Mittwoch, 5. November 2025

Grünes Fenster in den Osten: Nur gucken, nicht anfassen

Banaszak Grüne Fenster zum Osten
Kommt nur zum Gucken: Grünen-Chef Felix Banaszak hat jetzt ein "Fenster zum Osten".

Der Chef kam selbst, denn er zahlt das Experiment aus eigener Tasche. Mitten im halbentleerten deutschen Osten hat Grünen-Vorsitzender Felix Banaszak ein zweites Parteibüro eröffnet. Das "Fenster zum Osten" liegt in Brandenburg, einem Bundesland, das dem Abkippen in die Diktatur zuletzt nur noch durch eine vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke beherzt eingegangenen Koalition der SPD mit dem oft als "linke AfD" bezeichneten Bündnis Wagenknecht (BSW) gerettet werden konnte. Die Grünen gern mitgemacht. Aber selbst hier im weiteren Speckgürtel um das grüne Berlin reicht es nicht mehr in den Landtag.

Die Notgemeinschaft hält 

Wider Erwarten hält die Notgemeinschaft bisher. Selbst scharfe Provokation wie die Weigerung des BSW, dem neuen Rundfunk-Staatsvertrag zuzustimmen und damit Sendungen wie "Restles Monitor" oder "Reschke Fernsehen" zu retten, steckt die brandenburgische Sozialdemokratie stoisch ein. Größeres zählt. Auch für Banaszak, einen 32-Jährigen, der für die Grünen nach einem Neuanfang sucht, seit die alte Spitze sich nach Amerika abgesetzt hat und im Bundestag eine weibliche Doppelspitze dabei ist, auch die verbliebenen Wähler aus der unideologischen Ecke zu vertreiben. 

Banaszak, ein Kind des Ruhrpotts, hat beschlossen, dass alles anders werden muss, wenn es so bleiben soll, wie es ist. Gar nicht unähnlich der früheren Parteichefin Ricarda Lang, die geduldig darauf wartet, wieder gefragt zu sein, will der frühere Habeck-Zögling demonstrativ raus aus dem ideologischen Elfenbeinturm, dorthin, wo er "die Menschen" wähnt. Der Bürobau in Brandenburg entspricht in seiner Anlage der Idee der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel. Angesichts eines lauter werdenden Grummelns im Osten hatte die beschlossen, den auf die blühenden Landschaften wartenden Neubundesbürgern eine Armada von neuen Behörden zu schenken. 

Überall ein Amt 

Überall, wo es auch nach 30 Jahren noch nicht blühen wollte, siedelte Merkel ein Amt an. Als Sahne auf der kolonialen Kirschtorte gilt bis heute das mystische "Zukunftszentrum", eine Bauhülle in Gestalt eines prächtigen Parkhauses aus Glas und Blech, das später, wenn es denn erst fertig ist, mit bislang geheimgehaltenen Inhalten gefüllt werden wird. Welche, das wird erst später bekanntgegeben. Zeit ist noch genug, einen Zweck für den Zweckbau zu finden. Ursprünglich war die Eröffnung zwar für 2028 geplant, doch aktuell wird nicht vor 2027 mit dem Bau begonnen. 

Geht alles sehr, sehr gut und baugrundmäßig glatt, kommen die Möbelwagen mit der Ausstattung für das "Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation", so der korrekte Name, schon zehn Jahre nach dem Vorschlag der Kommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit", eins zu bauen, wozu auch immer. Merkel, die Mutter der Idee, ist dann schon fast ein Jahrzehnt im Ruhestand.

Die westdeutscheste Partei 

Das Grünen-Büro in Brandenburg hingegen wird dann schon auf fünf Jahre erfolgreiche Existenz zurückschauen können. Fünf Jahre, in denen es der westdeutschesten aller Bundesparteien die Gelegenheit gegeben hat, die Primaten im Brandenburger Raum in ihrem natürlichen Habitat zu beobachten. Dass die Grünen es im Osten Deutschlands derzeit schwer haben, liegt ja auch daran, dass die neuen Länder für sie reines Durchmarschgebiet sind. Die Probleme, die die Leute hier haben, interessieren die Partei nicht. Und was die Partei für große Probleme hält, tun die Leute hier mit einer Handbewegung ab. 

Wer zu knabbern hat, um sein Häuschen Baujahr 1952 im Winter warm und den Kühlschrank voll zu bekommen, hält die Frage, ob gegendert werden soll oder muss oder darf, für nebensächlich. Und wer einen 20 Jahre alten Diesel fährt, weil der Bus im Dorf nur früh und abends hält, ist kaum für einen Umstieg auf ein 9.000 Euro teures Lastenrad zu begeistern.  Banaszaks Bezeichnung des Büros als "Fenster" ist insofern durchaus treffend. 

