Donnerstag, 11. September 2025

Von der Leyen: Rede zur Lage in Wolkenkuckuckshausen

Ursula von der Leyen Anführerin Europa Kümram Ölgemälde
Die Eiserne Lady: Ursula von der Leyen ist einmal mehr in eine neue Rolle geschlüpft. Für den jungen Maler Kümram hat sie in einer typischen Pose als Heldin für ein Bild Porträt gestanden.

Es ist ihr großer Auftritt, ihr Stunde, ihre Schlacht. Vor Tagen schon hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, sie werde am 10. September eine wegweisende Rede zur Lage der Union halten. Das Datum ist kein Zufall, genau 72 Jahre zuvor war in Straßburg erstmals die Gemeinsame Versammlung der Montanunion zusammengetreten - ein Tag, den die EU in ihrer bekannt traditionsbewussten Art heute als Geburtstermin für des Europäischen Parlaments betrachtet.

Aufrüttelnder Aufrut 

In dessen prächtigem Plenarsaal, umgeben von einem bunten Meer aus Flaggen und einem Auditorium aus Parlamentariern aller Länder tritt Ursula in Rosébluse mit passendem, Kettchen, malvenfabenem Blazer und schwarzer Hose an, um die erste "State of the Union"-Rede der neuen Legislaturperiode zu halten. Es wird weniger Ansprache als Aufruf, weniger Bericht zur Lage der Dinge als Beschreibung der Welt, die Ursula von der Leyen vor sich sieht. Von Tech Leadership, dem von vielen vermuteten neuen Kernkampfbegriff der zweiten Amtsperiode der 66-Jährigen, so viel sei vorweggeschickt, wird nicht die Rede sein. 

Dafür aber viel von Kampf, Schicksalsstunden, Krisen und Wendepunkten. Von der Leyen gibt den Winston Churchill, ohne von Blut, Schweiß und Tränen zu sprechen. Kämpferisch will sie wirken, sie simuliert emotionale Aufladung und will den Eindruck vermitteln, die schon wieder notwendige  Krisenbewältigung dank eines neuen großen Planes im Griff zu haben. Anzumerken ist der EU-Chefin, dass sie schon nach ihrem als "Wiederwahl" bezeichneten Verbleib im Amt unter Druck steht, endlich mehr zu liefern als weitere Krisenbeschreibungen und Durchhalteparolen.

Immer wieder große Würfe 

Zu viel hat Europa bereits gehört, zu oft hat die frühere deutsche Vielministerin große Würfe versprochen und anschließend zuverlässig kleines Karo geliefert. Die EU, schon unter Vorgänger Jean-Claude Juncker ein unbeweglicher Riesendampfer, der sich gerade so noch über Wasser hielt, hat unter der Frau aus Niedersachsen auch die letzten Reste an Respekt verloren. 

Brüssel gilt als Bremse, Brüssel gilt als Bevormundung, Brüssel wird bis in die Regierungszentralen der Mitgliedsstaaten für allen Unsinn verantwortlich gemacht, der dafür sorgt, dass der selbsternannte "größte Binnenmarkt der Welt" wirtschaftlich Monat für Monat weiter nach hinten durchgereicht wird. Dagegen versucht Ursula von der Leyen auch bei ihrer großen Rede Jahrgang 2025 wieder anzureden, indem sie sich als Kämpferin positioniert – für Frieden, Unabhängigkeit und all die Dinge, die üblicherweise "europäische Werte" genannt, aber nie genau beschrieben werden.

Ursulas Unabhängigkeitserklärung

Alles ist groß, alles ist wichtig. Für diesmal heißt die zentrale These, die ihr ihre Leute aufgeschrieben haben: "This must be Europe's Independence Moment." Isolationismus statt Westbindung, Brandmauern statt Freihandel. Von der Leyen droht, EU-Firmen mit neuen Importabgaben vor Konkurrenz schützen zu wollen, sie stellt in Aussicht, dass bereits geführte "strategische Dialoge" mit wichtigen Industriezweigen den Niedergang der EU bremsen werde. Alles dreht sich um Gegenwehr, Abwehr, Abschottung und Sanktionen, Förderprogramme, zentrale Pläne und riesige EU-Vorhaben, die das Blatt wenden sollen. 

Die Tonart ist martialisch, denn die Aussichten sind selbst durch von der Leyens Brille betrachtet dramatisch. Von der Leyen eröffnet mit "Europe is in a fight" – Europa ist im Kampf. Immerhin nicht Krieg. Doch das Schlüsselwort wird mehrmals wiederholt: Kampf für einen ganzen Kontinent, für Freiheit, für Demokratie. Der Tonfall soll aufrütteln, motivieren, er ist bewusst schrill und alarmierend, als wolle Ursula von der Leyen den Wecker geben für eine EU, die sie selbst mit in den Schlaf gewiegt hat.

Kein Konsens, keine Kompromisse 

Konsens, Kompromisse, die ausgestreckte Hand - all das kennt die Frau nicht mehr, dass die Bilder von Trump und Putin beim Versuch, einem Frieden in der Ukraine näherzukommen, für sie "nicht leicht zu verdauen" gewesen seien. Von der Leyen, die in China nur durch die Hintertür vorgelassen wird, in Ankara auf dem Beistellsofa sitzen muss und im Weißen Haus einen Zoll-Deal heraushandelte, der der EU dieselben Sätze wie Afghanistan beschert, setzt auf Polarisierung. 

Sie malt das Bild einer belagerten Festung, spricht zwar von abwanderndem Wohlstand und flüchtenden Arbeitsplätzen. Mit Omnibus-Pakete, also Gesetzen, die mit einem Trick durch den normalen Gesetzgebungsprozess geschleust werden, werde bald alles besser. "Weniger Papierkram, weniger Überschneidungen, einfachere Vorschriften."

Das ist die EU der Präsidentin. So steif und unbeweglich, dass die, die die Gesetze gemacht haben, sich selbst austricksen müssen, um sie zu umgehen. Von der Leyen überspielt die bizarren Volten, die die Gemeinschaft notgedrungen schlagen muss, mit einer offensiven Ansprache und versprechen von einem neuen "Drohnenwall" gegen Russland, einer "weltraumraumgestützte Echtzeit-Überwachung und der Einführung eines "Europäischen Semester der Verteidigung". Wortgeklingel wie von Kirchenglocken. 

Honig ums Maul 

Als "honourable Members" geht sie den Abgeordneten um den Bart. Das englische "We" ist ihr Synonym für die EU als Ganzes, obwohl seit dem Austritt der Briten in der Gemeinschaft nur ein verschwinden kleine Gruppe englischer Muttersprachler leben. Europa aber ist abhängig von der Sprache, die sich nicht seine ist, weil es zu viele eigene hat und sich keine der großen Nationen von ihrer trennen wird, um eine gemeinsame zu pflegen. Welche das sein sollte? Der Streit wäre episch. An ihm würde die EU zersprechen.

Unbeeidnruckt von solchen Realitäten hält Ursula von der Leyen ihre Rede zur Lage im Wolkenkuckcucksheim. An die vermeintliche "kollektive Identität" der Europäer appelliert sie, abgewürzt mit sorgsam entworfenen persönlichen Anekdoten, einer traurigen Kriegskindergeschichte aus der Ukraine und der überraschenden Mitteilung, dass die Handelsbarrieren im EU-Binnenmarkt so hoch seien, dass sie "nach Schätzungen des IWF sie einem Zoll von 45 Prozent" entsprächen.

Pathos und künstliche Emotionen 

Das ist dreimal so hoch wie die neuen Trump-Zölle, geht aber in Pathos und künstlichen Emotionen unter. Leyens Schwerpunktsetzung verrät ihre Prioritäten. Die ersten 15 Sätze sind dem Frieden und der Unabhängigkeit gewidmet, dann folgen Verteidigung und Ukraine mit  20 Sätzen und einem neuen Kampfruf: "a fight for our values and our democracies". Europa hat, von der Leyen zufolge, mehrere. Die Wirtschaft folgt darauf, mit 25 Sätzen der größte Block, die Betonung aber liegt auf Wachstum und Sozialem, ohne dass von der Leyen Hinweise darauf gibt, wo die Ursachen für die Misere der EU liegen. 

Technologie wird als Drittes abgehandelt, kurz in zehn Sätzen, die auch für  Energie und Innovation reichen müssen. Der Nahe Osten kommt als Vierter, ebenso in zehn zehn Sätzen, gepfeffert mit scharfer Kritik an Israel. Ursula von der Leyen weiß, das kommt immer gut an. Und sie weiß auch: die Verkündigung der Einstellung aller EU-Finanzhilfe für den bedrohten Judenstaat wird es sein, die von ihrer Rede übrig bleibt und alle Schlagzeilen bestimmt. 

Und sie wird noch größer 

Der Rest ist Routine. Es geht noch um Enlargement genannte nächste Erweiterungsrunde einer EU, die vor lauter Größe heute schon keinen Schritt mehr vorankommt. Um den Klimawandel, acht Sätze, ganz hinten. Und Migration und Soziales, mal hier, mal da, zusammen in 15 verstreuten Sätzen. Pandemie und Gesundheit, lange die Themen, mit denen Ursula von der Leyen der EU Bedeutung verschaffen wollte, kommen nicht vor. Die Weltraumfahrt, die Wissenschaft, die Demokratie, die Bedrohung von rechts, Medien und Halbleiter - all die Modethemen, die zuletzt durch Brüssel schwappten, haben sich bereits wieder aufgelöst. Zu Polen und dem vermeintlichen Drohnen-Angriff Russlands sagt sie etwas Aufrüttelndes. Zu den Unruhen in Frabkreich natürlich nicht.

Der Aufbau der Rede und ihre Schwerpunkte zeigen, dass Reihenfolge Verteidigung, Wirtschaft, Unabhängigkleit, Technologie, Ukraine, Naher Osten, Klima die augenblickliche Prioritätensetzung einer zusehends panisch agierenden Kommission abbildet. Sicherheit vor Umwelt, Idealpolitik vor Realismus, Festhalten an Illusionen statt des Eingeständnisses, dass der falsche Weg auch nicht ans Ziel führt, wenn man ihn mit doppelter Geschwindigkeit und unter Absingen trotziger Lieder weitergeht.

Sie malt sich ihre Welt 

Stattdessen malt Ursula von der Leyen eine Welt an die Wand, in der die "unabhängig" werden muss – von Russland, China und sogar den USA. Und in der sie das auch kann, wenn alle nur fest daran glauben und eifrig mittun. Ideen zur Umsetzung hat sie einige dabei: Sie fordert eine "reparations loan" aus eingefrorenen russischen Auslandsvermögen für Ukraine, einen Gipfel zur Rückführung entführter urkainischer Kinder und einen Ausstieg aus dem Einkauf russischem Öl und Gas. Kein Wort dazu, wie. Kein Wort dazu, was stattdessen.

