Samstag, 7. April 2018

Doku Deutschland: Klassenkampf



Deutschland ist auf dem Weg zur Bildungsrepublik, mehr Geld soll es richten, bessere Klassenzimmer, luftigere Räume, mehr Internet und mehr Lehrer. Kein leichter Weg, denn so viel die Politik auch predigt, unten, in den eierschalenfarben gestrichenen Unterrichtsräumen mit den angeschlagenen Bänken, sitzen häufig Schülerinnen und Schüler, denen der Spaß an der Sache mehr bedeutet als die gezielte Ausbidlung bestimmter Fähigkeiten, die später auf dem harten Markt der Marktwirtschaft helfen.

Kevin Schleicher ist Hauptschullehrer in Eschwege, er wurde in Eisenhüttenstadt geboren, wuchs in Maribor (Slowenien) auf, wo seine Eltern eine Ziegenfarm führten, bildete sich selbst weiter und ist heute als Deutschlehrer zuweilen verzweifelt, weil "wir als Schüler oft keinen Bock hatten, inzwischen aber selbst davon nicht mehr die Rede sein kann".

Für PPQ schildert Schleicher  eine typische Unterrrichtsstunde - und seinen Kampf um ein bisschen Aufmerksamkeit für seine mitgebrachten Lehrinhalte.

Die Schwarzhaarige auf dem Tisch


Vertretungsstunde Deutsch, 7. Klasse. Ich komme in den Raum und eine große Schwarzhaarige hockt vorn auf meinem Lehrertisch. Ich gucke streng, sie tut nicht dergleichen. Wir wollen anfangen, junge Frau, können wir?, frage ich, noch ganz locker. Ein Blonde, die auf der Heizung hockt, verdreht die Augen. Sie hat die Jalousien runtergelassen. Ein Sitzenbleiber, der mich von früher kennt, ruft: "Ach, du Scheiße, der wieder!". Es fängt heute locker an, wir verstehen uns.

Der Rest der Klasse befindet sich in diesem Moment zum Teil noch draußen, sie rauchen sicher, oder er steht hinten hinter der letzten Bank, wo die drei Anführer der Klasse auf einem Sofa lümmeln: "Ham wer jetzt bei dem?", tönt es aus dem Gewimmel an viel zu langen Armen und Beinen.- Ja, bei mir, rufe ich, während ich die Tafel abwische, am besten, ihr setzt euch mal an eure Tische.

Das tun sie natürlich nicht. Die beiden einzigen, die an Tischen gesessen haben, um zu malen doer am Handy zu spielen, gehen jetzt auch hinter zum Sofa. Ich nicke der Schwarzhaarigen auf meinem Tisch freundlich zu und sage, sie solle sich doch bitte an ihren Tisch setzen. Sie antwortet, während jemand zur Tür reinkommt, ihr sei kalt, und zuppelt an ihrem viel zu kleinen Top herum.

Gebremstes Interesse


Ein Kerl kommt rein, den ich nicht kenne, und setzt sich auf einen Stuhl. Sie springt auf, zieht sich einen Schuh aus und wirft ihn nach dem Jungen. Dazu schreit sie, das sei ihr Platz. Der Junge hebt die Hände vors Gesicht und brüllt: "Du spinnst wohl." Hinten am Sofa lachen sie. Einer fragt mit gebremstem Interesse: "Was machen wir heute?" Der Sitzenbleiber antwortet "Irgendeine langweilige Scheiße!" Die Blonde macht Strechübungen am Fenster, man sieht ihre Hinterbacken über den Stringtanga zucken. Ich sage mach mal die Rollos hoch. Sie antwortet, das müsse der Hausmeister machen. Soll ich den holen, fragt sie.

Ich gehe zum Lichtschalter und knipse die Lampen an. Man sieht jetzt mehr von der Szenerie. Und als wäre es ein Signal, wanken die 15 bis 20 Kinder jetzt im Tempo von Neunzigjährigen zu den Tischen. Alle halten ein Handy in der Hand und starren beim Gehen darauf, als wäre dort irgendetwas unfassbar Spannendes im Gange. Wahrscheinlich chatten sie aber nur miteinander. Alle Jugendlichen tragen eine Mischung aus zu großen und zu kleinen Sachen, die Jeans sind kaputt, die Turnschuhe nicht zugebunden. Die meisten Mädchen haben Kopftücher auf, alle sind geschminkt wie Dorfnutten. Ich hebe den Arm und will schon mal anfangen. Da geht das Licht wieder aus.

