Donnerstag, 18. April 2024

Radikale Verbrechensreform: Umbau der Dunkelfelder

Notwendige Maßnahmen zur Abwehr der Energiekrise schlugen auf die Kriminalitätszahlen durch. Forscher fordern nun, dieses Dunkelfeld künftig ebenso einzuberechnen wie die klimabedingt steigende Gewaltneigung.

Der Höher-Schock bei der deutschen Kriminalitätsstatistik sitzt auch Tage danach noch tief, die Ratlosigkeit im politischen Berlin ist mit Händen zu greifen. Sind Kriminelle gefährlicher als andere? Gibt es mehr davon, wo viel junge Männer neu zusammenkommen, auf der Flucht vor gefährlichen Verbrechern?  

Oder ist nicht tatsächlich der deutsche Hang, alles in Zahlen erfassen, ordnen und sich selbst zusammengefasst wieder und wieder erzählen zu müssen die Ursache für eine Welle der Verunsicherung angesichts einer vermeintlich "angespannten Sicherheitslage" (Gewerkschaft der Polizei). Einer Welle, von der doch im Grunde fast niemand aus persönlichem Erleben berichten könnte, würde nicht inzwischen jede kleine Messertat, jeder hasserfüllte Hitlergruß und jeder Fall von Brandstiftung breit ausgewalzt und als Bedrohung beschrieben.

Eklatante Erfassungsmängel

Genau, sagt der Stralsunder Verbrechensbeobachter Lars Rahmberg, der an der Ostseeuniversität im dänischen Bornholm kriminalistische Relativierung lehrt. Der 37-jährige studierte Vergehensforscher verweist auf eklatante Mängel in den deutschen Statistiken, die ein sicheres Heimaterlebnis, wie es SPD, CDU und nahezu alle anderen Parteien seit vielen Jahren in Aussicht stellen, kaum mehr möglich machen. "Durch die erratischen Vorgaben des Gesetzgebers bei der Strafbarkeit bleibt die Vergleichbarkeit von Taten auf der Strecke", bemängelt der Experte.

Rahmberg verweist etwa auf die politische Kriminalität, die aus der Erfahrungen früherer Jahre heraus auf dem rechten Auge nicht mehr blind sei, dafür aber unwillig, auch in andere Richtungen zu schauen. "Penibel wird hier die Zahl der an Häuserwände gemalten Hakenkreuze verzeichnet, gezählt werden zudem die Hitlergrüße und sonstige Verstöße gegen die Nutzung von Begriffen aus der Liste der verfassungsfeindlichen Kennzeichen", führt Rahmberg an. 

Fehlende Listen

Da auf der anderen Seite aber keine entsprechenden Listen oder Zeichen existieren, deren öffentliche Vorführung strafbar sei, entstehe eine Unwucht mit zehntausenden von kriminellen Vergehen der einen Seite, denen statistisch keiner Vergehen der anderen entgegenstehen können. "Das erinnert an eine politische Justiz, die in Abhängigkeit von politischen Einflüssen entscheidet", sagt der Forscher. Sie bestrafe Menschen nicht wegen konkreter Straftaten, sondern wegen ihrer Gesinnung. "Politische Opposition wird mit Strafrecht bekämpft, Straftaten der eigenen Gesinnungsleute werden kaschiert."

Lars Rahmberg führt diese Schieflage nur als Beispiel an. "Unsere Welt sähe ganz anders aus, würde der Gesetzgeber sich entschließen, nicht nur Parolen wie ,Alles für D-Wort`, das Horst-Wessel-Lied oder Zeichnungen des Hakenkreuzes, sondern auch totalitaristische Erkennungszeichen wie Hammer und Sichel, die ,Internationale' und den Isis-Finger statistische als Straftaten erfassbar machen." 

Ähnlich verzerrt und unvollständig sei die gesamte Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), sagt der Verbrechenswissenschaftler. "Den Angaben mangelt es an gesellschaftlicher Einordnung, weder werden die Auswirkungen der zunehmenden Klimahitze auf das Gewaltgeschehen mitbedacht, noch werden positive Aspekte der Migrationspolitik bei der Betrachtung der steigenden Ausländerkriminalität gegengerechnet."

Im Dunkelfeld der Sparmaßnahmen

Ein Unding, sagt der gebürtige Greifswalder, der während der Pandemie über den Einfluss städtischer Sparmaßnahmen bei der Straßenbeleuchtung auf die Verbrechenshäufigkeit geforscht hat. Seine Doktorarbeit, erschienen unter dem Titel "Impact of urban austerity measures in street lighting on crime rates" im Fachmagazin Crime Scenes Diary (Stockholm, 2023) löste eine Debatte über die Verdunklungsfolgen aus - blieb aber bei deutschen Behörden ohne Auswirkungen auf die statistische Aufarbeitung. "Wir konnten in unserer Studie nachweisen, dass dunkle Straßen und Wege nicht ohne Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl bleiben", erklärt der junge Forscher. Zwar stiegen die Zahlen der Übergriffe nicht an, weil zahlreiche Menschen die abgedunkelten Bereiche gemieden hätten. "Aber was hätte wäre wenn?"