Geht es nach der studierten Ärztin, kann die finanziell dauerklamme EU mit ihren reihenweise am Rand der nächtsen Finanzkrise taumelnden Mitgliedstaaten ihre Krise lösen, indem sie sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht. Es brauche dazu soziale Maßnahmen und Investitionen in Infrastruktur,  schon sei die Rezession besiegt. Die EU-weit nicht vorhandenen Technologieunternehmen ersetzt die Brüsseler Bürokratin durch die Behauptung, es gebe sie. 

Deprimierende Aussichten 

Die deprimierenden Wirtschaftsaussichten würden sich aufhellen, sobald das grüne Wachstum beginne, dass Europa zurück an die Weltspitze katapultieren werde. Bis dahin müsse die EU einfach "härter, einiger und investitionsstärker" werden, etwa durch eine "Roadmap für common defence projects", einen "Fokus auf Innovation" und eine möglichst balödige Erweiterung um weitere malade Balkanstaaten. "Let's make the next reunification of Europe happen", ruft von der Leyen und meint die Ukraine und Moldawien. 

Die Grundausrichtung der künftigen EU-Politik ist damit klar. Von der Leyen baut an einer "Festung Europa", die in den Kampf gegen die restliche Welt ziehen soll. Sie soll sich selbst verteidigen können und dazu eine Rüstungsindustrie aufbauen, die den Namen verdient hat. Sie soll sich unabhängig von Energieimporten machen, aber auch bei neuen Technologien auf eigenen Beinen stehen. Sie soll zudem weiter an ihrem Klimakurs festhalten, auch wenn daraus resultierenden Wettbewerbsnachteile weiterhin  auf den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger durchschlagen.

Eine Politik des Immerweiterso 

Bloß keine Fehlerdiskussion. Ursula von der Leyens Politik ist eine des sturen Immerweiterso. Die Christdemokratin, einst eilig nach Brüssel abgeschoben, weiß, dass erst ihr Nachfolger die Scherben von Jahren und Jahren verbohrter ideologischer Fantasiepolitik aufkehren kann. Sie selbst muss hoffen, dass es bis dahin reicht, auf Krisen mit markigen Worten und großen Ankündigungen zu reagieren.

Dass die in sich widersprüchlich sind, ist längst egal: Frieden predigen, aber Sanktionen verschärfen; ein Ende des Krieges fordern, aber Verhandlungen ablehnen, Wachstum und wirtschaftliche Dynamik versprechen, aber soziale Umverteilung fördern, Technologieführerschaft reklamieren, aber jede neue Technologie behindern und kaputtregulieren - für Ursula von der Leyen ist das nur konsequent.

Strategie Steuergeld und Schklden 

Ihre Strategie sind wie immer neue Förderprogramme, finanziert aus neuen Schulden. Diesmal kündigt sie gleich beeindruckende acht neue Vorhaben mit wunderbaren Namen an – ein Feuerwerk an Initiativen, das einer erneuten Milliarden-Regen verspricht, nach dem auch wieder nichts wachsen wird. Einen "mit mehreren Milliarden Euro ausgestatteten Scaleup-Europe-Fonds" werde man auflegen, "massiv in europäische KI-Gigafabriken" investieren, ein "Batterie-Booster-Paket starten", einen Industrial Accelerator Act zur "industriellen Beschleunigung für wichtige strategische Sektoren und Technologien" vorschlagen und  mikt einem "neuen, langfristig angelegten Handelsinstrument" europäische Hochpreisproduktionen vor ausländischer Konkurrenz abschirmen.

Nie zuvor hat die Ankündigungskünstlerin von der Leyen in kürzerer Zeit mehr Versprechen gemacht.Vieles ist umverteilt, nicht neu. Die meisten "Investitionen" sind ein Euphemismus für konsumtive Ausgaben aus neuen Schulden. Die meisten großen Programme haben nicht mehr Gehalt als ein Windbeutel -- Von der Leyens Rede ist auf einer Apple- oder Windows-Software entstanden und auf Jahre hinaus wird sich nichts daran ändern, dass sich Europa allein weder verteidigen noch wirtschaftlich oder technologisch am Leben halten kann.

Sie kämpft wie immer nur für sich 

Von der Leyen Weckruf, der die EU in einen inneren Kampfmodus versetzen sollte, um vom systemischen Versagen der Brüsseler Planwirtschaftsbürokratie abzulenken, wirkt vor dem Hintergrund der "uns umzingelnden Wirklichkeit" (Robert Habeck) wie der letzte Pfiff im Walde. Niemand hat ihn gehört: Kein einziger Fernsehsender in der EU übertrug die Ansprache. Und in den Leitmedien bleiben vom großen Wurf nur ein paar Zeilen über einen beginnenden "Überlebenskampf" Europas (Handelblatt) und die "Anführerin" (Spiegel), die nur "für sich" (Taz) kämpft.

Entsetzen über Gegenwehr: Mit Terroristen reden

Gedenktafel für eines der Opfer der Anschläge von  9/11: 24 Jahre danach hat EU-Europa die Ereignisse komplett vergessen.

Es war Freude, und sie war nicht nur klammheimlich. Kaum war die Nachricht vom Tod des düsteren Dschihadfürsten  Osama Bin Laden bis nach Berlin gedrungen, ließ die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Volk wissen: "Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten".  Dass die US-Truppen, die den abgetauchten Al-Kaida-Chef an einem frühen Sonntagmorgen in einem Haus im pakistanischen Abbottabad aufgespürt und erschossen hatten, das Völkerrecht missachten mussten, um bis an ihr Ziel zu kommen, stieß in Berlin nicht auf Kritik. 

Faustregeln im Völkerrecht 

Seit der israelische Geheimdienst Mossad den Nazi-Mörder Adolf Eichmanns im Mai 1960 in Buenos Aires kidnappte und aus Argentinien nach Tel Aviv brachte, gilt im Völkerrecht die Faustregel, dass das Verbrechen nur groß genug sein muss, um die für alle geltenden Regeln der nationalen Souveränität auch mal aussetzen zu können. Immer so, wie es gerade passt. Aber Augenmaß ist dabei gefragt. So konnten etwa Nato-Flugzeuge den Frieden auf dem Balkan durch  Bombenangriffe durchsetzen und ein Bündnisbeschluss nach Art. 5 Nato-Vertrag fallen, ohne dass die Legitimation einer kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 UNO-Charta vorlag. 

Ruft Washington, ist die "uneingeschränkte Solidarität" erste deutsche Pflicht. Anders sieht es immer aus, wenn Israel angegriffen wird. Nach den Attacken der Hamas im Oktober 2023 stand Deutschland verbal fest an der Seite des Judenstaates. Doch je länger und erbitterter die einzige Demokratie im Nahen Osten sich bemühte, die - in Europa damals noch nicht einmal als Terrororganisation eingestufte - Islamistenarmee endgültig und für immer zu vernichten, um weiter wurden die Herzen in Europa für die Täter des 7. Oktober.  Man müsse doch verhandeln, hieß es. Die sagenumwobene Zwei-Staaten-Lösung, die die Hamas immer abgelehnt hatte, müsse am Leben bleiben. 

Die Wähler der Hamas 

Alle Sorgen galten der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen, die den Terroristen 2006 mit einem deutlichen Wahlsieg die Basis verschafft hatte, Israel nun fast tagtäglich mit Raketen anzugreifen. Aus der deutschen "Staatsräson" wurde unter dem Druck der unablässig marschierenden Hamas-Sympathisanten ein Biegen und dann ein vernehmbares Brechen. Zwar stellten sich andere EU-Staaten deutlicher auf die Seite der nun als "Angegriffene" geltenden Palästinenser. Aber auch Deutschland unterlief die Bemühungen Israels, das terroristische Übel endlich mit der Wurzel auszureißen.

Auch wenn sowohl die alte wie auch die neue Bundesregierung noch davor zurückschrecken, den auf einem unversöhnlichen Antisemitismus gegründeten "Staat Palästina" offiziell anzuerkennen, sorgte die frühere Außenministerin Annalena Baerbock sorgte für finanziellen Nachschub. Ihr Nachfolger Johann Wadephul (CDU) hielt daran fest und er forderte Israel zuletzt mit all seiner Erfahrung als Fachanwalt für Medizinrecht und Sozialrecht und Berufspolitiker zu einer "fundamentalen Änderung" seiner Politik auf.

Aufrufe zur Mäßigung 

Deutschland ist besorgt. Wie immer schon ruft es beide Seiten zur Mäßigung auf. Im Gegensatz zu Angela Merkels öffentlichem Freudenausbruch nach der Eliminierung Bin Ladens schickte Friedrich  nach Israels Angriffen auf den Iran keine Glückwunschkarte, sondern eine schmallippig vorgetragene Beteuerung, dass Israels das Recht habe, seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürger zu verteidigen. Aber ebenso wie die Hamas von Schritten absehen müsse, "die zu einer weiteren Eskalation führen und die gesamte Region destabilisieren können".

Weniger geht nicht, in Brüssel aber schon. Zwei Tage nach einem Terrorangriff in Jerusalem, bei dem zwei  Attentäter wahllos auf wartende Menschen an einer Bushaltestelle schossen und sechs von ihnen ermordeten, setzte die EU-Kommission alle Hilfszahlungen an Israel aus. Darüber hinaus kündigte Ursula von der Leyen an, den Mitgliedsländern Vorschläge für Sanktionen unterbreiten zu wollen und allen nahezulegen, in einem Partnerschaftsabkommen enthaltene Handelsvereinbarungen auszusetzen.

Zweierlei Maß 

Die Frau aus Hannover, von keinem der 440 Millionen Europäer gewählt, misst einmal mehr mit zweierlei Maß. Fest an der Seite der Ukraine stehend, torpediert sie alle Bemühungen des US-Präsidenten Donald Trump um Gespräche zu einem Friedensschluss in der Ukraine hinhaltend und erfolgreich. Von der Leyen darf sich der Unterstützung der meisten EU-Staatsführer für ihren Kurs sicher sein, die im Osten lieber einen unendlichen Kampf bis zum Sieg führen als Zugeständnisse machen wollen. 

Im Nahen Osten ist die Sichtweise entgegengesetzt. Die "beiden Seiten", als die EU-Politiker die Terrororganisation und das demokratische Israel stets bezeichnen, müssten reden, solange es auch dauert und so oft die verbliebenen Reste der Hamas auch erkennen lassen, dass sie allenfalls eine Erholungspause heraushandeln wollen, um später neu anzugreifen. 

