Sonntag, 29. Juni 2025

Morbus Meinungsfreiheit: Die Zumutung

Die Lehrstelle gemahnt besser noch als der Biller-Text an eine deutsche Obsession. 

Es ist eine neue "Zeit", die die neuen Möglichkeiten der neuen Technik souverän nutzt, um Schaden vom Gemeinwesen abzuhalten. In früheren Tagen fielen Kinder in den Brunnen und eine Tragödie nahm ihren Lauf. Gedruckt war gedruckt, die Katastrophe angerichtet. Das Wort "Depublizieren" stand nicht nur nicht im Duden, es existierte nicht einmal. Eine Zeitung oder Zeitschrift, die etwas veröffentlicht hatte, von dem sie später zur Auffassung kam, sie hätte es nicht veröffentlichen sollen, konnte sie allenfalls entschuldigen. Die Zahnpaste aber wieder in die Tube zu drücken, vermochte niemand.  

Der Fortschritt marschiert 

Doch der Fortschritt marschiert und nicht nur große Parteien haben gelernt, gelenkig mit den Herausforderungen einer Ära umzugehen, in der morgen schon vollkommen falsch sein kann, was heute noch richtig war. Als "Zeit"-Kolumnist Maxim Billers seine Kolumne "Morbus Israel" abgab, schien sie beim Hamburger Wochenblatt durchaus druckreif. Biller, immer schon ein Freund zugespitzter Thesen,  hatte diesmal über die Frage nachgedacht, warum "sich die Deutschen immer so über die Juden des Nahen Ostens aufregen". 

Ein Rätsel seit Jahren, denn der Firnis zwischen Staatsräson und Antisemitismus ist dünn und die Geschichte der sogenannten "Israelkritik" lang. Nur der Judenstaat ernährt hierzulande eine eigene Branche an Genozidbesorgten, Zwei-Staatenlösungsbeseelten und engagierten Terrorverstehern - deutschlandweit gibt es keinen einzigen Japankritiker, keinen Mexikokritiker und keinen Sudankritiker, aber Heerscharen an Experten, die jeden Morgen aufstehen und wissen, was Israel tun müsste, tun darf und was ganz sicher nicht.

Das schlechte Gewissen der Guten

Biller, selbst Jude, hat das in seinem Text "Morbus Israel" genannt. Dem schweren Thema nähert er sich mit Ironie, Sarkasmus und Zynismus. Er schreibt von Täterenkeln und ihrem schlechten Gewissen,  ein streichelt die empfindliche deutsche Seele mit der Drahbbürstem und erzählt jüdische Witze, überf die zu lachen sich verbietet, und er griff sich den Fernsehmoderator Markus Lanz heraus, um die jüngst neu erblühte deutsche Sehnsucht nach einem "Völkerrecht", das für alle gilt, wenn Deutschland gerade meint, es müsste, auf ihre Ursachen zu untersuchen.

Das Ergebnis präsentiert die "Zeit" in der gedruckten Ausgabe, im Internet aber nur kurz. Der Raum dort, grenzenlos, aber nicht rechtsfrei, wurde schon nach kurzer "Zeit" von Billers Text befreit. Der "an dieser Stelle erschienene Text", hieß es, habe "mehrere Formulierungen enthalten, die nicht den Standards der "Zeit" entsprächen. "Unsere aufwändige redaktionelle Qualitätssicherung hat leider nicht gegriffen", erläuterte die Redaktion. man habe den Text deshalb "nachträglich depubliziert".

Leichen im Archivkeller 

Die Wortwahl ist interessant, erscheint doch eine vorsorgliche Depublizierung schon logisch unmöglich. Nachträglich aber geht es, nur traut sich auch die früher liberale Wochenzeitschrift seit Jahren nicht, den Weg konsequent zu gehen. Im Hamburger Archivkeller wimmelt es bis heute von N-Worten und "Negerhäuptlingen", Polygamie-Klischees und "Negern, die schneller laufen". 