Der Junge, der es ausgeknipst hat, schlendert in Turnschuhen und Jogginghosen zum hinteren Platz zurück, alle Schüler sehen zu ihm hin. Er grinst. Er ist cool. Öhhh, ruft einer, jetzt habe ich mich vermalt. Man sieht die Handybildschirme leuchten, mehr eigentlich nicht. Für einen Augenblick ist es still, es geschieht nichts.

Wer weiß, was ein Buch ist


Dann knipse ich das Licht wieder an und frage, ob jemand wisse, was ein Buch sei. Die Blonde rechts neben mir hat ihr rechtes Bein auf die Heizung gelegt und den Kopf auf ihr Knie. Mit abgewandtem Blick ruft sie "alter Scheiß". Ich nicke, aber das sieht sie wohl nicht. Die Schwarzhaarige wickelt sich vom Lehrertisch, das Handy vor der Nase. Sie scheint einen Film zu gucken, denn es kommen Dialoggeräusche aus dem winzigen Lautsprecher.

Ein Buch also, sage ich. Man kann es lesen. Man kann es auch lassen, sagt der Sitzenbleiber. Dann bekommt man eine Fünf, sage ich, denn wir schreiben eine Arbeit darüber, was wir uns von der  Handlung gemerkt haben. Sofort allgemeines Palaver: das sei unfair, wer soll Zeit haben, ein ganzes Buch zu lesen, einer sagt, gucke ich bei Wikipedia, ein anderer fragt, ob es davon einen Film gibt, "dann gucke ich nämlich den". Der Junge, der das Licht ausgeknipst hat, äußert seine Erwartung, dass das Buch "wenigstens ein Porno ist". Die Schwarzhaarige schaut ihn an wie eine Staubfluse.

Ich entgegne, es gehe erst mal ums Aufschreiben, und male das Wort "Buch" an die Tafel, dabei prallt ein Tennisball an die Wand. Zwei Sekunden später fällt ein Schüler vom Stuhl: Alle grölen, und der Hingefallene klettert theatralisch umständlich wieder auf seinen Platz.Platzwunde, sagt er. Scheißstuhl.

Als ich blöderweise die Blonde noch einmal anspreche, sie solle sich doch endlich hinsetzen, schreit sie mich an, ob ich taub sei, ihr sei kalt. Sie hebt ihr T-Shirt hoch und zeigt ihren Bauch, der ein wenig über den stramm gezogenen Silbergürtel hängt. Sowas hatten wir in dem Alter noch nicht.

Guck die Titten


Die Stunde kommt jetzt aber in Fahrt. Den Sitzenbleiber werfe ich wegen irgend etwas raus, er soll sich beim Direktor melden. Er bläst die Backen und auf behauptet, er habe doch gar nichts gemacht. Ich weiß es auch nicht mehr, ich gucke hinter zu dem Sofa, wo einer dem anderen auf dem Handy irgendwelche Bilder zeigt. Die beiden lachen, guck die Titten an, sagt einer. Die Schwarzhaarige macht pfffffffff und schüttelt die Haare. Eine Mädchen mit Kopftuch ruft leise: "Leise, leise, wir verstehen nichts!" Es hat aber gerade auch niemand etwas gesagt, ich jedenfalls nicht. Hier rede nur ich, sage ich. Die Blonde lässt ihr Shirt runter und trollt sich in die Bank. Die Schwarzhaarige macht sich über sie her, beschimpft sie ganz unverschämt und nennt sie immer wieder Nutte. Ich sage, nun aber, Mädchen. Sexist, sagt sie zu mir.

Ich hebe das Buch hoch, "Die Leiden des jungen W.", ich sage, "Weltliteratur". Irgendwer, den ich nicht sehen kann, zischt "fick dich". Ich weiß nicht, ob er mich meint oder Goethe oder seinen Nachbarn, der gerade popelt und in Erwiderung des Fick dich mit seinem verschmierten Zeigefinger ins Gesicht des seines Nachbarn sticht. Ich greife beide und bringe sie vor die Tür, unter Protest der ganzen Klasse, die wie im Chor ruft, beide hätten gar nichts gemacht. Draußen winke ich den anderen Rausgeschmissenen, der dort grinsend herumsteht, mit Kopf in unsere Gehrichtung. Kann gleich mitkommen zum Direktor.