Empört und entsetzt 

Der Angriff der IDF auf die seit Jahren in Doha residierende Auslandsführung der Hamas liefert den langersehnten Anlass, Israel die Unterstützung zu entziehen. Während Saudi-Arabien die israelischen Flugzeuge unbehelligt zu ihrem Einsatz fliegen ließ, Katar als Austragungsort des Angriffs kaum mehr als Empörung über einen "heimtückischen Angriff" verlauten ließ und die USA behaupten, zwar etwas gewusst zu haben, aber nicht beteiligt gewesen zu sein, ist EU-Europa angesichts des Versuchs, die milliardenschweren Top-Terroristen zu töten, auf der Palme.

Spanien, Frankreich, Schweden und weitere Mitgliedsstaaten hätten schon länger gern, dass Israel es gut sein lässt. Bis die Hamas wieder angriffsfähig ist, werde es doch dauern. Und dann, so kalkulieren sie, haben andere das Problem. Das Israel seit 1948 nicht loswird, weil zwar etliche seiner Nachbarn mittlerweile Friedensverträge abgeschlossen und Wirtschaftsbeziehungen aufgebaut haben. Die selbsternannten "Palästinenser" aber keine Bereitschaft zeige, sich mit weniger als dem gesamten Mandatsgebiet zufriedenzugeben - und dauere es auch noch  hundert Jahre, bis der letzte Jude vertrieben ist.

Deshalb will die Regierung von Benjamin Netanjahu partout nicht auf die guten Ratschläge der vielen an sonnigen Tagen so sehr, sehr guten Israelfreunde hören. Kopfschütteln im Wertewesten, der in derselben Situation sicherlich bereits mit wunden Knien seine eigene Art von Widerstandsfähigkeit unter Beweis stellen würde. Mit dem Angriff auf die Hamas-Führungsriege zeige Israel "einmal mehr, dass es sich ans Völkerrecht nicht gebunden fühlt", schreibt der "Spiegel" und er ernennt Israel zum "Störenfried der Region"

Vom Fluss bis zum Meer ist es nicht allzu weit in Hamburg.

Mittwoch, 10. September 2025

Annalena Baerbock: Auf freiem Fuß

Sexistische Bildauswahl: Das eigentlich solidarische Werbeportal T-Online verzichtet darauf, das Gesicht der in New York so glücklichen früheren deutschen Außenministerin zu zeigen. Stattdessen präsentiert die Seite einen frivolen Blick auf Baerbocks schlanke Fesseln in High Heels.

Da war sie wieder, ein letztes Mal vielleicht schon, ehe sie für lange Zeit aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden wird. Annalena Baerbock zeigte sich in New York am Ziel ihrer Wünsche. Diesmal nicht im "Sex and the City"-Outfit mit great Jeans, sondern im marmorweißen Business-Kostüm. Diesmal nicht privat im Yellow Cab bei einer Entdeckungsreise durch New York, sondern auf der großen Weltbühne der UN-Vollversammlung.

Donnernder Applaus 

Vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen schwor die ehemalige deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ihren Amtseid als neue Präsidentin der UN-Vollversammlung auf die UN-Charta. Mit prasselndem Applaus empfingen die Vertreter der derzeit 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ihre neue Sitzungsleiterin. Zur Begrüßung erhielt Baerbock den Amtshammer überreicht, mit dem sie künftig für Ordnung im Hohen Haus sorgen wird, um, so hat sie es selbst umrissen, die Nachhaltigkeitsziele der Weltgemeinschaft, den Kampf gegen die Klimakrise sowie die Gleichstellung der Geschlechter durchzusetzen.

Die Freude in New York war groß. UN-Generalsekretär António Guterres sagte, er freue sich darauf, mit Baerbock zusammenzuarbeiten "und weiter globale Lösungen für globale Probleme zu finden". In dem Jahr, für das die frühere grüne Kanzlerkandidatin gewählt wurde, soll viel erreicht werden: Baerbock will ihr Englisch vervollkommnen, die Welt soll friedlicher werden und die Deutsche möchte Reformen vorantreiben, um "die Ressourcen der Vollversammlung so effizient wie möglich einsetzen zu wollen".

Im Verbrennertaxi zur Flaggenparade 

Selbstbewusst hatte sie sich schon vorher von allen Erwartungen ihrer früheren Anhänger freigemacht. In einer ersten Kurzdokumentation aus ihrer neuen Heimat in Donald Trumps Amerika zeigte sich Baerbock im Sydney Sweeney-Stil: Viel Haut und great Jeans, sie ließ sich demonstrativ nicht im Elektro-Uber an der Flaggenparade in der Nähe des UNO-Hauptquartiers herumfahren, sondern in einem Verbrennertaxi.  Auch der zweite Film, den sie aus den zusehends ins Faschistische abgleitenden Vereinigten Staaten sendete, brach mit den üblichen Grünen-Klischees. Wie selbstverständlich griff Annalena Baerbock zum Wegwerfbecher, um sie ihren Dienstweg-Kaffee und den in den USA dazu vorgeschriebenen Bagel zu holen. 

Von wegen Müsli, von wegen EU-Mehrwegrichtlinie. Annalena Baerbock spielt auf einer anderen Ebene. Baerbock ist jetzt auf freiem Fuß. Sie ist nicht mehr die Frau, die nach der verlorenen Bundestagswahl nichts Eiligeres zu tun hatte, als der eigentlich für das bedeutungslose, aber repräsentative Amt vorgesehenen Diplomatin Helga Schmid den Posten bei der UN wegzuschnappen. Sie ist Deutschlands Frau auf der Weltbühne, eine "ehrliche Vermittlerin" und "einende Kraft", wie sie sich selbst beschrieben hat, die "mit offenem Ohr und offener Tür großen wie kleinen Mitgliedsstaaten dienen" will.

Die mächtigste Frau der Welt 

Ausgerechnet in Deutschland, das doch stolz darauf sein müsste, wieder eine mächtigste Frau der Welt nach Ursula von der Leyen stellen zu können, trifft Baerbocks Wandlung auf Ablehnung und offene Kritik. Bezeichnend für eine außer Rand und Band geratene Diskussion ist die Bildauswahl des eigentlich regierungssolidarischen Werbeportals T-Online. Die Redaktion der beliebtesten Nachrichtenseite der Deutschen verzichtet bei ihrer Berichterstattung darauf, das Gesicht der in New York so glücklichen früheren deutschen Außenministerin zu zeigen. Stattdessen präsentiert die Seite einen frivolen Blick auf Baerbocks Fesseln.

Undenkbar, wäre der einstige Star der Grünen ein Mann. Hier aber befeuern die Schlagzeilen über einen "neuen Look" und das "neue Leben" der 44-Jährigen aus Niedersachsen voyeuristische Neidgefühle. Wieso darf sie, was sie gar nicht kann? Was qualifiziert sie eigentlich? Wieso kann sie "ihr Leben in Deutschland hinter sich lassen" (Gala), obwohl hier angesichts der Krise jede Hand für den Wiederaufbau gebraucht wird? Welche Rolle spielte die neue Generation der grünen Spitzenfunktionäre bei der Verhinderung Baerbocks als neuer starker Frau in der Ära nach Habeck?

Alle Fragen bleiben vorerst offen 

Fragen, die im Raum stehen, auf absehbare Zeit aber offen bleiben werden. Mit dem Antritt ihres Amtes als Frühstücksdirektor in der 405 E 45th St hat sich Annalena vorerst aus der Öffentlichkeit verabschiedet. Das Tun und Lassen der im Jahresrhythmus wechselnden UN-Präsidenten hat die Weltgemeinschaft in den zurückliegenden 80 Jahren nie bewegt, dass es im 81. Jahr anders werden wird, könnte Annalena Baerbock nur verhindern, wenn sie wirklich spektakuläre Kurzfilme aus Übersee sendet. Mit ihrer Verweigerung von Mehrwegbecher und Elektroauto aber hat sie die größten Tabus bereits vor Amtsantritt gebrochen - nun bleiben ihr nur noch Besuche bei Lanz, Maischberger und Misoga.

Hilferuf von der Hinterbank: Auf einmal wollen sie reden

Katrin Göring-Eckhardt hat in der DDR selbst miterlebt, wie ein sprachloser Staat in seinen letzten Tagen darum flehte, man möge doch bitte mit ihm sprechen. 

Erinnern Sie sich noch? An den schweren Schlag, den Deutschlands Dicherlandschaft hinnehmen musste, als ihre stärkste Verteidigerin aus dem Amt als Bundestagspräsidentin weichen musste? Der Traum vom Parlamentspoeten platzte. Die Vorstellung, dass deutsche Politik sich als erste weltweit von Bänkelsängern, Trompetern und Dichtern bei ihrem Tun beraten lässt, blieb unvollendet.  

Mit Ach und Krach und drei traurigen Prozent der Stimmen gelang es der Mutter der Idee vom Zirkus Bundestag, wenigstens sich selbst im Hohen Haus zu halten. Dort sitzt Kathrin Göring-Eckhardt seit heute wie schon immer in den vergangenen 27 Jahren. Doch im Unterscheid zu früher ist sie einfache Abgeordnete, kein Amt wuchs ihr zu wie früher, als sie nahezu allein den Ostflügel der Grünen bildete und deshalb immer überaus gefragt war. 

Abgeschoben aufs Altenteil 

Auch in der Partei haben sich die Machtverhältnisse zu Ungunsten der 59-Jährigen verschoben. Die Generation der Banaszaks, Brandtners, Dröges, Haßelmanns und Adretschs hat sich der alten Führungsriege nahezu vollständig entledigt. Auch für die Frau aus Friedrichroda blieb nur noch ein Platz auf der Hinterbank des Parlaments. 

Göring-Eckhardt hat ihre neue Rolle angenommen. Eine sichere Rente in der Hinterhand läuft sie sich nicht wie andere warm für die nächste Runde aus dem grünen Karrierekarussel. Doch auch die heillose Flucht nach Übersee, um bei Donald Trump Schutz vor der zornigen deutschen Öffentlichkeit zu suchen, kommt für die Thüringerin nicht infrage. 

Die letzte Oppositionelle 

Die letzte ehemalige DDR-Oppositionelle im Bundestag, noch vor der späteren Klanzlerin Angela Merkel Mitglied der in der später mit der CDU zur "Allianz für Deutschland" verschmolzenen Kleinstpartei Demokratischer Aufbruch, mahnt jetzt nicht mehr stellvertretende zweithöchste repräsentantin des Staates. Sondern auf eigene Faust: Schwuppdiwupp hat sie inmitten der turbulenten Monate zwiwschen Ampel-Krise, Ampel-Aus, Wahlkampf, Neuwahl und Wechsel auf die harten Oppositionsbänke ein Buch geschrieben. 256 Seiten, 23,99 Euro - trotz Inflation und Depression ist Göring-Eckhardts Werk kaum teurer als Heiko Maas' unvergessener Klassiker "Aufstehen statt wegducken".