Allerdings sind das Petitessen, keine Juden. Maxim Biller wurde wegen seiner Erwägungen umgehend von denen, die er gemeint hatte, als "chauvinistisch" und "bellizistisch" verdammt, ein shitstorm im Wasserglas des deutschen Wohlfühlmilieus, dem noch nie eine Hamas-Rakete auf den Kopf zu fallen drohte. Gut vorbereitet und motiviert durch die zuletzt wieder verstärkte Berichterstattung über wahllos auf hungernde Familien vor Essenausgabestellen schießende israelische Soldaten und von "Gesundheitsministerium" in Gaza gemeldete Todesopfer, war der Aufschrei der am schlimmsten Betroffenen laut genug, die "Zeit" neu über die Grenzen der Meinungsfreiheit nachdenken zu lassen.

Heimatfront der Heuchler 

Zack und weg. Billers garstiger Humor passt nicht in eine "Zeit", in der die Mehrheit der Deutschen sich wünscht, dass ihre Regierung den Juden mit ordentlich Druck klarmacht, was sie dürfen und was nicht. Der jüdische Blick auf die Lage an der Heimatfront der Heuchler passt nicht zum deutschen Anspruch auf die moralische Hoheit weltweit. 

Nach erneuter aufwändiger Qualitätssicherung verschwand Billers Kolumne. Sie wurde nicht gelöscht, nur "nachträglich depubliziert". Der Schriftsteller ist damit kein Opfer einer Meinungslenkungsmaßnahme, mit der eine unangenehme Stimme zum Schweigen gebracht wird, sondern selbst schuld. Hätte er nicht geschrieben, was er geschrieben hat, hätte niemand seinen Text  verschwinden lassen müssen. 

Triump der Qualitätssicherung 

Die Löschung ist ein Triumph der Qualitätssicherung, ein Akt journalistischer Tugend, der der Gefahr begegnet, dass Leserinnen und Leser sich mühevoll selbst ein Urteil bilden müssen. Wer die "Hungerblockade von Gaza" als "strategisch richtig, aber unmenschlich" bezeichnet, der missbraucht seine privilegierte Position als Publizist dazu, nicht klar Stellung zu beziehen. Unmenschliches Handeln, darüber ist sich die Mehrheit der Deustschen einig, kann nicht richtig sein, weil es unmenschlich ist. Gelegentliche Ausnahmen regeln Pandemieverordnungen.

Falsche Vergleiche, historisch krumme Gleichsetzungen, all das gehört zum Handwerkszeug des Kommentäters. Die Grenze aber liegt dort, wo Gefühle von Menschen verletzt werden, die ihre Illusionen ernst meinen. In einer Zeit, in der Worte staatsamtlich für ebenso gefährlich gehalten werden wie Taten, braucht es nicht nur Messerverbotszonen, sondern auch Meinungsverbotbereiche. Es gilt, die Demokratie vor sich selbst zu schützen, nicht nur bei den feierlichen Festtagen gegen Hass und Hetze, sondern auch dort, wo die sensible Seele der Nation "Genozid-Apologetik" und - besonders passend - "Stürmer-Niveau" entdeckt.

Traum aller Diktatoren 

Die Moral darf nicht schlafen und wenn sie einmal müde wird und ein Text durchrutscht, der für Irritationen sorgt, muss schnell reagiert werden. Die Depublikation, Traum jedes Diktators, radiert den Fehler nicht gänzlich aus, hinterlässt aber nur einen blauen Fleck in  Form eines bürokratischen Vermerks. Hier stand etwas, aber jetzt nicht mehr. Für euch da draußen ist es besser so. Und schon ist die Welt wieder ein Stück sicherer. 

Ein Texte-TÜV, der über die allgemeine Moral wacht, wäre früher das Gegenteil des linken Ideals von absoluter Meinungsfreiheit gewesen, wie es in der alten SPD-Hymne "Die Gedanken sind frei" besungen wird. Bis in den wilden Tagen der 68er war die Linke der Vorreiter für Redefreiheit, sie löckte wider den Stachel, stichelte gegen die Verhältnisse und reklamierte für das Recht, zu provozieren und zu kritisieren. 

Zumutung Redefreiheit 

Dasselbe Milieu empfindet dieselbe Redefreiheit heute als Zumutung, weil Menschen sie für falsche Zwecke nutzen: Als Demonstranten gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik auf die Straße gingen und später gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen, stand sofort fest, dass es sich um einen Missbrauch der vom Staat so großzügig gewährten Meinungsfreiheit handelt. 