Improvisierte Bestrafung


Der ist nicht da, nur die Sekretärin. Also muß die Bestrafung improvisiert werden, und unter peinlichem Geschrei verlange ich von beiden, die Inhalte der zuletzt betrachteten Fernsehfilme aufzuschreiben. Frage: "Wie lang?" - "So lange, bis es klingelt!"

In der Zwischenzeit sind zwei Schülerinnen aus dem Klassenzimmer heruntergekommen und berichten, die Jungen oben seien "ausgetickt" und würden sie sexistisch beleidigen. Atemlos wieder im dritten Stock angekommen, ist mir so heiß, dass ich ein Fenster öffnen will. Das geht aber natürlich nicht, weil die Rollos immer noch unten sind. Rollos hoch, rufe ich, aber keiner bewegt sich. Ich gehe selber und drücke den Knopf. Die Rollos fahren hoch, ich gehe zur Tafel und greife nach Goethe. Hinten steht jetzt einer der Jungen vom Sofa an dem anderen Knopf und lässt das Rollo wieder runter.

Ich bin jetzt empfindlich. Finger weg, rufe ich. Er guckt trotzig und behauptet, das helle Licht tue ihm weh. Mir egal, sage ich. Er fängt an, zu schreien, dass das Scheiße sei. Mir ist kalt, ich brülle zurück: "Was für eine Unverschämtheit". Genau, sagt er. Ich frage ihn, ob es so schwer sei, sich mal für eine Stunde zu benehmen. Von wegen Stunde, sagt er und setzt sich wieder. Ich schnaufe noch, ich  sei "auch nur ein Mensch". Die Blonde stimmt mir zu, sie dreht sich rum und sagt nach hinten, das merke man daran, wie ich auf ihre Beine gucken würde.


Ich bin fassungslos. Für einen Augenblick fällt mir keine Entgegnung ein. Die ganze Klasse lacht. Nehmen Sie es nicht tragisch, tröstet mich die Schwarzhaarige, sie ist nur geil auf Sie. Ich drehe mich weg, als sie grinsend eine Bewegung mit ihren Fingern macht und sagt: "Mann, jetzt wird mir richtig warm".

Heute wird das nichts mehr


Das wird nichts mehr heute, das ist mir klar. Ich schaue auf die Uhr und sehe, erst 20 Minuten rum. Ich sage, Diktat und setze mich auf den Lehrertisch. Ich habe nichts zu schreiben mit, beschwert sich ein Junge, der bisher ganz ruhig war und gemalt hat. Ich gehe nun einfach raus. Bei der Sekretärin gibt's einen Kaffee, während ich die Zettel der beiden aus der Klasse verwiesenen Schüler einsammele. Der Junge hat Pornofilme beschrieben. Einer heißt: "Die Fickinger". Demnach hätten die alle, "die ihnen auf dem Meer begegneten, richtig hart rangenommen".

Vom Kaffee wird mir wieder warm. Die Sekretärin lächelt. Schlimm heute, sagt sie. Ich nicke.dann gehe zurück ins Klassenzimmer. Die Rollos sind oben. Svenja hat mir in den Schritt gefasst, sagt ein Junge zur Begrüßung. Und er hat mich blöde Kuh genannt, echot es. Die Schüler stehen alle im Raum herum. Aber diesmal folgen sie meiner Bitte und setzen sich. Ich frage erneut, ob jemand schon mal ein Buch gelesen hat. Es meldet sich keiner, aber das kann auch sein, weil sie es nicht zugeben vor den anderen.

Werther, sage ich. Werthers Echte, kalauert einer. Lesen, sage ich, Goethe, schon mal gehört? Im Kino sagt die Blonde. Fack ju, ruft einer. Alle lachen. Draußen fliegt ein Hubschrauber vorbei. Alle schauen aus dem Fenster. Vom Sofa ruft es, soll ich das rollo runtermachen.

