Sonntag, 18. Dezember 2022

Arbeiten wie in Katar: Die Sklaven Europas

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages versuchte vor Jahren, die Arbeitsbedingungen von Abgeordnetenmitarbeitern öffentlich zu machen. Offenbar wegen der Ähnlichkeit mit den Verhältnissen in Katar mussten die Ergebnisse geschwärzt werden.
Sie arbeiten 70, 80 Stunden die Woche, oft fern von der Familie, von ihren Freunden und von ihrem gewohnten sozialen Umfeld. Geworfen in eine fremde Kultur, werden ihnen in der Regel nur Zeitverträge zugestanden, die automatisch enden, wenn ihr sogenannten "Abgeordneter" seinen Wähler*innenauftrag verliert. Sie können zudem jederzeit gekündigt werden, sie haben keinen Betriebsrat, keine Gewerkschaft, müssen die hohen Mieten am Arbeitsort zahlen und dürfen nur zu ihren Liebsten nach Hause fahren, wenn es ihrem Arbeitgeber passt. 

Die Arbeitssklaven von EU-Europa

All das wird zudem streng geheimgehalten, mit Geldzahlungen versucht das System, das hinter der mysteriösen Arbeitswelt rund um das EU-Parlament steckt, das Schweigen der Betroffenen zu erkaufen. Die sind oft jung und ehrgeizig, sie fühlen sich in ihrer Position als Mitarbeiter*innen von rechten, linken und liberalen EU-Abgeordneten wichtig und bedeutsam und sie schweigen zumeist gern über die Verhältnisse, die Beobachter an die von Arbeitssklaven in Katar erinnern.

Dass etwas über die menschenverachtenden Vorgänge nach außen dringt, ist die Ausnahme. Doch als der Chef der deutschen Grünen in Brüssel, Rasmus Andresen, jetzt in der Affäre rund um die Parlamentsvizepräsidentin Eva Kaili fassungslos wirken wollte, rutschte ihm ein verräterischer Satz heraus: Unter dem Fehlverhalten litten "alle Abgeordneten und Mitarbeiter*innen, die ehrlich 70 bis 80 Stunden in der Woche für ihre Überzeugungen kämpfen", sagte er, offenbar so tief verstrickt in die gesetzwidrigen, allen EU-Regeln zum Arbeitsschutz hohnsprechenden Gebräuche des größten halbdemokratisch gewählten Parlamentes der Welt, dass ihm gar nicht bewusst war, was er da sagte.

Ausbeutung wie in Katar

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die 70 oder gar 80 Stunden arbeiten? Das ist Ausbeutung wie in Katar, erzwungen von Abhängigkeitsverhältnissen, die so absolut sind, dass wie im Wüstenemirat geltende Vorschriften einfach missachtet werden. Nach der EU-Arbeitszeitrichtlinie beträgt die vorgeschriebene maximale Arbeitszeit in der EU 48 Stunden pro Woche mit einer Mindestruhezeit von elf Stunden bis zum erneuten Arbeitsantritt. Wer wie von Rasmus Andresen angegeben 70 oder gar 80 Stunden in der Woche arbeitet, übertrifft die Regelarbeitszeit bei einer Fünftage-Woche um beinahe das Doppelte. Auch die Höchstarbeitszeit, wie sie das EU-Parlament beschlossen hat, wird um etwa sieben Stunden am Tag überschritten.

Das liegt weit über dem extremsten aus Katar bekannten Fall, bei dem 14 Stunden am Stück gearbeitet worden war. Im Unterschied zu Klagen über die Verhältnisse am Persischen Golf aber sind die offenbar fortgesetzten, mutwilligen und von mehr als 750 privaten Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern zu verantwortenden Verstöße im EU-Parlament gesellschaftlich akzeptiert. Wie im deutschen Bundestag und den 16 Landesparlamenten gelten Mitarbeitende als weitgehend rechtlose Menschen, die froh sein können, überhaupt mithelfen zu dürfen beim weiteren Demokratieausbau. 