Die Löschung von Billers Text ist ein Symbol für diesen Meinungsumschwung. Jeder darf alles sagen, aber wenn es nicht das Richtige ist, eben nicht überall. Unbequeme Stimmen sind nicht verboten, aber eine Plattform bieten muss ihnen niemand. An die Seite staatlicher Tugendwächter sind in der neuen  Ordnung Aufsichtsgremien getreten, die aus eigener Anmaßung handeln: Staatslich finanziert sind sie Teil eines nichtstaatlichen Systems, das Menschen vor sich selbst schützt, in dem es sie sanft, aber bestimmt dazu erzieht, es mit den eigenen Ansichten nicht zu übertreiben.

Ein Klick und weg 

Der Online-Journalismus macht es möglich, das Kind aus dem Brunnen zu holen. Ein Klick, der Text ist weg und der Skandal da. Aus einer Debatte über den deutschen Anspruch darauf, besser zu wissen, was Israel tun sollte als Israel selbst, ist eine über mangelnde Qualitätssicherung geworden. Künftig könnte das die KI übernehmen, trainiert mit 40 Jahrgängen des Neuen Deutschland. Nur noch Texte, die den Standards entsprechen! Nur noch Meinungen, die tagesschaugeprüft sind. Maxim Biller mag im Moment wie ein Opfer aussehen, aber sein Text beweist, dass deutschland aus den fehlern der vergangenheit gelernt hat. Und wenn später einmal wieder Enkel fragen, Opa, Oma, warum habt ihr damals nichts getan?, werden "Zeit"-Redakteure gelassen antworten können: „Haben wird doch, denn haben Maxim Biller depubliziert."

 

Morbus Israel

Warum regen sich die Deutschen immer so über die Juden des Nahen Ostens auf? 

Eine Kolumne von Maxim Biller 

Kommt ein Deutscher zum Arzt und sagt: "Herr Doktor, immer, wenn ich über Israel rede, geht sofort mein Puls schneller, und nach dreißig Sekunden brülle ich jeden an, der nicht meiner Meinung ist. Ist das normal? Und wie gefährlich ist es für meine Gesundheit?" "Was ist denn Ihre Meinung zu Israel?", sagt der Arzt. "Hören Sie auf!", schreit der Patient den Arzt an. "Wollen Sie mich umbringen?! Ich sollte mich doch nicht mehr so aufregen!" 

Ja, wenn es um Israel geht, um Benjamin Netanjahu und die strategisch richtige, aber unmenschliche Hungerblockade von Gaza oder die rein defensive Iran-Kampagne der IDF, kennen die meisten Deutschen keinen Spaß.

Das Drama, das sie dann aufführen, begleitet von der bigotten Beschwörungsformel "Das Völkerrecht! Das Völkerrecht!", mit der sie niemals Leute wie Sinwar oder Ali Chamenei belegen würden, hat nichts mit einer zivilisierten politischen Auseinandersetzung zu tun. Es ähnelt eher einer Teufelsaustreibung am eigenen Leib, ohne Priester und Handbuch, und die Frage ist nur, wer oder was hier der Teufel ist: das schlechte Gewissen des Täterenkels? Oder der ewige Opa und willige Wehrmachtsspieß, der für immer in solchen Leuten steckt?

Neulich zum Beispiel, bei Lanz, der politischen Talkshow für politische Anfänger, das war noch kurz vor dem Israel-Iran-Krieg. Gerade ging es um die EU, Flüchtlinge und den opaken Minister Dobrindt, als sich im entspannt fragenden Gastgeber plötzlich alles zusammenzog. Denn jetzt war der Nahe Osten dran! 

Er ging in seinem Moderatorenstuhl in eine raubtierhafte Angriffshocke, er zischte und fauchte, statt zu sprechen, und versuchte immer wieder, von seinen Gästen die Aussage zu erpressen, dass Israel im Gazastreifen der Al-Kassam-Brigaden "Kriegsverbrechen" begehe. Und während der bayerische Ministerpräsident Markus Söder ihm erklärte, wie selbstkritisch und demokratisch die israelische Gesellschaft sei und dass er dieses Land nie aufgeben würde, rollte der nervlich stark angegriffene Moderator mit den Augen wie Elon Musk auf Ketamin. 