Nicht Anfassen, nicht Füttern 

Es geht hier ums Schauen, nicht ums Anfassen. Bitte nicht Füttern! Man will mittendrin sein, aber keinesfalls dabei. Der Ostdeutsche als solcher gilt nicht nur den grünen, sondern auch in weiteren Kreisen des progressiven Westdeutschlands als grober, unkultivierter Geselle. Er misstraut denen, die die Demokratie tragen. Und schon allein deshalb gilt es, ihm zu misstrauen. Von Brandenburg an der Havel, rund 60 Kilometer westlich von Berlin aus immerhin, kann Felix Banaszak jetzt ein Auge auf die Verdächtigen haben. 

Was sagen sie? Sprechen sie überhaupt noch mit einem wie ihm, der noch auf die Art gearbeitet hat, wie sie arbeiten? Werden sie ihm, der nach dem Zivildienst eine Bilderbuchkarriere in seiner Partei gemacht hat, wie sie vorgeschrieben ist, glauben, dass er nicht als Vertreter seiner "abgehobenen Akademiker- und Elitenpartei wahrgenommen" werden will? Sondern als der Junge, der sich trotz Bahncard 100 und Büromitarbeitern, die sich um Platzreservierungen kümmern, auf dem Boden eines Bahnwaggons sitzend fotografieren lässt, als sei er seine bodenständige grüne Parteigenossin Göring-Eckhardt aus Thüringen. 

Die Reaktion der Zootiere 

Grundsätzlich reagieren die meisten Menschen ähnlich wie Zootiere stark auf Veränderungen ihrer Umwelt, wie sie etwa wahrgenommen werden, wenn Beobachter auf den Plan treten. Besucher, berichten Forscher, würden unter normalen Bedingungen im Zoo als Teil der Umwelt begriffen, in freier Wildbahn aber instinktiv als Gefahr aufgefasst. 

Ob die grünen Besucher aus dem Raumschiff Berlin-Mitte in Brandenburg an der Havel als Störfaktor oder doch eher als neues Unterhaltungsangebot begriffen werden, lässt sich wenige Tage nach der Eröffnung noch nicht sagen. 

Bisher ist die Adresse der neuen Anlaufstelle nicht einmal bei Google Maps hinterlegt worden.

Emissionshandel: Die Angst vor dem, was kommen sollte

Die Pläne waren raffiniert und sorgfältig austariert: Falsches Verhalten würde teurer werden, aber niemand müsste mehr bezahlen. Jetzt droht die Idee zu scheitern, doch es fehlt an Möglichkeiten zur Umkehr.

Es ist so lange alles gut gegangen. Europa blühte dank der EU. Der gemeinsame Markt, nicht perfekt, aber besser als keiner, warf ebenso Wohlstandsgewinne ab wie die durch das Einspringen Amerikas eingesparten Ausgaben für Aufrüstung. Aus der Innensicht der europäischen Politik standen die Dinge dermaßen zum Besten, dass es Zeit wurde, die Rasenkanten im gemeinsamen Paradiesgarten zu beschneiden. Warum nicht, so hieß es, mit ganz Europa über die künftige Belegung der Beete zu sprechen und sich darauf zu einigen, mit Blick auf das Klima durch strengere Regeln für weniger Ressourcenverbrauch zu sorgen.

Auf dem Peak EU 

Es war Peak EU, als die 27 Staaten aufbrachen, zum weltweiten Ausstiegsvorbild zu werden. Grünes Wachstum würden sie vorleben. Wohlstand schaffen durch den kompletten Neuaufbau der Energieversorgung. Aus Kohle, Öl und Gas aussteigen. Neue Hochtechnologien vorantreiben, die Netze zu Speichern und Elektroautos zum Standard machen würden.

Europäismus war Planwirtschaft plus Elektrifizierung des gesamten Kontinents. Und in Brüssel, von wo aus die Transformationsprozesse von der größten bürokratischen Maschine geplant und geleitet wurden, die sich jemals eine menschliche Verwaltungsgemeinschaft geleistet hatte, entstand ein Strom aus Vorschriften, Vorgaben, Regeln und Instrumenten. Die Mitgliedstaaten sollten mit Richtlinien angeleitet, die Menschen mit neuen Steuern und Abgaben gelenkt werden. Aus Europa würde im Handumdrehen ein grüner und gerechter Kontinent werden, der erste überhaupt und ein Platz, auf den der Rest der Welt mit Neid schauen würde.

Selbsternannte Lenker 

Erstens  kommt es anders und zweitens nie so, wie die selbsternannten Lenker der Kommission und die schon mit der operativen Führung der Staatsgeschäfte überforderten Nationalfürsten es beschlossen haben. Wohlweislich sind alle Entscheidungsgremien in der Wertegemeinschaft schon vor Jahren dazu übergegangen, statt der Gegenwart eine möglichst ferne Zukunft zu regieren. 

