Mittwoch, 3. Februar 2021

Europas Zeitlupenimpfung: Zeichen für den guten Zweck

Jeder, der jetzt noch stirbt, tut das für einen guten Zweck: Er stärkt die Gemeinschaft.

Warum geht das nicht schneller? Warum schaffen es andere? Warum klappt auch nach zwölf Monaten Pandemie so wenig wie die Bundesregierung über Ausbreitungswege und Clusterbildung weiß? Selbst der Impfgipfel, von dem Beobachter mindestens den Beschluss des langersehnten Zehn-Punkte-Programms für gutes Impfen in Deutschland erhofft und erwartet hatten, ging aus wie das Hornberger Schießen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, vorerst aber, wenigstens, was Deutschland betrifft, mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht an den Nebenwirkungen einer Impfung.  

Keine neuen Freiheiten

Mit ihrem Satz „solange es nach wie vor so ist, dass nur ein kleiner Teil der Menschen geimpft ist, wird es keine neuen Freiheiten geben“, hat Bundeskanzlerin Merkel deutlich gemacht, dass eine staatliche Notimpfwirtschaft nicht auf dem Programm steht. Die Medizin des Corona-Kabinettes gegen das Virus stammt aus der Hausapotheke: Gegen viele Infektionen gibt es viele Eindämmungsverordnungen. Gegen mehr noch mehr. Jetzt ist nicht die Zeit für Lockerungen, die doch nur wieder mit Protesten derer einhergehen würden, die ohne Abstand und ohne Maske wie im Anne-Will-Studio provozieren wollen. Angesichts "sinkender Zahlen" (DPA) reicht eine Prise Geduld und ein letzter Ruck GottRegierungsvertrauen, um optimistisch nach Ostern, in den Sommer, zum nächsten Tag der Deutschen Einheit und auf das anstehende Weihnachtsfest schauen zu dürfen.

Nicht die Medien im Land, sondern die berühmte "Westpresse" (Sächsische Zeitung) ist es, die mit einer umfassenden Analyse von Taktik, Strategie und Ratlosigkeit der Kanzlerin in ihren letzten Zügen aufzeigt, wohin der Hase läuft im beschränkten 15-Kilometer-Coronakreis. "Merkel’s Hand Prints Are All Over Germany’s Vaccine Failings" schreibt Bloomberg nach zwölf Krisenmonaten, die das vielleicht größte Wunder der Neuzeit offenbaren: Die Lage im Lande ist fürchterlich und die Stimmung ist grauenhaft. Doch die Umfragewerte der Union könnten kaum besser sein.

Planlos zum Impfplan

Ist es ein Plan? Dann wäre es der erste. War es so beabsichtigt? Dann handelte es sich um eine Premiere, denn von den Maskenparolen der Corona-Frühzeit bis zur Maskenverteilung in der Mittelphase war keine Absicht stark genug, Realität zu werden. Auf der Bühne aber wird der nächste Akt in Tatkraft inszeniert. Impfgipfel. Nationaler Impfplan, absichtsvoll nicht verbrämt als gemeinsames europäisches Solidaritätstreffen im Krankenhausflur. Impfnationalismus wird hoffähig, denn "Angela Merkel beginnt unter dem Druck des ins Stocken geratenen deutschen Coronavirus-Impfprogramms die Nerven zu verlieren", wie es bei Bloomberg heißt. 

Weil Angela Merkel wegen fehlender Covid-19-Impfstoffe öffentlich unter Beschuss stand und ihre Strategie, die Verantwortung auf die Europäische Union zu schieben, nicht funktioniert hatte, sei die Altkanzlerin schon bei einem Treffen mit den Ministerpräsidenten Anfang Januar "wütender" geworden "als die Beteiligten jemals gesehen" hätten. Sie habe gedroht, sich zu rächen und die Fehler der Beamten öffentlich zu machen", heißt es weiter - eine solche - wie ja überhaupt nahezu jede Emotion - sei für die nüchterne Physikerin höchst ungewöhnlich, die in ihren 15 Jahren an der Spitze der größten europäischen Wirtschaft unerschütterlich  eine Krise nach der anderen abritt. 

