zweifellos zu den dramatischsten und kompliziertesten in der Geschichte unserer Partei. Die Auseinandersetzung darüber, wie es zu einer solch schwerwiegenden Fehlentwicklung kommen konnte, muss letztlich zu Garantien führen, die für immer eine Wiederholung ausschließen.




Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Die Wende, die wir wollen, ist noch lange nicht vollzogen, und wir müssen mit Widerstand gegen sie rechnen. Diese Chance muss jedoch anders als in ähnlichen Situationen der Vergangenheit genutzt werden. Es geht weder um kosmetische Korrekturen, weder um Flickwerk noch um Fehlerüberwindung durch einfaches Vorwärtsschreiten. Es geht darum, solche Bedingungen für die Gesellschaft zu schaffen, dass ein Zurück zu alten Zeiten nicht mehr möglich ist.

Es gilt, die wirklichen Wurzeln, die uns in diese Situation gebracht haben, aufzudecken und restlos zu beseitigen. Damit verbunden sind solche Bedingungen und Strukturen zu schaffen, die nicht nur die begonnene Entwicklung unumkehrbar, sondern solche Krisensituationen nicht wiederholbar machen.

Auf dieser Tagung heute muss sich die Parteiführung über alle Fragen grundsätzlich verständigen. Wenn nötig im harten Meinungsstreit. Es geht um die richtige gemeinsame Position, die uns in die Lage versetzt, am Ende mit einer Stimme zu sprechen und mit dem Aktionsprogramm alle Mitglieder der Partei in dem schweren Kampf um die Wiedergewinnung des verlorenen Vertrauens zu führen.


Wir suchen den Lernprozess


Das kann nur in einem kollektiven Dialog-, Erkenntnis- und Lernprozess in der Partei und in der gesamten Gesellschaft geschehen. Ziele und Inhalte dieser Gesellschaftsstrategie können sich nur aus der souveränen Entscheidung der Mehrheit des Volkes herleiten. Die sozialen, geistig-kulturellen und demokratischen Bedürfnisse und Ansprüche der Bürger unseres Landes sind es, die unsere Aufgabe bleiben.  Sie unterliegen zugleich vielfältigen Veränderungen. Unsere Gesellschaftsstrategie wird danach beurteilt, wie sie jedem einzelnen ausreichend Möglichkeiten eröffnet für seine Persönlichkeitsentwicklung, welchen Spielraum sie ihm für die individuelle Lebensgestaltung schafft.

Die Bürger - reich an Wissen, politisch interessiert und motiviert - verstehen sich zu Recht als mündige Bürger. Sie wollen sich in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess auf allen Ebenen einbringen. Der Mensch als bewusstes Subjekt gesellschaftlicher Prozesse, als unverwechselbare, kreativ und verantwortungsbewusst handelnde Individualität - das ist die entscheidende Quelle zur Lösung der vor uns liegenden komplizierten Aufgaben.


Die Ausarbeitung einer neuen Gesellschaftsstrategie kann nicht auf der Beteuerung abstrakter Prinzipien beruhen. Es geht einzig und allein um die Bestimmung einer Gesellschaftsordnung, in der die Menschen sich selbst verwirklichen und durch ihre Arbeit zunehmend ihre Bedürfnisse und Interessen befriedigen können. Das Land, das wir meinen, kann nur das Werk der Volksmassen selbst sein.

Wir brauchen nicht bei Null anzufangen


Wir brauchen bei der. Ausarbeitung unserer Gesellschaftsstrategie nicht bei Null anzufangen. Zu den Grundlagen der Entwicklung Deutschlands gehören die Marktwirtschaft, das private Eigentum an den hauptsächlichen Produktionsmitteln, Staatseigentum und private Versicherungen, aber auch die Verantwortung unserer Partei in der Gesellschaft und das Bündnis aller demokratischen Kräfte unseres Landes. Wer diese Grundlagen in Frage stellt, sollte sich gründlich überlegen: Will er das gesellschaftliche Chaos, will er Destabilisierung an der sensiblen Trennlinie zwischen demokratischer EU und diktatorischen Regimes wie in Russland, China oder der Türkei? Will er gefährdete Arbeitsplätze, will er soziale Unsicherheit anstatt der sozialen Sicherheit für alle?

Das kann natürlich andererseits nicht bedeuten, daß Errungenes erstarrt. Auch hier ist immer wieder zu prüfen, was entwicklungs-, erneuerungs- bzw. reformbedürftig ist. Eine wirkliche Stabilisierung der Grundlagen unseres Wohlstandes verlangt mehr als eine schwarze Null.