Rechtlos im Parlament

Zu mittelmäßiger Bezahlung, einen Tarifvertrag gibt es für den "Sauhaufen" (Taz) EU-Parlament so wenig wie einen Betriebsrat, kommen ständig wechselnde Einsatzzeiten und -orte und die Unterordnung unter eine strenge Parteidisziplin. Wer aufmuckt, widerspricht, sich über die unmenschlichen Arbeitsverhältnisse beklagt oder politisch anders denkt, muss mit sofortiger Entlassung rechnen. Einzelheiten über die Ausmaße der Verstöße und die Systematik ihrer Begehung versuchte der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages zuletzt im Jahr 2007 zu ermitteln. Die Ergebnisse der Untersuchung "Die Arbeitsbedingungen von Abgeordnetenmitarbeitern in der EU, in den europäischen Mitgliedstaaten und den Länderparlamenten" aber wurde umgehend geschwärzt. 

Die Öffentlichkeit sollte nicht erfahren, mit welcher Selbstverständlichkeit die Edelsten der Edlen der europäischen Familie ihre eigenen Appelle ignorieren, um sich im politischen Meinungskampf Vorteile zu verschaffen. Dabei wirken die mutmaßlich 751 Täterinnen und Täter konkludent zusammen, über alle Partei-, Sprach- und Glaubensgrenzen hinweg: Seit Jahrzehnten schon besteht ein gemeinsamer Tatentschluss, junge, oft unbedarfte Menschen mit einer Vielzahl großer aber völlig unkonkreter Versprechungen anzulocken. Peinlich achtet das EU-Parlament dabei darauf, dass weder Angaben zu Arbeitsbedingungen noch zur Entlohnung gemacht werden. Stattdessen wirbt die EU mit "interessanten und abwechslungsreichen Beschäftigungsmöglichkeiten in einer einzigartigen Organisation und einem einzigartigen Arbeitsumfeld im Herzen der EU".

Stets auf dem Sprung

Fünf, sechs oder zuweilen sieben Arbeitstage am Stück, arbeiten von morgens früh bis tief in die Nacht, immer zur Stelle sein, wenn der Volksvertreter, der zugleich Arbeitgeber ist, ein Bewerbchen hat, das ist die Wirklichkeit,  die tausende sogenannte "Bediensteten auf Zeit" und "Vertragsbedienstete" in Brüssel, aber auch in Straßburg, Luxemburg und den sogenannten "anderen Standorten" tagtäglich erleben. Die Mehrheit von ihnen sind Frauen, die Mehrheit von ihnen kuscht vor der Macht der Abgeordneten, die mit den Medien so eng zusammenarbeiten, dass sich niemand Hoffnung machen kann, dort jemals mit Klagen über katarische Arbeitsbedingungen gehört zu werden.

Das Echo auf das Geständnis des Grünen Rasmus Andresen, dass die Wertegemeinschaft Europa, die größte demokratische Staatengemeinschaft der Welt, aufgebaut ist auf Blut und Knochen von Menschen, die gezwungen werden, bis zu 16 Stunden am Tag zu arbeiten, es fiel dann auch komplett aus. Kein Fernsehsender, kein Nachrichtenmagazin, keine Tageszeitung und kein mutiger Faktenchecker nahm sich des offenkundigen Skandals an. Niemand will das Wissen, niemand ist bereit, sich mit den mächtigen Paten der Zustände rund um die Abgeordnetenmitarbeiter in der EU, in den europäischen Mitgliedstaaten und den Länderparlamenten anzulegen.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

So gute Texte, aber sprachlich versaut durch eine auf dieser Seite völlig überflüssigen Genderisierung.

ppq hat gesagt…

das ist leider ein muss*in, denn wir wollen auch die gesellschaftliche mitte erreichen!