Sonntag, 24. Dezember 2017

Weihnachtsbotschaft: Ein vorweihnachtlicher Erguß



Stille Nacht, heilige Nacht. Ein Tag, an dem die Zeit stillzustehen hat. Ein Tag, an dem es vielleicht gar nicht hell wird. Ein Tag, an dem es sich lohnt, über Grundsätzliches nachzudenken: Woher kommen wir? Wohin fährt dieser Zug? Wo spielt die Musik? Wer spielt sie? Und warum?

PPQ-Gastautor Aljoscha Z. Karl sinniert in der diesjährigen Weihnachtsbotschaft über Sinn und Unsinn von Musik zur Weihnachtszeit, den Zeiten- und Bedeutungswandel von Moll und Dur und das Mystische im Mangel, der die entwicklete kapitalistische Gesellschaft alleingelassen hat zwischen endlosen virtuellen Klangregalen.

Karl stellt seinen Aufsatz unter die Überschrift "Gestern fand ich besser als morgen. Ich kann mich nur nicht erinnern, warum!" Es beginnt und endet mit U2, einer Rockgruppe, die für das grundgute Bemühen ebenso steht wie für eigensüchtige Steuerflucht.  Nick Drake, 1974 in Tanworth-in-Arden bei Coventry im Alter von nur 26 Jahren an einer Überdosis Antidepressiva verstorben, liefert das Kontrastmittel (Video oben). Musik, die nicht von Erfahrungen berichtet, sondern Enttäuschungen formuliert. Drake war kommerziell ein Desaster. Das neue U2-Album, inspiriert vom Ratschlag des Autors Brendan Kennelly „Schreibe, als wärst du tot", ist es nicht.

Gründe und Abgründe im Wandel der Zeiten.


Die Band U2 hat eine neue CD „Songs of Experience“, moderner gesagt eine neue „Scheibe“. Irre, aber wer merkt das noch? Vor allem wie? Wo doch heute alles anders ist? Der „Bravo-Leser-Generation-DDR“ entging seinerzeit nichts. Mauern und Vorhänge überwand der neugierige Wissensdurst der hinter die Mauer verbannten Musikfans als wären sie gar nicht da. Die neueste Maxi-Single von Bros. wurde genauso schnell bekannt wie das Duett von Jason Donovan und Kylie Minogue.

Wer aber war Jason Donavan? Lebt Kylie noch?

Nein, morgen find' ich besser als gestern, denn gestern gab es eine Schlagzeile über jene Band U2 mit dem neuen Album voller Lieder über Erfahrungen: "Sie schüttelten Fans und ahnungslosen Passanten die Hände und stiegen dann bei der Station Deutsche Oper aus, um dort drei Songs zu spielen. Zuvor erzählten Bono und The Edge im Interview, woran sie bei U-Bahnfahrten denken müssen, wie eine Nahtoderfahrung ihr neues Album beeinflusste und ...“

Wen es denn interessiert. Dieses Musikwissen? Irgendwie hat der Zuhörer des Ganzen heute das Gefühl, Empfehlungen seien überall. „Klingt wie“, ergibt „solltest Du kennen“, „Neu für Dich“ … überall.

Spotify-Nutzer erfreuen sich kostenloser Musik von Musikern, die offensichtlich kein Geld mehr benötigen. Meterlange Listen werden von „Werbung, hin und wieder“ finanziert. Es hagelt Empfehlungen Tag für Tag. Ein bisschen wie früher, mag der Eine oder Andere noch denken. Damals, als MTV noch Musikwerbung zwischen den Videos hatte. Das waren noch Zeiten, MTV noch Musiksender. Zeiten voller Bands und Stars.

Im Jetzt scheint alles anders. Clueso klingt wie Cro und Sido macht auf Mark Forster. Adel Tawil singt hinter Philipp Poisel, Bushido davor. Peter Maffay lebt noch und Jan Delay ist still. Materia ist auch ein Mensch, ebenso wie Kontra K und Andreas Gabalier. Neues war die letzte Empfehlung. Namensbücher, einst für werdende Eltern erfunden, liegen heute wohl neben der einen oder anderen Gitarre.