Inhaltlich schreibt die Ostdeutsche jedoch ein ganz neues Kapitel: Wo der Sozialdemokrat 2017, auf der Höhepunkt seiner Macht als deutscher Außenminister, eine "Strategie gegen rechts" (Maas) entwarf, die auf Ausgrenzung aller "Demagogen und Extremisten im Biedermannkostüm" setzt und als letztes Mittel zur Verteidigung der offenen Gesellschaft das von ihm selbst erfundene "Netzwerkdurchsetzungsgesetz" ins Spiel brachte, hat sich Katrin Göring-Eckhardt an eine Lektion aus der späten DDR-Zeit erinnert.

Als alles auseinanderfiel 

Als im Osten damals alles auseinanderfiel und selbst die führendsten Genossen sich gar keinen Rat mehr wussten, hatten sie sich plötzlich daran erinnert, dass "Miteinander zu reden und zu streiten wichtig ist", wie es Honecker-Nachfolger Egon Krenz am 18. Oktober 1989 in seiner Antrittsrede als neuer Generalsekretär der SED formulierte. Gerade der "Dialog", so Krenz, sei ein "notwendiger und ständiger Teil unserer politischen Kultur". Politik für die Menschen aller Klassen und Schichten lasse sich nur machen, "wenn man ihren Fleiß und ihre Lebenserfahrung, ihre Interessen und Bedürfnisse, ihr Urteilsvermögen, ihre Hinweise und ihre Sorgen täglich bewusst zur Kenntnis und zur Grundlage politischer Entscheidungen nimmt". 

Der Dialog, den die SED bis dahin eher als Monolog gepflegt hatte, "dient dem". Und im Dialog sieht nun auch Katrin Göring-Eckhardt den Ausweg aus dem Dilemma einer Zustandsbeschreibung, die just in diesen Tagen ihren 36. Geburtstag feiert. "In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört", hatten die Initiatoren des Neuen Forum in der DDR am 10. September 1989 in ihren Gründungsaufruf geschrieben. 

Weitverbreitete Verdrossenheit 

Belege dafür seien "die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische und zur massenhaften Auswanderung". Diese gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähme "die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft", man verzettele sich "in übelgelaunter Passivität" und der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Schichten funktioniere nur mangelhaft. "Auch die Kommunikation über die Situation und die Interessenlage ist gehemmt", klagten die Bürgerrechtler an, zu denen zu gehören Katrin Gröing-Eckhardt immer reklamiert hat. "Im privaten Kreis sagt jeder leichthin, wie seine Diagnose lautet und nennt die ihm wichtigsten Maßnahmen." Öffentlich aber wisse jeder, dass nicht alles gesagt werden dürfe.

Das Hauptanliegen des Aufrufs war das Einklagen eines demokratischen Dialogs "in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land". Das ist auch das Hauptanliegen von Katrin Göring-Eckhardts Buch, das nicht nur fordert "Deutschland, lass uns reden", sondern auch anbietet, seine Leser mitzunehmen auf "eine Reise durch die Seele der Republik", auf der "eine Politikerin die persönliche Begegnung mit den Bürger:innen" suche.

Ein Land, das einfach nicht funktioniert 

Und nicht irgendeine. Katrin Göring-Eckhardt steht mit ihrer ganzen Person für eine Politik, die jahrzehntelang agiert hat, als seien Politiker die Erziehungsbeauftragen ihrer Wählerinnen und Wähler. Die erste Frau im Reichstag, die nachweisen konnte, dass Nazis die Dresdner Frauenkirche zerstörten, schritt voran, als es galt eine Erklärung für das Ausbleiben des versprochenen "grünen Wirtschaftswunders" zu finden. Sie war es auch, die sich nicht scheute, den angesagten Aufbau des "Landes, das einfach funktioniert" mit einer vom "Tagesspiegel" veröffentlichten Talpredigt anzusagen. Und stattdessen mutig "für eine Kultur des Weniger" (Göring-Eckhardt) einzutreten. Weg mit der Wachstumslogik. Her mit "anderen Kriterien für ein gelingendes Leben". Sollen sie doch Brot essen.

Die Kultur des weniger setzt sich allmählich durch. Die Kaufkraft sinkt, die Wirtschaft lahmt, die Umsätze schwächeln. Für Katrin Göring-Eckhardt der rechte Moment, dem Angebot der SPD-Führung an die Bürgerinnen und Bürgern im Land, künftig besser zuzuhören, eine eigene Offerte entgegenzusetzen. Ohne Spiel eingepast in die neue grüne Strategie der Eckkneipengespräche und endlosen Bahnreisen durch ein "Land, das Reden muss" (Felix Banaszak), glaubt sie wie einst Egon Krenz, dass  "über die wichtigen Fragen nachgedacht und gesprochen werden" müsse. Und wie die SED-Genossen ganz am Ende der DDR spürt sie in sich einen dringenden Bedarf, mit allen zu reden - "miteinander zu reden, wirklich zuzuhören und dabei annehmen, dass der oder die andere auch Recht haben könnte".

Klare Grenzen 

Klingt nicht allzu grün und widerspricht der eingeschworenen Haltung der Partei, aus "demokratischer Verantwortung klare Grenzen" (Grüne) zu setzen. Katrin Göring-Eckhardt aber findet doch, das fehle "uns viel zu oft".  Ihr Angebot, nun doch "mit Deutschland "reden" zu wollen, hat sie in der Thüringer Allgemeinen vorgestellt: Fast ungefragt gibt Katrin Göring-Eckardt Auskunft über den Zustand des Landes, ihrer Partei und ihre Gefühle als "einfache Abgeordnete".

Die sind so anders nicht als früher im Olyp der Macht. "Ich habe immer auch Fachpolitik gemacht, bin in verschiedene Themen eingestiegen und habe auch jetzt wieder unterschiedliche Aufgaben, etwa als Sprecherin für Kultur und Medien meiner Fraktion im dazugehörigen Ausschuss oder auch im Europaausschuss", klärt sie über die Fülle ihrer Aufgaben auf. Sie habe zumindest "nicht das Gefühl, auf einer Hinterbank zu verschwinden". Lohn der Angst, lange um den Wiedereinzug in den Bundestag gebangt zu haben. Das aber sei nur so knapp gewesen und mit einem so ernüchternden Ergbnis gelungem weil sie "zur Wahl von Bodo Ramelow (Linke) mit der Erststimme aufgerufen haben, um eine demokratische Vertretung unseres Wahlkreises im Deutschen Bundestag sicherzustellen".

Am Ende siegt die Realität 

Politik besteht nicht nur aus der Erkenntnis, dass am Ende immer die Realität siegt, sondern daraus, sie bis dahin auch vor sich selbst verleugnen zu können. Katrin Göring-Eckhardt sieht sich mit irhem Ergebnis durchaus ausreichend demokratisch legitimiert. Ohne sie kein Bodo Ramelow im Parlament. "Ich wollte nicht riskieren, dass dieser Wahlkreis an die rechtsradikale AfD fällt", sagt sie.  die ihre eigenen Erfahrungen mit gesellschaftlicher Wut aufgeschrieben hat. In Dessau sei sie mal angeschrien worden. Ein andermal habe sie selbst Friedrich Merz von der CDU "Charakterschwäche" attestiert. 

Alle brüllen, niemand hört zu. Sie aber habe jetzt "bewusst mit Menschen gesprochen, die unterschiedliche politische und auch ganz andere Ansichten als ich haben", weil "die Gesellschaft das Miteinander-Sprechen verloren hat".

Blick auf die eigene Partei 

Wo? Und wodurch? Göring-Eckhartds Blick fällt offenbar unwillkürlich auf die eigenen Partei: "Es fällt vielen leichter, sich in der eigenen Blase zu verschließen, statt offen für andere Meinungen zu sein". Sie versuche neuerding, sich selbst zu sagen: "Der oder die andere kann auch recht haben". Als Politikerin mit Sendungsbewusstsein falle es schwer, zuzuhören. "Man hat die Sachen durchdacht, die man sagt. Man hat häufig sehr viele Informationen, die muss man haben, wenn man die Arbeit gut machen will." Und dann kommen einfache Leute mit ihrem Halbwissen. "In meinen Gesprächen zum Buch habe ich manchmal Dinge nicht gesagt, um nicht belehrend zu wirken."

Es hört ja auch auf der anderen Seite niemand mehr zu. Der erhobene Zeigefinger, nach der Sonnenblume das zwiete Parteilogo der Grünen, steht aus Sicht von fast 90 Prozent der Bürger für Abgehobenheit, Bevormundung und einem Drang, immer gerade das nach einem großen Plan verändern zu wollen, das wenigstens noch halbwegs funktioniert. Die "wunden Stellen unseres Landes" (Göring-Eckhardt) sehen aus der Berliner Draufsicht aus wie immer "Wärmepumpen und Gendern; Geflüchtete und alte weiße Männer; Kriegstreiber und Pazifisten, Schwurbler und die Woke-Kultur" - obwohl seit Jharen gesagt wird, was davon sehr gut und was gar nicht gut ist, fehlt den Menschen das Vertrauen, es so hinzunehmen.

"Feindbilder prägen unsere Debatten", fasst die Frau zusammen, die einmal Theologin hatte werden wollen, dann aber  Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde. Die Grünen hätten nie für Verbote gestanden, die kämen von CDU und CSU. 

Dienstag, 9. September 2025

Es war nicht alles Brecht: Konterevolution

La Taverne des chevalier teutonics Kümram
Deutsche Blicke richten sich ab und an auch auf das Ausland. Nach Jahren mit großem Interesse für Griechenland, Syrien und die USA ist derzeit Frankreich wichtig.  

Das freundliche Wesen der Franzosen ist mir fremd, 

ich war nie in Paris, nie in Nantes.

Ich bin ein feiger Finsterling,

Passfotos von mir taugen, leicht retuschiert, 

vortrefflich als Feindbild für alle Fälle.

 

Seit Wochen sieht man mich unterwegs,

unrasiert, ungewaschen, uneins mit mir selbst.

Ich rieche nach eiligen Vollbädern 

im Flur mit nichts als Fichtennadelspray.

 

Niemandem fühle ich mich verpflichtet,

nur fortwährend verfolgt.

Auf den Fersen sind mir Freischärler,

die fackeln nicht nur.

 

Ich fliehe ins Land des Frühlings,

im Frühling verzeichnet 

die Südhälfte der Erde eine Flut

von Ausreisen zum Zwecke

der Familienzusammenführung 

in den Brutgebieten.

 

Im Norden starten Migs und Mirage

und zwischen den Abfangjägern

flattern die Vögel, 

ihrer Zeit uneinholbar voraus.