Noch 14 Minuten


Ich schüttele den Kopf und schaue auf die Uhr. Noch 14 Minuten. Früher haben die schüler auf die Pausenklingel gewartet, heute warte ich. Das ist eine Liebesgeschichte, die tragisch ausgeht, sage ich. Einer der Jungen, der bisher nur auf sein Handy geguckt hat, reibt sich die Augen, als müsse er weinen.  Als ich noch mal Weltliteratur sage, ruft einer vom Sofa hinten Altpapier. Sagt wer, sage ich.  "Der war's!", ruft die Blonde und zeigt auf einen Jungen, der mir bisher noch gar nicht aufgefallen war. Pickelgesicht, Rollkragenpullover und Jeans bis zum Knie. Mir egal, sage ich, Werther also. "Sie hasst mich, weil ich sie gedropt habe", bemerkt das Pickelgesicht. "Du bist ein Vollarsch", sagt sie. "Vollarsch ist eine Beleidigung, oder, stimmt doch, Herr Schleicher, oder?", fragt er. Ich verklage sie, sagt er. Ich bin in Duldungsstarre und antworte nicht.

Plötzlich rennt eines der Mädchen mit Kopftuch auf ein anderes (auch mit Kopftuch) los zu wie eine Furie. Sie schreit in ihrer Sprache. Die andere guckt aus dem Fenster. Ich weiß nicht, worum es geht und bringe sie an ihren Platz. Acht Minuten noch.

Mit mir ist nicht mehr viel los. Nach der Mittagspause geht es noch in eine weitere Vertretung, Geschichte. Neben denen, die krank sind, schwänzen noch einige. Es sind nur Mädchen anwesend, die genauso müde sind wie ich. So sind sie wenigstens leise und beschimpfen sich nicht. Wo waren wir, sage ich. Wir hatten noch nie bei ihnen, antwortet ein. Doch, sagt eine andere, aber da warst du nicht da. Ich sage Bücher auf, bitte lest den Abschnitt über Versailles noch mal und macht Notizen dazu. Nächstes Mal schreiben wir eine Arbeit dazu.

Richtig entspannend


Das ist zwar sicher vorherzusagen, aber wegen der sprachlichen Übung scheint es mir zumindest nicht sinnlos. Auch die Mädchen nerven nicht herum wie sonst üblich, da heißt es dann oft, ohhh, das ist aber viel Text. Ein paar gucken noch ihre Handys, ein paar andere beginnen zwischen Chipstüten und Bonbons tatsächlich, in den Büchern zu blättern. Es ist richtig entspannend. Nach zehn Minuten gehen mit ziemlichem Krach plötzlich die beiden Türen des Stahlschranks auf: Hassan hat sich da drinnen die ganze Zeit klein und still gemacht, geht jetzt, ohne ein Wort zu sagen, an seinen Tisch, nimmt seine Tasche und verschwindet durch die Tür. Auf Wiedersehen, rufe ich ihm hinterher.


*Nach Motiven des Science-Ficton-Romans "Ge­brab­bel, Lachen, un­be­stimmte Ge­schäf­te - die Unterrichtsprotokolle des Kreuzberger Hauptschullehrers Jochen Köhler", Spiegel, 1988



3 Kommentare:

Immo Sennewald hat gesagt…

Mitte der 90er Jahre habe ich im Chemieunterricht einer achten Klasse hospitiert. Es ging um eine Doku über Entwicklungen an deutschen Schulen. Bis auf die Smartphones und Goethe verliefen die Interaktionen sehr ähnlich. Etwa nach 15 Minuten vergeblicher Versuche, die Aufmerksamkeit der Schülerschaft zu gewinnen, ließ der Lehrer seitenweise aus dem Lehrbuch abschreiben. Die Schulleitung verweigerte danach Filmaufnahmen aus dem Unterricht in diser Klasse.
Die Jugend von damals ist jetzt Mitte 30. Für Nachwuchs ist offensichtlich gesorgt, die Glosse nahe am Geschehen.

Gerry hat gesagt…

Und dazu immer Gröhlemeyer: Gebt den Kindern das Kommando

Anonym hat gesagt…

würde die o.g. Minderleister aus den (((deutschen))) Gesamtschulen internieren und mit harter körperlicher Arbeit beschäftigen