Nein, bestimmt nicht. Das ist Spaß. Jede Zeit hat ihre Namen. Weiß doch jeder. Alles weiß doch jeder heute. Kennt man ein Lied nicht, Telefon raus, irgendein App an und schon ist der Titel bekannt. Der Weg zum Shop Sekunden lang. Beeindruckend.

Ein Punk mit einer perfekten Musikbibliothek ist heute wahrscheinlich mehr Punk als jemals zuvor. Oder? Ist das vielleicht ein falscher Satz? Wer hat denn noch Bibliotheken? Wer sammelt noch strukturiert? Briefmarken? Bücher? Biergläser? Original verpackte DVDs? Ein phantastischer Satz ist: Zu Weihnachten leiste ich mir ein neues Telefon, mein jetziges ist so langsam, ich fürchte es ist voll!

Ganze Lebensstränge medial dokumentiert verstopfen das, was sinnvoll sein könnte. Vor dem Wort Gruppe erschrickt man und das: „Aller sieben Minuten auf das Telefon schauen“ beobachtet man meist bei denen, die halt so sind. Dazwischen dudelt nun die neue CD von U2. Als hätte die Welt darauf gewartet.

Wieder ein paar Lieder mehr auf den Listen derer, die Musik inzwischen anders konsumieren als es im Damals mal war. Es ist ja auch schwer. Der Alltag lässt kaum noch Zeit. Erinnern wir uns an die herrlichen Stunden in den Musikabteilungen. Das Blättern in Tonträgernregalen. Das hatte doch was. Dieser separate Bereich. Es gab sogar Läden, die nur dazu geschaffen worden waren. Keine Großmärkte, wo sich Kultur den Platz mit Haarentfernern und Staubsaugern teilen muss. Eine untergegangene Welt.

Beachtlich die Auswahl. Diese unglaubliche Anzahl von Möglichkeiten, stur und beharrlich ignoriert. Man möchte es ja auch nicht schlecht reden, dieses JETZT. Dieses mp3-JETZT. Das JETZT mit der Neuen von U2. Selbst die Ironie in Form von mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten, Felsen auf Straßen und einer sich um sich drehenden Regierung ohne Regierungsmacht reicht nicht aus, um es schlecht zu reden.

Warum auch? Die Pyramide dreht sich ebenso wie die neue Scheibe von U2. Plätzchen werden gebacken, Glühweinflecken gemacht. Schnee kommt neuerdings nur sonntags und an die Winterreifen hat jeder gedacht. Warum also immer alles so einfach kompliziert machen? Die Überschrift lautet: Das Jahr ist fast rum. Gut so, wieder eins geschafft. Einige haben das nicht. Viele unfreiwillig.

So ein „Morgen“ ist schon so eine Sache. Nicht zu wissen, was morgen ist. Losziehen. Neue Ufer. Neue Menschen. Mehr Leben. Viel. Viel von allem. Wo viel ist, ist viel. Glück, Trauer, Geburt, Tod. Der Mensch kann geben. Viel. Idealerweise Gutes … aber wir wissen ja. Nein, ich meine damit nicht die neue Scheibe von U2.

Weihnachten zaubert Jahr für Jahr Tränen ebenso Lächeln, das macht es wohl aus.
Diese Zeit.
Weihnachtszeit.



Three hours from sundown
Nick Drake, recorded between July 1968 and June 1969 at Sound Techniques in London, England

Jeremy flies
Hoping to keep
The sun from his eyes
East from the city
And down to the cave
In search of a master
In search of a slave

Three hours from London
Jacomo's free
Taking his woes
Down to the sea
In search of a lifetime
To tell when he's home
In search of a story
That's never been known

Three hours from speaking
Everyone's flown
Not wanting to be
Seen on their own
Three hours is needed
To leave from them all
Three hours to wonder
And three hours to fall

Three hours from sundown
Jeremy flies
Hoping to keep
The sun from his eyes
East from the city
And down to the cave
In search for a master
In search for a slave




2 Kommentare:

Casper von Milz hat gesagt…

https://youtu.be/F-B9_kpIihg

Etwas weihnachtlich wirkend, wenn auch eher trist. Cohen ist 2016 gestorben.

Anonym hat gesagt…