 

Zur literaturhistorischen Reihe Es war nicht alles Brecht

Steuererhöhungen: Das letzte Wort ist noch nicht gebrochen

Steffi Jelinek vertraute der Steuersenkungsversprechen von Friedrich Merz
Steffi Jelinek vertraute der Steuersenkungsversprechen von Friedrich Merz. Jetzt ist sie enttäuscht.

Für Friedrich Merz ist die Antwort mit derselben Sicherheit längst gegeben, wie sie für seinen Koalitionspartner SPD noch offen ist. Steuererhöhungen wird es nicht geben, hat der Bundeskanzler sich vielfach öffentlich festgelegt. Angesichts der kurzen, aber überaus wendungsreichen Geschichte der politischen Verlässlichkeit des 69-Jährigen ein Fingerzeig darauf, dass alles genauso kommen könnte wie er es versprochen hat. Oder aber auch so anders wie es die deutsche Sozialdemokratie gern hätte.  

Merz weiß es auch nicht mehr 

Niemand weiß es nicht, vermutlich nicht einmal Friedrich Merz selbst. Dass Geld fehlt, ist klar, aber das war nie anders, so sehr die Bundesregierungen seit Konrad Adenauer auch an der Preisschraube für die Steuerbürger drehten. Von zu wenig Geld gibt es aus Sicht der Parteien immer zu viel. Für jeden Finanzminister gehört das Klagen und Barmen über viel zu geringe Steuereinnahmen ebenso zum kleinen Einmaleins der eigenen Arbeit wie die Aufforderung an die Kabinettskollegen, jeder müsse in seinem Ressort schauen, was sich wo einsparen lasse.

Erfolg hat das nie, weil die Taschen des Staates voller Löcher sind. Wo er geht und steht, hinterlässt er eine Spur aus verschwendeten Millionen Milliarden. Das meiste Geld verliert er wie jeder schlechte Haushälter, ohne sagen zu können, wo es eigentlich geblieben ist. Der Staat ist so groß, heute größer als jemals zuvor, dass es ihm um kleine Summe niemals geht, während er bei der Betrachtung der großen Ausgaben stets zum Schluss kommt, dass die sich nun einmal nicht vermeiden ließen. 

Es ist unerlässlich 

Niemand kann etwas dagegen machen, dass sie unerlässlich sind. Wer könnte wohl kaltherzig genug sein und Zuschüsse, Subventionen oder Beihilfen streichen, an die sich alle gewöhnt haben? Ganz ernsthaft ist in der deutschen Diskussion um das Bürgergeld, diesen missgebildeten Sohn der rückabgewickelten Hartz-IV-Reformen, die Rede davon, dass es doch nur ein paar zehntausend Empfänger seien, die sich weigerten, eine Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder ein gefördertes Arbeitsverhältniss aufzunehmen. 

In Berlin-Neukölln, der eigentlich Hauptstadt des Herzens des neuen Deutschland, erscheint zwar ein Drittel der Nothilfeempfänger nicht zu vereinbarten Terminen. Doch Kritik daran, dass die Steuerzahler deren dolce vita dennoch finanzieren, prallt an Prinzipien ab: Die Mehrheit erscheine doch immerhin.

Billionen sind Peanuts 

Genaues über den Rest weiß es niemand, denn die Bundesagentur für Arbeit führt sicherheitshalber keine Statistik über die Zahlen der Totalverweigerer. Ob es nun aber 15.000 sind oder 150.000 oder anderthalb Millionen - die Kosten für den Unterhalt der Betroffenen, argumentieren SPD, Linke und Grüne, machten allenfalls ein paar zehn- oder hundert Millionen aus. Gemessen an den Gesamtausgaben für soziale Belange in Höhe von 1.345 Billionen Euro jährlich sind das Peanuts. Selbst wenn allen Verweigerern alles gestrichen würde, stiege der Sozialhaushalt inflationsbedingt schneller weiter als die Einsparung ihn sinken lassen könnte.

Es ist unmöglich, das zu verhindert. Staatsausgaben sind eine Einbahnstraße. Dass Steuern und Abgaben immerfort steigen müssen, ist ein Naturgesetz. Seit Angela Merkel ihr Amt antrat, haben sich die Sozialausgaben verdoppelt. Auch die Steuereinnahmen stiegen von 452 Milliarden Euro im Jahr 2005 auf zuletzt fast 950 Milliarden Euro. Allein im vergangenen Jahr gelang ein Sprung um 3,5 Prozent - das durchschnittliche Steueraufkommen pro Kopf der Bevölkerung steig von ehemals 6.500 Euro auf nun 11.234 Euro.

Nur die Verschuldung hält Schritt 

Nur die Staatsverschuldung hielt damit halbwegs Schritt: Aus Verbindlichkeiten in Höhe von 1,5 Billionen Euro, die in den 60 Jahren zwischen 1950 und 2020 aufgelaufen waren, wurden durch die Umgehung der Schuldenbremse durch diverse Sondervermögen 2,5 Billionen.

Geld, von dem nicht nur Finanzminister Lars Klingbeil sagt, dass es hinten und vorn nicht reichen wird.  Doch woher nehmen und wem stehlen? Angesichts der aktuellen Wahlumfragen, in denen die Regierungsparteien so weit weg sind von einer Mehrheit wie die EU von der weltweiten Technologieführerschaft, kann sich die Koalition kein weiteres gebrochenes Versprechen leisten. 

Der unbeliebteste Kanzler 

Friedrich Merz ist auch so schon nach nicht einmal einem halben Jahr im Amt der unbeliebteste Kanzler aller Zeiten, ein Kunststück, das zu vollbringen dem Nachfolger des bis dahin unbeliebtesten Amtsinhabers Olaf Scholz nicht einmal seine eingeschworenen Feinde zugetraut hatten. Der Koalitionspartner SPD regiert unter einer aus alten Genossen der Ampel-Ära notdürftig neugebildeten Führung weiter im Selbstmordmodus: In einigen ostdeutschen Bundesländern ist sie einstellig, auch in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg gleich die schmale, beinahe durchsichtige Silhouette der einstigen Volkspartei verblüffend der der FDP der Jahre nach 2022. 

Niemand hat die Absicht, die Steuern zu erhöhen. Aber nach Lage der Dinge wird nichts anderes übrigbleiben. Bärbel Bas, die frühere Bundestagspräsidentin, der ihre einst genossene Ausbildung zur Bürogehilfin den Nimbus einer echten Sozialdemokratin aus dem Volk verschafft hat, spricht denn auch lieber von "Zumutungen", wenn sie die Notwendigkeit erörtert, irgendwie über die nächste Zeit zu kommen. 

"Neue Grundsicherung" 

Die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin hat nach Monaten in Klausur die Bezeichnung "Neue Grundsicherung" für den ungestörten Weiterbetrieb eines Systems vorgeschlagen, dessen Begünstigte nach Angaben der Berliner "Morgenpost" zur "Hälfte inzwischen Nicht-Deutsche" sind. Ein Zustand, der nicht einmal der deutschen Sozialdemokratie wirklich gefällt, weil die verbliebenen Teile der alten Basis langsam das Verständnis verlieren. Den sie aber leider Gottes im Unterschied zum Namen des größten Alimentationssystems der Welt auch nicht ändern kann. 

Wie seinerzeit der Teilvorgänger SED steht die große stolze "Arbeiterpartei" (Willy Brandt) für das Konzept eines rundum betreuten Lebens. Aus der den Parteien vom Grundgesetz vorgegeben Aufgabe, an der Willensbildung mitzuwirken", hat die SPD eigenständig die gemacht, "das tägliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu regeln". So, glauben sie in der Partei, die 21 der letzten 25 Jahre Regierungsverantwortung trug, "sieht es das Grundgesetz vor". Und so wäre auch eine Sozialpolitik begründbar, die allen alles nimmt, auf dass es die Parteiführer anschließend als Wohltaten unters Volk streuen.

Ein rundum betreutes Leben 

Für diesen Service muss der Bürger zahlen. Und ist er nicht willig, dann wird Bärbel Bas die "Zumutungen gerecht verteilen". Wenn allen etwas genommen wird, damit der Staat mehr hat, darf sich niemand beschweren - das ist aus dem Versprechen der "Steuersenkungen für 95 Prozent" geworden. Um Tricks und Kniffe, an das Geld der Leute zu kommen, ist die Arbeitsministerin so wenig verlegen wie es ihre Vorgänger dabei waren, die Milliarden wieder loszuwerden. 

Mit der "Anpassung" der Beitragsbemessungsgrenze hat Bas eine Möglichkeit gefunden, die Reichen, Wohlhabenden und Überverdiener zur Kasse zu bitten, die bei der deutschen Sozialdemokratie vor einigen Wochen noch  als "hart arbeitende Mitte" gerühmt und mit haltlosen Zusagen anstehender Erleichterungen zur Stimmabgabe verführen wollte. 

Immer mehr für den Staat 

Die Anpassung ist eigentlich ein Routinemanöver. Der laufenden Geldentwertung folgend, beansprucht der Staat einen beständig wachsenden Anteil der Erwerbseinkommen als beitragspflichtig. Vor 25 Jahren noch wurden Rentenbeiträge auf nur 4.397 Euro des Monatseinkommens erhoben, bei der Krankenversicherung waren gar nur 3.298 Euro beitragspflichtig. Das hat sich deutlich geändert: Für die Rentenversicherung liegt die Bemessungsgrenze heute bei 8.050 Euro monatlich, bei Kranken- und Pflegeversicherung bei 5.512,50 Euro. 

Der numerische Anstieg liegt bei 67 und 83 Prozent - keine Bundesregierung hat es versäumt, wenigstens die allgemeine Inflationsrate auf den beitragspflichtigen Einkommensanteil aufzuschlagen. Bärbel Bas geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie will die Lohnentwicklung zum Maßstab ihres Versuches nehmen, die Einnahmen unauffällig, aber beträchtlich zu erhöhen. 

Ein gewieftes Manöver gerade vor dem Hintergrund einer anderen Kenngröße, bei der im zurückliegenden Vierteljahrhundert das Gegenteil passierte: Der sogenannte "Sparerfreibetrag", der den Anteil an Zins- und Kapitaleinkünften beschreibt, bei dem der Finanzminister darauf verzichtet, ein Viertel plus Solidarzuschlag für sich zu vereinnahmen, ist trotz einer Geldentwertung um etwa 50 bis 70 Prozent seit dem Jahr 2000 nicht etwa gestiegen, sondern um ein Drittel gesenkt worden. 