Von allem, was passiert, werden alle regelmäßig  überrollt, weil sie damit nun gar nicht gerechnet haben, schon gar nicht jetzt. Doch jenseits von plötzlich ausbrechenden Finanzkrisen, Pandemien und Kriegen herrscht stetes Planungssicherheit: In zehn Jahren, das steht fest, wird die Welt so sein und das Klima so. Und deswegen gibt es keine Alternative dazu, möglichst frühzeitig Beschlüsse zu fassen für eine Welt, wie sie dann sein wird.

Regieren im Land Übermorgen 

Für Politiker, die über Macht verfügen, ist es ideal, das Land Übermorgen zu regieren.  Kommt der Tag, an dem die Frage steht, ob es nun so geworden ist, wie sie es vorhergesehen hatten, sind sie nicht mehr im Amt. An die großen Pläne namens Lissabon-Strategie oder Europa 2020 erinnert sich niemand mehr. Und die Beschlusslage von zehn Jahren zuvor ist längst begraben unter Bergen von neuen Beschlüssen aus den zehn Jahren danach.

So haben es die EU und die wechselnden Bundesregierungen seit Jahrzehnten verstanden, Tatkraft zu beweisen, Entschlossenheit und den festen Willen, die Welt eines fernen Tages zu einem besseren Ort zu machen. Während es ihnen in ihrer jeweiligen Gegenwart nicht einmal gelang, die einfachsten Verrichtungen auszuführen und auf die sichtbarsten Veränderungen zu reagieren. Wichtig war, nie hinter eine nach langen Mühen und viel gegenseitigem Gekaupel gefundene Beschlusslage zurückzufallen. 

Immer wieder überrascht 

Gerade in der Klimapolitik, einem trotz Krieg, Erfindung der KI und Abwendung Amerikas zentralen Interessensgebiet der Meinungsführer auf dem alten Kontinent, durfte kein Jota am verabredeten Fahrplan verändert werden. Obwohl sich die Welt ringsum in schwindelerregendem Tempo weitergedreht hat, hielt die EU fest an ihren Plänen aus Friedenszeiten, als sich die Gemeinschaft der 27 selbst noch als Wohlstandsfestung begriff, die sich auch große Umbauexperimente leisten könne.

Energieausstieg. Grüne Transformation. Verbrennerverbot. Wasserstoffwirtschaft. CO₂-Handel. Zusatzbesteuerung von Heizung, Verkehr und jedermann, der sich die 50.000 oder 100.000 Euro für die Dämmung seines Häuschens nicht leisten kann - von weit, weit oben kamen die Anweisungen, oft ganz und gar unverhofft. Die Umsetzung aber war unausweichlich - aus Kohle musste ausgestiegen werden. Die Gasnetze waren unweigerlich zurückzubauen. Der CO₂-Handel würde die Unwilligen zwingen, auch ohne Geld in Wärmepumpen, Solaranlagen und Dämmung investieren. Und was an energiehungriger Industrie den Sprung zum grünen Antrieb nicht schaffte, das würde eben wegfallen. Kein Schaden!

Endlose Ambitionen

Jahrzehnte großartiger Ambitionen in Deutschland und der EU haben zu einem unentwirrbaren Gestrüpp an ehrgeizigen Regelungen geführt, deren Erfolg weit unter null liegt. Seit der frühere EZB-Chef Mario Draghi der Staatengemeinschaft bescheinigt hat, dass ihre Vorgaben zum Verlust von Wettbewerbsfähigkeit und drastischen Wohlstandsverlusten geführt haben, herrscht Unruhe in den Chefetagen. 

Doch aus dem Gefängnis der Selbstfesselung gibt es kein Entkommen. Würde die EU ihren Kurs Richtung noch höherer Steuern auf Energieverbrauch, noch strengerer Vorgaben bei der Lieferkettenüberwachung und schärferer Vorgaben für das erlaubte Alltagsverhalten ändern, stünde sie nicht weniger blamiert da als frühere Ideologen, die sich aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse auf dem Weg in kommunistische Paradiese gewähnt hatten.

Aus der Hoffnung auf die durchschlagenden Erziehungswirkungen des Emissionsrechtehandels (ETS) ist die Angst vor dessen Folgen geworden. Aus der Erwartung, die Welt werde auf dem Pfad zu globaler Menschenrechtsregulierung folgen, die Gewissheit, dass sie das keineswegs tun wird. Alle Anstrengungen, neue Technologien wie KI und Gentechnik umfassend wegzuregulieren, drohen entindustrialisierende Wirkungen zu entfalten. 

Der Fortschritt verlässt Europa. Doch die Führungsklasse wagt keinen Kurswechsel, weil sie fürchtet, durch ein Eingeständnis der eigenen Fehleinschätzungen auch den winzigen Rest an Vertrauen zu verlieren, über den sie hier und da vielleicht noch verfügt.