Was ist sein Problem?, fragte ich mich. Welcher Dybbuk ist in den freundlichen Südtiroler gefahren, der ausgerechnet seit dem 7. Oktober davon besessen ist, die Israelis als mittelalterliche Kindermörder und moderne Kriegsverbrecher zu überführen? Und warum regt er sich nie ähnlich leidenschaftlich über die Endlösungsmullahs von Ghom oder über die dschihadistischen Steinzeitserienkiller der Hamas auf, die seit Jahrzehnten die Menschen von Gaza, Be’eri und Tel Aviv terrorisieren, töten, vergewaltigen? 

Vielleicht, dachte ich, sollte sich die Lanz-Redaktion zum Beispiel einmal zu einer Sendung über die Hamas aufraffen, über die Hamas und nichts als die Hamas, die ja den ewigen Gazakrieg ganz allein angefangen hat und durch ihre bedingungslose Kapitulation und die Überstellung ihrer noch lebenden Führer nach Den Haag ganz allein beenden könnte. 

Bei so einem Hamas-Special wäre dann die Schuldfrage von Anfang an hundertprozentig geklärt, nicht wahr, überlegte ich weiter, und der nervöse Moderator müsste endlich einmal beim Thema Nahost nicht ausflippen. Außerdem könnten seine Redakteure noch ein paar andere leicht entflammbare Islamversteher wie Tilo Jung, Ralf Stegner, Kai Ambos, Kerstin Hellberg und jemanden von Amnesty International einladen – damit auch sie endlich herunterkommen können von ihrem pathologischen, psychisch bestimmt sehr belastenden Anti-Israel-Horrortrip. 

Ich selbst habe zum Glück privat mit dem Morbus Israel der Deutschen kaum zu tun, denn bei der Auswahl meiner Freunde achte ich immer darauf, dass kein faules Ei dabei ist, kein Juden- und Israelhasser, aber auch kein eifriger Philosemit, denn bei Eiferern weiß man nie, welcher Glaube ihnen gerade passt. Womit ich beim Kern der neugermanischen Orient-Neurose wäre – der enttäuschten Liebe der Deutschen zu ihren Opfern von früher, locker formuliert. 

Wie rief vor ein paar Wochen der selbsterklärte Anti-Antisemit und Martin-Walser-Sohn Jakob Augstein in einem Streit-Podcast stocksauer aus? "Ich werde mir von niemandem erklären lassen, was die deutsche Verantwortung für den Holocaust ist!" Dass er dabei genauso enttäuscht klang wie sein biologischer Vater, der einst dem Schoah-Helden und größten deutsch-jüdischen Politiker der Nachkriegszeit Ignatz Bubis vorwarf, ihm seien seine Geschäfte wichtiger als Vergangenheitsbewältigung, wies Augstein jr. – Vorsicht, Ironie! – schon mal als engagierten Freund der Juden aus. 

Als er dann – gedämpft, aber immerhin – die Hamas eine "Terrororganisation" nannte und die Israelis "unsere Verbündeten", wusste ich endgültig, hier spricht kein Judenhasser, sondern ein Freund, der nur gerade sauer ist, dass es seinen rachitischen, hochgebildeten Idealjuden nicht mehr gibt, der höflich vor der für ihn vorbereiteten Gaskammer ansteht. Oder sich von den iranischen Revolutionsgarden in Atomstaub verwandeln lässt. 

Kommt ein Israeli zum Arzt und sagt: "Herr Doktor, ich war gerade vierzig Tage mit meiner Einheit in Gaza und hab keine Lust mehr, auf Araber zu schießen. Was soll ich tun?" "Sie könnten damit natürlich sofort aufhören, wenn Sie wollten", sagt der Arzt, "aber raten würde ich es Ihnen nicht. Auch nicht nach unserer Therapie."


2 Kommentare:

Die Anmerkung hat gesagt…

>> Und wenn später einmal wieder Enkel fragen, Opa, Oma, warum habt ihr damals nichts getan?

Harald Martenstein

Unsere Nachkommen arbeiten dann für Meldestellen gegen „Hetze“ – oder kriegen Bürgergeld

Anonym hat gesagt…

Bin nicht auf dem Laufenden mit Söder. Der war bei Lanz, hatte einen Standpunkt und hat ihn gegen einen überbezahlten, geifernden Schizo verteidigt?

A propos Schizo. Die Allahisten sind die Guten, wenn sie in Gaza sind, und die Bösen, wenn die in den Schulen und Freibädern Gaza spielen.