Nur beim Kassieren schnell 

Wo er nehmen kann, ist der Staat schnell mit der Kasse bei der Hand. Wo er geben müsste - so nennen Politiker es, wenn sie zumindest nicht noch mehr nehmen - lässt er sich Zeit und Zeit und noch mehr Zeit. Jeder einzelne Augenblick ist bares Geld: Auf Gutverdiener würden mit den neuen Beitragsbemessungsgrenzen ohnehin höhere Abgabe von mehreren hundert Euro im Jahr warten. Die Bas-Erhöhung, doppelt so kräftig wie in der Vergangenheit üblich, lässt die hart arbeitende Mitte noch ein wenig mehr bluten.

Und das letzte Wort ist noch nicht gebrochen. Der an eine Bauernbühne erinnernde Streit zwischen den Koalitionspartnern über "Reformen"  mit oder ohne Kürzungen und Steuererhöhungen ist aller Erfahrung nach nur das Vorspiel für einen neuen großen Wurf. Unbeliebt und ohne Zukunft wie sie sind, könnten Merz und Klingbeil auch noch "ein paar Steuererhöhungsfantasien" (Wolfgang Kubicki) in die Realität zerren. 

Abgaben auf Abgaben 

Vielleicht wird es eine Mehrwertsteuererhöhung? Vielleicht ein Verteidigungssoli? Eine Luftverteidigungsabgabe wäre hübsch, eine Steuer auf die Grundsteuer ertragreich und dass Abgaben Beiträge hierzulande bisher nicht einmal mit dem niedrigen Umsatzsteuersatz belegt werden, spricht für eine sehr begrenzte Fantasie im Finanzministerium. 

Ist der Ruf erst ruiniert, kassiert es sich erst ungeniert: Merz und Klingbeil haben beide nichts mehr zu verlieren, zu gewinnen haben sie auch nichts. Sie können die Weichen für lange Zeit stellen: Die Schaumweinsteuer, von Kaiser Wilhelm 1902 erfunden, um Deutschland eine große Flotte bauen zu können, wird heute noch eingetrieben. Und den Solidarzuschlag, 1991 auf ein Jahr befristet, zahlt bis heute jeder Rentner, dessen Spargroschen mehr abwerfen als die zuletzt auf 1.000 Euro festgelegte Steuerfreigrenze für Kapitalerträge zahlungsfrei gestattet.

1999, der halbe Liter Bier in der Kneipe kostete 1,50 oder zwei Euro, hatte sie noch bei 3.000 Euro gelegen. 

Montag, 8. September 2025

DIW sieht Aufschwung: Jetzt wird es zappenduster

Aufschwung DIW Arbeitslose Beamte
Auch im kommenden Jahr soll der Aufschwung wieder kommen.

Es läuft nicht gut, schon lange nicht. Im dritten Jahr steckt Deutschland in der Rezession, die Corona-Nachholeffekte herausgerechnet ist es gar schon das fünfte. Der Stimmungsumschwung, der Friedrich Merz im Wahlkampf für "den Sommer" versprochen hatte, ist ausgeblieben wie die Auftragswelle, die für die Zeit nach der Beilegung des Zollstreits mit den USA erwartet worden war. Die Arbeitslosenzahlen steigen. Nur die härtesten Realitätsverweigerer sehen die die Welt noch rosarot. Zuletzt senkten die Wirtschaftsforschungsinstitute reihenweise ihre Prognosen - wie ein Mann sehen Ifo, IfW, RWI und IWH "alarmierende" (Focus) Zahlen.  

Maximal Minimalwachstum 

Allenfalls ein minimales Wachstum sei noch möglich, vielleicht 0,2 Prozent, vielleicht dann noch weniger. Im Millimeterbereich bewegen sich alle Vorhersagen auf Kaffeesatzniveau - erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass alles geschwindelt und beschönigt war. Ist das Thema beerdigt und die verantwortliche Regierung vom Hof gejagt, wird aus "Schwächeln" dann doch das gefürchtete Schrumpfen. Und wie von der Leine gelassen benutzen selbst die größten Adressen das so lange peinlich vermiedene R-Wort.

Schlimm genug, nicht nur für die neue Bundesregierung, die Bürgerinnen und Bürger und das Renommee der Leitmedien, die zwar tagesaktuell spüren, wie sich die wirtschaftliche Depression auf ihre Anzeigenumsätze auswirkt. Die daraus resultierende Erkenntnis aber über drei Jahre nicht öffentlich thematisierten, um die gesellschaftliche Depression nicht noch zu befeuern.

"Nach unten korrigiert" 

Das ist inzwischen anders. Das Wachstum wird nicht mehr nur zärtlich "nach unten korrigiert" (Taz), sondern mit dem R-Wort gearbeitet. Große Sorgen machen sich Deutschlands Redaktionen nicht mehr nur um die Konjunktur in den USA, in China und Argentinien. Auch Deutschland wird jetzt zum Sorgenkind, denn das Jahr für Jahr von jeder Regierung für nächstes Jahr versprochene anspringende Wachstum könnte sogar auf lange Sicht ausbleiben.

Darauf deutet eine Vorhersage des für die Vielzahl von bizarren Fehlprognosen berühmte Forschungsinstitut DIW hin. Das vom Boomer-Steuer-Erfinder Marcel Fratzscher geleitete Haus sieht einen "Aufschwung ab 2026" kommen - nur noch "ein Jahr Flaute" (Spiegel), dann werde das Bruttoinlandsprodukt deutlich zulegen, rechnet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vor. Nach dem Miniwachstum von allenfalls 0,2 Prozent in diesem Jahr springe das Wachstum im kommenden Jahr auf 1,7 Prozent, für 2027 rechnet das DIW dann sogar mit einem Anstieg auf 1,8 Prozent.

Weichen sind schon wieder gestellt 

"Die Bundesregierung hat die Weichen für den Aufschwung gestellt", sagte DIW-Konjunkturchefin Geraldine Dany-Knedlik, die die mit Hilfe der Sonderschulden für Infrastruktur und Verteidigung geplanten Ausgabenanstieg als Auslöser für einen "einsetzende Belebung der Binnenwirtschaft" sieht. Da die Exporte wegen der amerikanischen Zollpolitik nicht in Schwung kämen, seien es "binnenwirtschaftliche Impulse", die "die Konjunktur anschieben" würden. Neue Schulden für neuen Wohlstand im neuen Jahr - wieder einmal. Nach Wumms, Doppelwumms und Wachstumsturbo nun aber wirklich. 

Allerdings ist ein schlechterer Kronzeuge als das Berliner Institut kaum vorstellbar. Wie sein Chef Marcel Fratzscher gilt das DIW unter Kennern als unübertroffener Kontraindikator. Fratzschers Begeisterung für eine hohe Inflation als Treiber der grünen Inflation ist Legende, seine Vorhersage, viele der Neuankömmlinge der Jahre nach 2015 würden einst die Renten der Babyboomer zahlen, konnte der 54-jährige Ökonom später selbst mit Vorschlägen zur Finanzierung der Sanierung der maroden Infrastruktur durch einen renditestarken "Bürgerfonds" nicht toppen.

Seniorensondersteuer und Rentnerpflichtjahr 

Fratzscher hatte daraufhin mit einem Vorschlag für eine Sondersteuer für Ältere namens "Boomer-Soli" und dem Vorschlag nachgelegt, die zahlungspflichtige Zielgruppe solle nach Beginn ihres Ruhestandes parallel ein Rentnerpflichtjahr ableisten müssen. Um den privaten Konsum als einzig absehbare Stütze der Wirtschaft zu stärken, hat er jetzt mit Vorschlägen nachgelegt, Ausgaben zu senken, aber nicht bei Bürgergeldempfängern oder Geflüchteten, sogenannte klimaschädliche Subventionen abzuschaffen,  "große Erbschaften oder Immobiliengewinne" höher zu besteuern und auch andere "große und passive Vermögen" stärker zur Finanzierung der notwendigen Staatsausgaben heranzuziehen. 

Gesetzgeber, Wächter und Richter: Das Melk-Kartell

Ursula von der Leyen melkt Google Kümram
Ursula von der Leyen beim Mäusemelken. Zeichn ung: Kümram, Buntstift auf Karton


Es ist schon lange Zeit die einzige Art, in der das alte Europa von den neuen digitalen Technologien profitiert. Ohne eigene Internet-Großkonzerne, ohne KI-Giganten und Hightechschmieden nutzt die EU-Kommission die unumstrittene Weltmarktführerschaft der Wertegemeinschaft der immer noch 27 Mitgliedsstaaten im Bereich Regulierung, Bürokratisierung und Wettbewerbsbehinderung, um über die Verhängung von Strafen für sogenannte Wettbewerbsverstöße Milliarden einzunehmen. 

Die Einnahmen fließen in den Haushalt der EU - das rigide Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft wird dadurch zum sprudelnden Einnahmequell.

Theoretisch lukrativ 

Allerdings nur theoretisch. Obwohl die EU-Kommission nach einem Urteil Strafzahlungen innerhalb von 90 Tagen nach Benachrichtigung verlangt, hat noch nie ein US-Konzern wirklich Geld überwiesen. So groß die Schlagzeilen sind, die die Kommission produziert, wenn sie Bußgelder verhängt, so still und leise bleibt Brüssel in den Jahren danach.

Gegen Google wurde bereits 2017 eine Strafe in Höhe von 2,42 Milliarden Euro verhängt, 2018 folgte eine in Höhe von 4,34 Milliarden Euro und eben erst folgte eine aus rätselhaften Gründen als "Rekordstrafe" bezeichnete erneute Verurteilung in Höhe von 2,95 Milliarden Euro. Gerüchten zufolge soll Google einen unbekannt hohen Teil der Strafe von 2017 unter Vorbehalt gezahlt. Gerichtsverfahren in diesem Fall aber laufen noch, ebenso wie in den Fällen, in denen Apple und Meta bestraft wurden. 

Endlose Prozesse


Die EU-Kommission hält sich mit Nachrichten über die Vollstreckung ihrer Strafen lieber bedeckt. Zu peinlich wäre es, würde die Öffentlichkeit erfahren, dass die mit großem Tamtam angekündigten Verurteilungen am Ende ebenso enden wie tausende von Vertragsverletzungsverfahren gegen eidbrüchige Mitgliedsstaaten, aus denen in der Regel endlose Prozesse werden, an deren Ende eine zwielichtige Beilegung des Konfliktes anstelle der vorher angekündigten Geldbußen steht.

In allen Fällen agiert die EU allerdings genauso wie sie es Google im aktuellen Strafverfahren vorwirft: Der US-Konzern habe "eigene Online-Werbedienstleistungen zum Nachteil konkurrierender Anbieter bevorzugt", teilte die Brüsseler Behörde mit. Die Untersuchung der Kommission habe ergeben, dass Google eine marktbeherrschende Stellung einnehme und sie "seit 2014" missbraucht habe, um "seinen eigenen Produkten einen Vorteil zu verschaffen". 