Zukunftsgestaltung kann weniger denn je bloße Fortschreibung der Gegenwart sein. Ausgangspunkt können nur die Erfahrungen und Bedürfnisse des Volkes sein. Davon ausgehend sind die neuen gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu erkunden und realistische Orientierungen auszuarbeiten. Wir brauchen eine realistische Zukunftsvision, die in allem den Menschen zugewandt ist.

Vieles, was für die freie Entwicklung des einzelnen Voraussetzung ist. hat unsere Gesellschaft geschaffen: soziale Sicherheit, hohe Bildung, vielseitige Ausbildung. Vieles, was für die freie Entwicklung des einzelnen unverzichtbar ist muss noch geschaffen werden: das tatsächliche Mitspracherecht der Bürger bei der Entscheidung großer Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Zukunft sowie bessere Bedingungen für die Selbstverwirklichung des einzelnen. Unserem Bekenntnis zur freien Entwicklung und Entfaltung der Individualität jedes einzelnen haben jetzt gut überlegte, praktische Taten auf allen Gebieten zu folgen.

Der Mensch als Triebkraft

Die Individualität der Menschen ist konsequent als gesellschaftliche Triebkraft und Quelle von Innovationen zu begreifen und im Interesse des einzelnen und der Gesellschaft zu nutzen. Die Achtung und Entfaltung der Individualität gehören zur Lebensqualität und zur Ausbildung eines positiven Lebensgefühls. Wir müssen künftig gesellschaftliche Freiheit vor allem als demokratische Suche nach Varianten und Bestimmung der günstigsten Möglichkeiten weiteren Fortschritts verstehen. Die für die Freiheit unverzichtbare Einsicht in das gesellschaftlich Notwendige muss selbst frei sein. Dafür sind die entsprechenden politischen Voraussetzungen zu schaffen und zu garantieren.

Unsere Gesellschaft kann nur eine demokratische Gesellschaft sein. Bei allem, was geschaffen worden ist. erkennen wir heute deutlich, dass das demokratische Potenzial der Menschen im Lande unzureichend erschlossen wurde. Dialog, streitbares Ringen um die bestmöglichen Entscheidungen, Meinungsfreiheit, hohe Autorität von Moral und Recht, klare Verantwortlichkeiten und effektive Kontrollmechanismen, Bedingungen für kompetente und rasche Entscheidungen müssen zu Wesenszügen unserer Demokratie werden. 


Zeit für eine moralische Wende


Wir streben eine moralische Wende unserer Gesellschaft an. Vieles haben beziehungsweise hatten wir erreicht, aber manches ist auch verlorengegangen. Wir bekennen uns zur FDGO, in der die moralischen Werte des Christentums ebenso wie die allgemeinmenschlichen Werte, die aus dem geschichtlichen Wirken unterschiedlicher Klassen, Weltanschauungen, kirchlicher und anderer Gemeinschaften hervorgegangen sind, in die Vermittlung von Lebensidealen einfließen. Gewissen und Moral müssen einen weitaus höheren Stellenwert in Politik. Ökonomie und anderen Bereichen einnehmen.

* Nach Motiven der Antrittsrede von Egon Krenz als Generalsekretär des ZK der SED (Berlin, 18. Oktober 1989)

3 Kommentare:

derherold hat gesagt…

tl;dr

Anonym hat gesagt…

Herr, (@ herold) dunkel war der Rede Sinn (Schiller).

'Wir sollten, weil wir müssen' ... hat gesagt…

"...fulminanteste Ansprache, die je eine deutsche Kanzlerin gehalten hat..."
"...bahnbrechende Geheimrede.."
"Wir brauchen die offene Debatte."

Also irgendwie kriege ich diese ausmalenden Beschreibungen nicht zusammen mit der Person
Angela Merkel.

Das Herumgeeiere mit dem Pluralis Majestatis schon eher:
Wir suchen ...
Wir müssen ...
Wir ringen ...
Wir brauchen ...
Wir bekennen ...

("Diese Erklärung ist kein Papier der Taktik.
Vor uns steht ein Berg von Arbeit.
Unsere Presse wird mit Sicherheit kein Tummelplatz für Demagogen sein ... Sie muß darauf achten, daß komplizierte Fragen nicht durch allzu simple Antworten verwässert werden.
Wir sind uns des Ernstes der Lage bewusst.
Wir spüren und erkennen die große Chance, um in engster Verbindung mit dem Volk in einer Atmosphäre der Offenheit, des gemeinsamen Zupackens die neuen Positionen auf unserem sozialistischen Kurs zu bestimmen.
Alles liegt in unserer Hand...")
Egon Krenz