Komapatienten sind zufrieden

Diesmal aber droht alles zusammenzurutschen, was Merkel in ihrer schier endlosen Amtszeit aufgebaut hat. Zwar hat die CDU einen neuen Vorsitzenden, doch Armin Laschet löst in der Bevölkerung so viel Begeisterung aus wie Urlaubsverbote und Kneipenschließungen. Zwar sehen die Umfragen für die Union  sehr gut aus, doch mittlerweile schlägt das Impfdebakel auf die Stimmung durch. Nur noch elf unentwegte Prozent der Befragten, offenbar Komapatienten, sind der Meinung, dass das deutsche Impfprogramm gut läuft.  61 Prozent sehen hingegen "große Mängel". Merkel weiß, dass hier schnell symbolisch gepflastert und verbunden werden muss, soll sich die Stimmung der Straße nicht am Wahltag gegen die wenden, die den Schlamassel angerichtet haben.

Zum Glück sind die Parteien des Regierungsblock alternativlos, so dass zumindest Machtverlust nicht droht. Angela Merkel aber möchte auch Kräfteverschiebungen im schwarz-rot-grün-gelben Block vermeiden. Dass die einsame Entscheidung Merkels, der EU-Kommission die Versorgung Deutschlands in die Hände zu legen, eines Tages womöglich von Historikern gelobt werden wird, weil es ein endgültiges Auseinanderbrechen der Union noch einmal aufschob, ist das eine. Dass die Unfähigkeit der Europäischen Kommission, genügend Impfstoff zu bestellen, um welchen Preis auch immer, zehntausende Leben im derzeit am schwersten betroffenen Corona-Gebiet auf dem Kontinent kosten wird, ist ein Kollateralschaden, den vielleicht auch Merkel nicht einberechnet hat.

Verspätung und Verzug

Schon der mähliche Start der Kampagne im vergangenen Jahr erzählt von falschen Prämissen und schrägen Zielvorstellungen. Mit Verspätung bestellte die EU nicht nur Impfstoffe, die andere längst bestellt hatten, mit Verspätung begann auch der Zulassungsprozess, obwohl das jeder Tag tausende neue Todesopfer forderte. Wichtig schien nicht die Zulassung, sondern die Vermeidung einer Notzulassung durch Umbenennung in "bedingte Zulassung". Das werde die Menschen draußen im Lande beruhigen und Impfgegnern den Wind aus den Segeln nehmen, versicherte Gesundheitsminister Jens Spahn., einst  Kritiker der merkelschen Flüchtlingspolitik und heute Kronprinz des kommenden CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet.

Um selbst Kanzler zu werden, arbeitete Spahn, der die Corona-Krise zuerst für einen kurzzeitiges Problem gehalten hatte, nach seinem Eintritt ins Team Laschet sehr engagiert. Er gab Pressekonferenzen, er beruhigte, so lange Beruhigung Regierungsstrategie war. Und er alarmierte und warnte, als sich das änderte, weil die kollektive Regierungsillusion, man habe die Seuche überstanden und könne nun eine weltenrettende deutsche EU-Präsidentschaft feiern, sich im Herbst als Seifenblase entpuppte. Auf einmal war nichts vorbereitet, auf einmal standen die deutschen Corona-Kämpfer da wie am ersten Tag der Pandemie: Nackt im Wind, der brüllt und wütet, im Orkan, der Menschen frisst, nackt im Wind, der planlos tötet, weil er weiß, dass man ihn schnell vergisst, wie es in einem alten schlager heißt.

Ungewollte Impfallianz

Merkel war mit dem Brexit und dem Corona-Wiederherstellungsfonds beschäftigt, der die Südländer bei der Stange halten soll. Spahn schmiedete er eine Impfallianz mit Frankreich, Italien und den Niederlanden, die versuchen wollte, so viel Impfstoff wie möglich zu erhalten. Ein Rückfall des karrierebewussten jüngsten Ministers in seine Zeiten als Egoshooter: Die Unterzeichnung eines  Vorvertrages der Impfallianz mit AstraZeneca über 400 Millionen Dosen klang in Angela Merkels Ohren wie eine Kriegserklärung an Rest-Europa. "Impfstoffnationalismus", tönte es aus der SPD. "Alleingang" schrie die schon seit Beginn von Corona aus dem Spiel gerutschte Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen.

Wenn wir sterben, dann zusammen, beschloss die Kanzlerin, denn das ist allemal besser als Deutsche auf Kosten des Restes der EU zu retten. Der Impfstoffnationalist Spahn knickte folgsam ein. "Wir halten es für sinnvoll, wenn die Kommission die Führung in diesem Prozess übernimmt", sagte er nun mit Betonung auf "wir". Als in den USA und Großbritannien, Israel und Saudi-Arabien längst die Tinte unter Milliardenbestellungen bei AstraZeneca, BioNTech und Moderna getrocknet war, lehnte die EU-Kommission ein BioNTech-Angebot über die Lieferung von 500 Millionen Dosen ab, weil Ursula von der Leyen der Meinung war, die Notwendigkeit einer Lagerung des Vakzins bei minus 70 Grad werde den flächendeckenden Einsatz behindern.