Ein Verstoß gegen Artikel 102 des "Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union", der das Ziel hat, den Wettbewerb im Binnenmarkt zu erhalten, damit Verbraucher und Wirtschaft davon profitieren.

Die EU ist gleicher 

Die Kurven der Spaltung.

Ein Artikel, gegen die EU-Kommission selbst Tag für Tag verstößt - und das nicht etwa erst seit 2014. Europas technologische Rückständigkeit bezeugt es: Durch eine zentristische Planpolitik von oben, die den Wettbewerb zwischen verschiedenen Ideen, Methoden und Ansätzen mehr und mehr aushebelt, ist aus dem früheren Hochtechnologiestandort Europa ein Industriemuseum geworden. 

Bei der Arbeitsproduktivität, den Wachstumsraten und dem Wohlstand haben die Vereinigten Staaten die EU abhängt. Selbst der frühere EZB-Chef Mario Draghi musste in einem nach ihm benannten Bericht im vergangenen Jahr eingestehen, dass das "verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen sei wie in der EU und die europäischen Haushalte den Preis in Form eines entgangenen Lebensstandards gezahlt" hätten.

Der Preis einer Politik, die wirtschaftliche Dynamik mit von Brüssel verordneten Richtlinien und Regeln wie dem KI-Gesetz, Digital Markets Act und Digital Service Act erstickt. Und die daraus erwachsenden Wettbewerbsnachteile auszugleichen versucht, indem sie die erfolgreiche Konkurrenz über Strafzahlungen zu melken versucht. Jeder einzelne Fall wirft ein Schlaglicht auf die einzigartige Rolle der EU-Kommission: Sie ist es, die die Richtlinien erlässt. Sie überwacht deren Einhaltung. Sie ermittelt zu vermeintlichen verstößen. Sie sanktioniert von ihr festgestellte Verletzungen der Vorgaben. 

Von der Leyen füttert X 

Allerdings nicht bei sich selbst und nicht bei ihren führenden Repräsentanten. Bis heute ist Kommissionschefin Ursula von der Leyen wie viele andere Kommissare beispielweise bei Elon Musks Hassportal X vertreten. Von der Leyen sorgt damit für die Produktion von Daten, die in die USA übermittelt und dort verarbeitet werden. Obwohl der Europäische Gerichtshof das Schutzniveaus für Daten von EU-Bürgen in den USA nicht für angemessen hält, weil das - inzwischen vom ähnlich laveden EU-US Data Privacy Framework-Abkommen abgelöste Privacy Shield-Abkommen keinen ausreichenden Schutz gegenüber nachrichtendienstlichen Aufforderungen zur Herausgabe von personenbezogenen Daten von EU-Bürgern bietet. 

Die EU-Kommission ist Gesetzgeber, Wächter, Staatsanwalt und Richter in Personalunion, ein vielarmiger Krake, der in seinem Kampf gegen Kartellverstöße selbst als Kartell arbeitet. Sie erlässt verbindliche Vorschriften, die Kartelle und den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verbieten. Aus ihrer marktbeherrschenden Stellung heraus prüft sie, ob Unternehmen diese Regeln einhalten. Ihre Organe führen die Untersuchungen. Und sie fungiert als Sanktionsinstanz, die Bußgelder in Milliardenhöhe verhängt oder - wie jetzt im neuerlichen Fall Google - gar strukturelle Maßnahmen wie Zerschlagungen androht.

EU in einer Dreifachrolle 

Diese Dreifachrolle – Gesetzgeber, Ermittler und Richter – ist einzigartig. Im Google-Adtech-Verfahren, das 2021 begann, zeigt sich dieses Zusammenspiel exemplarisch. Die Kommission warf Google vor, seine marktbeherrschende Stellung im Online-Werbemarkt zu missbrauchen, indem es gleichzeitig Nutzerdaten sammelt, Werbeflächen verkauft und als Vermittler auftritt. Daraus erwachse ein Interessenkonflikt, so die Behörde, der automatisch zu einer Wettbewerbsverzerrung führe. 

Für nachgewiesen hält die Kommission, dass Google seine eigenen Dienste gegenüber Konkurrenten bevorzuge. Binnen innerhalb von 60 Tagen müsse das Unternehmen deshalb einen Plan vorlegen, wie die Missstände abgestellt werden. Anderenfalls droht die Kommission dem US-Konzern mit einer Zerschlagung durch eine behördlich verordnete Abspaltung des Online-Werbegeschäfts. 

Eine digitale Kriegserklärung 

Eine digitale Kriegserklärung, abgegeben in einem Moment, in dem es schien, als hätten sich die kalten Technologiekrieger in Brüssel, Berlin  und Paris eines Besseren besonnen. Von ihrer vor einigen Monaten noch selbstbewusst heraustrompeteten Forderung, US-Konzerne müssten sich von Brüssel aus Grenzen der Meinungsfreiheit zuweisen lassen, was zuletzt nichts mehr zu hören. Das als Präzedenzfall zur Durchsetzung des Digital Service Act gedachte Strafverfahren gegen X verschwand lautlos. Die EU-Forderung, Musk müsse die X-Alghorythmen offenlegen, um ein Verbot seiner Plattform zu verhindern, wurde nicht mehr wiederholt.

Die gegen Google verhängte Strafe aber zeigt, dass die Kommission keineswegs vorhat, ihre Befugnisse nicht zu überdehnen. In ihrer Dreifachrolle als Behörde, die Regeln setzt, gleichzeitig ihre Einhaltung überwacht und Sanktionen verhängt, unterliegt die EU-Zentrale nur einer nachgelagerten Prüfung durch Gerichte. Deren Urteile fallen Jahre oder sogar Jahrzehnte später

Verfahren dauern Jahrzehnte 

Die Verfahren sind damit aber meist immer noch nicht beendet. Im Fall Apple kam die EU-Kommission 2016 zum Ergebnis, dass Irland dem Unternehmen in den Jahren von 1991 bis 2014 unrechtmäßige Steuervergünstigungen von bis zu 13 Milliarden Euro gewährt und Apple hierdurch einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil erhalten habe. Die irische Regierung wollte das Geld nicht. Sie musste es aber schließlich doch nehmen - 34 Jahre nach Beginn der Vereinbarung mit der Regierung in Dublin.

Die EU nimmt das als Beweis dafür, dass ihre zentrale Dreifachrolle Gesetzgeber, Ermittler, Ankläger und Gericht notwendig ist, um den digitalen Binnenmarkt fair zu gestalten und die Interessen kleinerer Akteure zu schützen. Die technologische Rückständigkeit der Gemeinschaft, die vom digitalen Fortschritt nur noch durch verhängte Milliardenstrafen profitiert, belegt das Gegenteil. 

Europa selbst hat nichts 

Während die USA Heimat von Innovationsführern wie Google, Apple oder Meta sind, hat Europa nichts Vergleichbares zu bieten. Mangels eigener Tech-Giganten müssen hier Steuergelder eingesetzt werden, um wenigstens so tu tun, als bleibe man auf Augenhöhe. Auch Europas "schnellster Supercomputer" (Deutschlandfunk) im Kernforschungszentrum Jülich liegt nur bei einer Bterachtung mit zugekniffenen Augen weltweit auf Platz 4, hinter drei Rechnern in den USA. In Wirklichkeit ist es eher Platz 14 oder gar Platz 66.

Vom eingeschlagegen Pfad aber weicht EUropa nicht ab. Auch wenn die Digitalsteuer, mit der die US-Tech-Konzerne noch Anfang des Jahres zur Kasse gebeten werden sollten, aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der regierung in Washington inzwischen im Orkus ewigen Vergessens verschwunden wurde, bietet die Unzahl strenger und detaillierter EU-Vorschriften für alles jederzeit die Möglichkeit, etwas von den Gewinnen dieser Konzerne abzuschöpfen. Auch die Strafen sind nichts anderes als eine Art Steuer auf den Erfolg der US-Tech-Branche - bis heute haben sie in keinem Bereich ihren vermeintlichen Zweck nachgewiesen, Monopole eindämmen und kleineren Unternehmen Chancen eröffnen zu können.

Brandmauern zur Zukunft 

Stattdessen schmälern sie Innovationsanreize, sie verhindern, dass neue Entwicklungen den Verbrauchern in der EU zugänglich gemacht werden und technologische Sprünge alltagstauglich werden. Die Behauptung der Kommission, sie wolle die Marktmacht der US-Konzerne eingrenzen und europäischen Akteuren Raum zur Entfaltung geben, wird von der Wirklichkeit konterkariert: Seit 2017 hat die EU Bußgelder in Höhe von über elf Milliarden Euro gegen US-Tech-Konzerne verhängt. Die Dominanz der amerikanischen Digitalriesen aber ist in dieser Zeit nur noch größer geworden. 

Ursula von der Leyen spricht vom "Tech Leadership" der EU. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Die wachsende Frustration der EU darüber, dass ihre Vorgaben zur Innovationsbremse werden und ihre Weigerung, den fragmentierten EU-Digitalmarkt wirklich zu öffnen, füjrt zu Urteilen wie dem aktuellen gegen Google. 

Der Schaden, der daraus erwächst, wird größer sein als jeder - sehr fernliegende - mögliche finanzielle Nutzen. Das haben schon die ersten Reaktionen aus den USA gezeigt.

Sonntag, 7. September 2025

Nina wer?: Die Farblose

Nina Warken Bundesgesundheitsministerin
Nina Wer hat als neue Bundesgesundheitsministerin die Nachfolge des Königs der Talkshows angetreten. Abb: Kümram, Buntstift auf Röntgenfilm

Er ging nicht mit einem Knall und lautem Schimpfen wie andere. Er verschwand auch nicht ins amerikanische Exil wie die früheren grünen Stars Annalena Baerbock und Robert Habeck. Im Gegensatz zu anderen Spitzenkräften der Ampel-Koalition, die ihr Heil in der Flucht ins faschistische Amerika suchen, war sich Prof. Karl Lauterbach nicht zu schade, auch jenseits des Rampenlichtes weiterhin Kärrnerarbeit zu leisten.  

Durch Zufall ins Amt 

Stehenbleiben, wenn andere fliehen. Aufrecht bleiben, wenn sich die Kollegen verschreckt von der Wirklichkeit wegducken. Das ist Karl Lauterbach, der ganz am Ende seiner langen politischen Laufbahn durch einen pandemischen Zufall in ein Amt gespült worden war, das noch Tage vor dem Ausbruch von Wuhan unerreichbar gewesen war. Niemand kannte den Hinterbänkler, einen kleingewachsenen, schmächtigen Mann mit so schlechten Zähnen, dass sie auf Besucher aus zivilisierten Staaten wie ein Aushängeschild des maladen deutschen Gesundheitswesens wirken. Lauterbach nutze die Chance, die er nicht hatte. Er sprang in die Lücke, als die Nation dringend einen Warner, Mahner und Maßnahmenforderer suchte.