Lars Rahmberg plädiert aus dieser Erkenntnis heraus für einen neuen, aufgeklärten Umgang mit der Kriminalitätsstatistik. Statt plakativ anzuführen, dass 41 Prozent der registrierten Tatverdächtigen in Deutschland 2023 keinen deutschen Pass besessen hätten, könne eine statistische Auswertung nach Tatorten der Gesellschaft weit mehr helfen. 

"Der Umbau der Statistik weg vom Prinzip des Tatverdachts, hin zu einer Grundlage, die Gefahrenorte in den Blick nimmt, lässt für Behörden und Bürger*innende viel mehr Rückschlüsse auf sichere Safe Spaces zu." Die seien derzeit aus den vorgelegten Daten nicht so ohne Weiteres zu ziehen. "Unsere aktuelle PKS sorgt nur für pauschale Klischees bei der Verdachtszuschreibung."

Neue Fürchterlicheit der Lage

Eine Folge, die Jahr für Jahr lähmend wirkt. Sobald die PKS vorgelegt wird, breche in der Regel zuerst eine Debatte um die Fürchterlichkeit der Lage, anschließend aber sofort eine über die Aussagekraft der Statistik aus, hat Rahmberg bemerkt. Obwohl zuletzt deutlich mehr Straftaten erfasst werden konnte, konzentrierte sich die Diskussion nicht auf die große Mehrheit der von angestammten Inländern begangenen Taten, sondern auf die weitaus geringere Zahl der von Touristen und anderen Nicht-Staatsbürger*innen begangenen Verbrechen.

Rahmberg plödiert für eine "radikale Erneuerung der PKS", die künftig verhindern solle, dass jede  Statistik direkt im Anschluss an die offizielle Vorstellung im Beisein der jeweiligen Innenministernden  sofort infrage stellt werde. "Wir müssen die PKS von allen Daten und Zahlen bereinigen, die sie potenziell verzerrbar machen, weil sie ungewichtet einfach da reinfallen." Möglich wäre es etwa, externe Einflüsse relativierend heranzuziehen. "Höhere Außentemperaturen, kältere Büros, dunklere Straßen, modebedingt kürzere Röcke", sagt der Forscher, "all das verkürzt die gesellschaftliche Zündschnur."

Verhinderte Taten gegenrechnen

Der Kriminalforscher schlägt drei Ideen vor, die die Statistik grundlegend entschärfen würden. "Wir könnten Kriminalitätsausgleichstaten mit einberechnen", empfiehlt er etwa. Für jede begangene Straftat gebe es draußen im Land wenigstens eine verhinderte - Rahmberg führt Überwachungskameras, Alarmanlagen und Autos auf, die aus Versehen unverschlossen geblieben und dennoch nicht gestohlen worden seien. "Dieses Dunkelfeld der bisher kaum beachteten nicht-strafbaren Taten sollten wir in künftige Studien mit einbeziehen." Zudem könne die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) durch eine Einordnung in Auswirkungen der zunehmenden Klimaerwärmung erhöht werden. 

"Wir wissen, dass ein Sinken der Außentemperatur unter 12 Grad einen Anstieg von Hasspostings um 12 Prozent bewirkt und jeder Anstieg aus einem sogenannten Wohlfühltemperaturfenster von zwischen 12 und 21 Grad den Hass gleich um 22 Prozent ansteigen lässt." Aus noch größerer Hitze resultiere direkte Gewalt, nicht nur verbalen Art. "Schauen wir nur in den Nahen Osten oder nach Afrika, wo zur Kühlung der Gemüter nicht genug Wasser zur Verfügung steht." 

Immer noch recht sicher

Durch das Lösen von der Fixierung der Kriminalitätslage von den der Polizei bekannt gewordenen Straftaten und Tatverdächtigen verspricht sich der Forscher künftig auch eine bessere Einordnung in die globale Kriminallage. Deutschland stehe zwar weltweit nur für weniger als ein Prozent der angezeigten Fälle, habe aber große Verantwortung, seinem Ruf als eines der sichersten Länder der Welt gerecht zu werden. Übertrieben kriminell wirkende Statistiken hülfen abgesehen von rechten Scharfmachern niemandem, verunsichern aber Milliarden. 

"Gelingt es uns, durch einen neuen Umgang mit Daten, Fakten und Zahlen Statistiken zu erstellen, wie beweisen, dass es keinen Grund zur Sorge gibt, entsteht ein völlig anderes Kriminalitätsbild", das sich auch international wieder stolz herzeigen ließe.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Sage ich doch seit Jahren. Wenn jemand sagt 'Todesstrafe verhindert keine Verbrechen', dann kann man lange nach einer Statistik der verhinderten Verbrechen googeln. Hat keiner.
Man sollte Vertreter von zivilgesellschaftlich engagieren Gruppen dazu bringen, eine Zahl der durch ihre Tätigkeit verhinderten Straftaten in ihre Jahresberichte aufzunehmen.

Anonym hat gesagt…

Man könnte auch Jobcenter zu einer Statistik verpflichten, wieviele Teilnehmer von Bewerbungstraining oder Coaching -Kursen danach einen Arbeitsplatz finden. Macht auch keiner.
Warum wohl?