Impfzentren als Ablenkungsmanöver

Wie unter dem Brennglas zeigt sich seitdem, dass ein Virus keine Rücksicht auf schlechte Regierungen mit unfähigem Personal nimmt. Als im späten Herbst endlich die ersten Bestellungen der EU bei den Herstellern eingingen - erst am 20. November wurde ein EU-Abkommen mit BioNTech abgeschlossen, elf Tage nachdem das Unternehmen bekannt gegeben hatte, dass sein Impfstoffkandidat in klinischen Studien zu mehr als 90 Prozent wirksam sei - wuchs die Beunruhigung in Deutschland. Hektisch wurde begonnen, sogenannte Impfzentren zu errichten, die der Bevölkerung verdeutlichen sollten, dass etwas getan werde. Natürlich wussten selbst die Baumeister dieser potemkinschen Impfkulissen, dass dort mangels Impfstoff auf Monate hinaus nichts passieren würde. Für den Moment aber war es ein "starkes Signal" (DPA):

Hinter den Kulissen rangelte man zu diesem Zeitpunkt zwischen den Mitgliedsländern schon um die Zuteilung der raren Waren. Anfangs hatte Deutschland garantieren müssen, dass es bis zu 100 Millionen Dosen von Biontech, einem Unternehmen in teilweisem deutschen Staatsbesitz, abnehmen und bezahlen würde, wenn andere Staaten den deutschen Impfstoff nicht haben wollen würden. Doch als immer mehr Studien die Vorteile des Biontech-Vakzins belegten, reklamierten andere Mitgliedstaaten größere Mengen für sich und die deutsche Zuteilung "wurde mehr als halbiert" (Bloomberg). Das politische Berlin musste nun auch dies als großen Erfolg verkaufen, um denen nicht Recht zu geben, die etwa den Brexit mit genau dieser hier unübersehbar zutagetretenden Unfähigkeit der größten Staatengemeinschaft der Weltgeschichte zu schnellen und pragmatischen Lösungen begründet hatten. 

Der neueste Sieg der EU-Bürokratie

Der neueste Sieg der zähen Bürokratie der EU über die Lebenswirklichkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger aber ist diesmal so verheerend, dass er nach umfassender Umdeutung verlangt. Nicht gegeneinander, sondern gegen das Virus kämpfe man, hat Jens Spahn den Menschen zugerufen, die gestorben sind oder noch sterben werden, weil alles so langsam geht. Ein Opfer, das sich lohnt, denn wichtiger als dort zu impfen, wo es im Moment am schlimmsten steht, seit es, demonstrativ Fairness bei der  Verteilung der Impfstoffe zu zeigen, betont die Kanzlerin immer wieder. Hier liegen auch die geheimnisvollen "guten Gründe", die Angela Merkel neuerdings für ein "langsameres Impftempo" anführt, ohne sie konkret zu benennen: Wer jetzt noch ums Leben kommt, weil er kein Brite, Israeli, Saudi oder Amerikaner ist, der tut dies für für einen guten Zweck.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Handelsblatt:
0 Kommentare zu "Wirtschaft, Handel & Finanzen: Merkel: Es gibt gute Gründe für langsameres Impf-Tempo"

Wunsch- und wortlos glücklich, so soll es sein.

Nur wenige wollen es genauer wissen. Gute Gründe?
Merkel:
"Aus guten Gründen: Es geht hier nämlich auch um Vertrauen."

Das sind keine guten Gründe, sondern nur, um was es geht. Freilich setzt kein Journalist den Geldfluss auf das Konto seines Arbeitgebers mit ketzerischen Nachfragen auf's Spiel.

Anonym hat gesagt…

Och, der Topf ist ja leer ... Und warum ist er leer? ... Weil du keinen Brei gekocht hast ... Und warum habe ich keinen gekocht? ... Weil der Ofen nicht geheizt ist ... Und warum ist er nicht geheizt? ... Weil kein Holz mehr im Haus ist ...

Warum, warum der ganze Affenzirkus? Weil es mitnichten um Seuchenbekämpfung geht, sondern um etwas, was ganz frech und offen seit Jahren angekündigt wurde. Mit Max Frisch - Die beste Tarnung ist die nackte Wahrheit: Die glaubt keiner. Keinen ewigen Anspruch auf Demokratie und Marktwirtschaft, Rißättelmänt und Rilokähschen, i tak daliye.