Der frühere Christdemokrat, in der ersten Phase seiner politischen Laufbahn bekannt geworden durch seine demonstrativ gepflegte Vorliebe für Fliegen, war plötzlich überall, in jedem Fernsehsessel saß er und klärte auf. Kein Weg führte an ihm vorbei, als es vorüber war. Lauterbach wurde Gesundheitsminister. Er blieb omnipräsent, ein Stachel im Fleisch der gesellschaftlichen Mitte, die sich nach Entwarnung und Versöhnung sehnte. So schnell er aufgestiegen war, so rasch endete seine Ära. Lauterbach litt, aber er zeterte nur leise. Und nach dem Ende der Fortschrittskoalition trat er bescheiden in die zweite Reihe. 

Dreh- und Angelpunkt 

Statt sich für die ganz großen Fragen ins Zeug zulegen und Pandemievorsorge, Krankenhauslandschaft und Hitzeschutz zu reformieren, arbeitet sich Karl Lauterbach seit der Neuordnung der Machtlandschaft an der Weltraumfrage ab. Als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Forschung, Technologie, Raumfahrt und Technikfolgenabschätzung ist der 62-Jährige von seiner Partei zum Dreh- und Angelpunkt der deutschen Raumfahrtstrategie bestimmt worden. Acht Jahrzehnte nach Wernher von Braun zielt die darauf, das berühmte Aggregat 2 eines Tages wieder in die Luft zu bekommen. Karl Lauterbach hat aber noch mehr Aufgaben. Auch KI und Quantencomputerisierung gehen über seinen Tisch - eine Rolle, die der Mann aus Düren leidenschaftlich angenommen hat. "Diese Bereiche bestimmen unsere Zukunft", hat er bei seinem Amtsantritt gejubelt.

Neustart des nächsten Projektes 

Der "Start des eigentlichen Projektes" war beendet. Ein Neustart stand an. Lauterbach, im zurückliegenden Jahrzehnt Deutschlands erfolgreichster Talkshowgast, hadert nicht mit dem Verlust an Macht und Einfluss. Er macht das Beste daraus und schafft es mit seiner grundsympathischen Art auch ohne herausgehobenes Amt weiterhin gelegentlich auf die Geschwätzcouch. Bei "Maischberger" haben sie ihn noch auf der Stammgastliste, auch bei "Chez Krömer" durfte der "König der Talkshows" (FAZ) zeigen, was er noch draufhat.

Lauterbach weiß, dass man sich selbst im Gespräch halten muss, weil es sonst sicher kein anderer tut. Als Querschnittsgelehrter hat der studierte Arzt und Gesundheitsökonom beim amerikanischen Hassportal X eine Plattform gefunden, auf der mehr als eine Million Menschen an seinen Lippen hängt. Lauterbach predigt dort nicht mehr Seuchenschutz, Impfpflicht und den Aufbau von Kälteinseln, sondern Ressentiments gegen den amerikanischen Verbündeten, Skepsis gegenüber dem von seiner früheren Parteikollegin Ursula von der Leyen beschworenen tech leadership der EU und Warnungen vor "gramweise Salz"

Alles ist seine Kernkompetenz 

Auch die Energieversorgung gehört neuerdings zu Lauterbachs Kernkompetenzen: "Wenn jetzt zu viele Gaskraftwerke gebaut werden, statt Batteriespeicher, wird man doppelt zahlen müssen", hat er errechnet. Denn "Deutschland allein kann nicht verhindern, dass CO2 immer teurer wird - zum Glück für unsere Kinder." Die Botschaft ist klar, ihr Inhalt dunkel: "Wir waren Pioniere", schreibt Karl Lauterbach gedankenschwer, "jetzt treibt uns die AfD…"

Das liegt auch daran, dass nach ihm nichts kam. Die Neue im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) heißt Nina Warken, sie ist seit mehr als einem Jahrzehnt Berufspolitikerin, hatte es aber trotz einer multiplen Spezialisierung auf Inneres, Heimat. Verbraucherschutz, Asylrecht, Zivil- und Katastrophenschutz sowie Ehrenamt geschafft, ein unbeschriebenes Blatt zu bleiben. Die Chefin der Frauenunion, frühere Leiterin der Wahlrechtskommission und ehemalige Obfrau der CDU/CSU-Fraktion im NSA-Untersuchungsausschuss kam zur Lauterbach-Nachfolge wie die Jungfrau zum Kind. 

Aus dem Hut gezaubert 

Bis Friedrich Merz die 46-Jährige aus mehrfachen Proporzgründen unversehens aus dem Hut zauberte, war Warken nie als Gesundheitspolitikerin aufgefallen - ausgenommen das eine Mal, als sie die Ampelregierung aufforderte, endlich ein Gesetz vorzulegen, "das regelt, wann eine Impfpflicht eingeführt werden soll" (Warken). Mehr Äußerungen zu Gesundheitsthemen sind von der Nina Warken der Vor-Amtszeit nicht überliefert.

Wann, nicht ob. Auch Nina Warken wusste damals, dass es keine Alternative zur Durchimpfung gibt. In einem Kabinett, in dem ein früherer Gefreiter als Heerführer der bald "stärksten Armee Europas" (Merz) amtiert, ein Politikwissenschaftler ohne Berufserfahrung den größten Haushalt aller Zeiten verantwortet und ein Bankkaufmann den Klimaschutz und die nukleare Sicherheit vorantreibt, weil schließlich auch irgendwo ein Ostdeutscher bedacht werden musste, ist Warken damit fast schon überqualifiziert.

Nina wer? 

Doch genützt hat dieser Trumpf der aus Bad Mergentheim stammenden Generalsekretärin der CDU Baden-Württemberg bisher nichts. Auch vier Monate nach ihrem Amtsantritt ist Warken eine aus Merz' Ministerriege, der kein Platz im Ranking der beliebtesten Politiker vergönnt ist. Der emeritierte Karl Lauterbach hatte im zurückliegenden halben Jahr mehr Talkshowauftritte als sie. Selbst Oppositionssirenen wie die schrille Ostmulle Heidi Reichinnek und blasse Regierungsbeamtinnengenossen wie Bärbel Bas sind draußen im Land bekannter als die Frau, die in den großen Lauterbach-Stiefeln steht. Ein Kurzauftritt im "Morgenmagazin" war bisher der größte Coup ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Der Erfolg ist übersehbar: Warkens Name kommt in keiner Kennste-den-Liste vor.

Doch Nina Warken ist mit diesem Problem nicht allein. Auch die Namen ihrer Kabinettskollegen  Karsten Wildberger, Stefanie Hubig und Alois Rainer hat draußen im Lande noch nie jemand gehört. Dass eine Frau namens Reem Alabali Radovan ein Ministerium mit dem Titel Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verantwortet und Patrick Schnieder für den Verkehr zuständig ist, gilt als Berlins bestgehütetstes Geheimnis. 

Grau ist der Auftritt der meisten neuen Minister*innen. Mit Baerbock, Habeck, Lindner und Lauterbach ist alles zirzensische, glamouröse und brusttrommelnde aus dem politischen Berlin gewichen wie ein Morgennebel. Namen wie Schall und Rauch regieren, Gesichter, denen jeder Wiedererkennungswert fehlt. Zudem haben die Neuen die Gebetsbücher ihrer Vorgänger geerbt - es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Predigten vorzutragen, die auch schon die lange Riege der heute meistenteils vergessenen Merkelminister und die Mitglieder des Scholzschen Spektakelkabinetts ohne Unterlass beteten.

Neue Warnungen vor alten Problemen 

Die Ausgaben steigen stärker als die Einnahmen, diesen Satz hat natürlich auch Nina Warken im Programm. Sie aber wolle die Kassenbeiträge ebenso stabil halten wie alle ihre Vorgänger. Dazu seien wie immer "Reformen" notwendig, denn ohne sei dieses Versprechen wieder nicht einlösbar. Auch der Halbjahres-Überschuss der gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 2,8 Milliarden Euro dürfe "nicht falsch interpretiert werden, er ist nur eine Momentaufnahme", mahnt sie. Für das kommende Jahr sei absehbar, dass die Beitragssätze "wieder unter Druck geraten" - ein zarte Umschreibung für den Umstand, dass auch ein Jahr nach Lauterbachs großer Krankenhausreform nicht genug Geld da ist, um damit auszukommen.

Warken, obschon fachfremd, hat Ideen, was dagegen getan werden müsste. Ohne zu zögern hat sich  vom Kabinett rasches Handeln gefordert. Konkret gebraucht würden "kurzfristige Maßnahmen und langfristig wirkende Strukturreformen." Sollten das nicht gelingen, drohten erneut Beitragssteigerungen, warnte die Ministerin. "Wir haben keine Zeit zu verlieren", sagte sie und kündigte auf längere Sicht die Einsetzung einer Expertenkommission an, die "zeitnah" Vorschläge zur Stabilisierung der Beiträge erarbeiten soll. 

Alle wollen es 

Nina Warken darf auf Unterstützung hoffen. Alle Koalitionsparteien sind sich mit Blick auf die Landtagswahlen im kommenden Jahr einig, dass die Beiträge nicht erneut steigen dürfen. Ab 2027 sollen sie dann schon mit Blick auf die nächste Bundestagswahl "stabilisiert" werden. 

Mit der Möglichkeit einer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen für die Sozialversicherungen öffnet sich ein Fenster, um denen unauffällig noch etwas mehr abzuverlangen, die heute schon die sozialen Sicherungssysteme finanzieren. Rutscht die Grenze nach oben, wird ein größerer Teil der durch den Inflationsschub der zurückliegenden Jahre nominal aufgeblähten Einkommen beitragspflichtig. Obwohl die Kaufkraft der Löhne und Gehälter in Deutschland heute nicht höher liegt als im Jahr 2019.

Wer symbolisch mehr verdient, obwohl er sich davon nicht mehr kaufen kann, wird in Zukunft mehr Beitrag an die gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen zahlen, ohne dafür mehr Leistungen  zu erhalten. Und das, obwohl die Ampelregierung mit dem sogenannten "Transformationsfonds zur Finanzierung der Krankenhausreform" ein Instrument geschaffen hat, mit dem aus einen Schattenschuldentopf Milliarden zusätzlich zum Bundeszuschuss von 14,5 Milliarden Euro im Jahr fließen, um die Beiträge nicht komplett durch die Decke schießen lassen. 

Keine Überraschung, was die Kommission empfehlen wird: Warkens geplante "Maßnahmen" werden von ähnlichem Kaliber sein: Mehr Steuerzuschüsse, weniger Leistungen, mehr Zuzahlungen.