Furcht vor Konsequenzen 

Die Furcht vor den Konsequenzen der eigenen Beschlüsse, sie beherrscht inzwischen die Berliner wie die Brüsseler Bühne. Dass die Wirtschaft wegsterben könnte, wenn man es ihr immer schwerer macht, wettbewerbsfähig zu bleiben, war seinerzeit durchaus diskutiert worden. Doch passieren sollte das alles erst viel später, dann, wenn andere den Kopf für die Konsequenzen hinhalten müssen. 

Jetzt ist es heute schon so weit und die Knochen zittern, dass das Klappern auf dem gesamten Kontinent zu hören ist. Wer soll denn all die guten Gaben zahlen, wenn niemand mehr produktiv arbeitet? Wer soll die gigantischen Verwaltungen und Überverwaltungen und Kontrollorgane ernähren? Wer den politischen Apparat füttern, die Sender, Stiftungen, Gefälligkeitswissenschaftler und NGOs, die man sich angeschafft hat, um seine Entscheidungen als alternativlos und unausweichlich darstellen zu lassen?

Aus dem CO2-Handel, gefeiert als "grundsätzlich das beste Instrument, um kosteneffizient auf klímaschonendes Heizen und Autofahren umzustellen", ist in den zurückliegenden Monaten eine Bedrohung geworden. Aus dem Lieferkettengesetz eine Fußkugel. Aus dem Energieausstieg eine Angstmaschine. Der Unmut, den Habeck mit seinem Heizungsgesetz heraufbeschwor, steht als Menetekel an der Wand: Das, was die EU derzeit immer noch geplant hat, jeder weiß es, würde Größenordnungen schlimmer ausfallen, wenn die Leute erst merken, was es wirklich bedeutet und welche Summen aufgerufen werden.

Ursprünglich unauffällig 

Ursprünglich sollte die Sache mit dem CO₂-Preis still und auffällig über den Tisch gehen. Es würde teurer werden, aber ganz langsam, genau so, dass es niemand richtig mitbekommt, weil die zusätzlich zu zahlenden Summen im großen Rauschen des allgemeinen Kaufkraftverlustes untergehen. Damit eine Zusatzsteuer funktioniert, muss sie akzeptiert werden. Damit das klappt, darf sie nicht schmerzhaft sein. Wenn aber der Tonnenpreis für CO₂ von 55 auf 100 oder gar 200 Euro hochschnellt, würde ein Sturm der Entrüstung auch noch die wenigen Regierungen in der EU hinwegfegen, die am Klima als wichtigstem Thema festhalten. 

Es wäre der Todesstoß für den europäischen CO₂-Zertifikatehandel, der weltweit ohnehin als Unikum gilt. Doch guter Rat ist teuer: Einfach aufheben lassen sich die Beschlüsse zur Einführung nur um den Preis einer globalen Blamage. Einfach laufenlassen aber können Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten die Sache auch nicht, denn wütende Wähler tendieren dazu, falsche Parteien zu wählen. Am liebsten würden natürlich alle Mehrbelastungen mit soziale Ausgleichszahlungen wegdämpfen. 

Die 400-Milliarden-Frage 

Allein es fehlt an Geld -  78 Prozent des gesamten End-Energieverbrauchs in der EU werden nach wie vor fossil gedeckt, allein die Deutschen zahlen einem CO2-Preis von 55 Euro pro Tonne zuletzt fast 19 Milliarden zusätzlich für Energie. Bei 200 Euro wären es knapp 80 Milliarden, europaweit um die 400 Milliarden. Die wären wie die derzeitigen Einnahmen schon weg, ehe jemand sie an die Einzahler zurückgeben könnte. Es gibt schließlich immer Wichtigeres als Klimageld.

Das Zetern aus der SPD, die den Klimaschutz nach zwölf Jahren dauerhafter Regierungsbeteiligung  bezichtig, zur Deindustrialisierung zu führen, illustriert das Dilemma. Man kann nicht mehr mit, aber man traut sich auch nicht ohne die selbstgebauten Instrumente. Die Vorstellung, nach der Freigabe des Emissionshandels könne der Literpreis für Benzin an der Tankstelle wieder über die Zwei-Euro-Marke springen, ohne dass der Russe als Schuldiger bereitsteht, bereitet auch der Union schlaflose Nächte. Verbrennerverbotsfurcht allenthalben. 

Beerdigt, aber nicht begraben 

Die EU, die noch deutlich abgehobener agiert, hat den großen "Green deal" zwar stillschweigend beerdigt. Aber nicht offiziell begraben. Derzeit gilt er als "laufender Prozess", bei am Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden, festgehalten wird. Nur die konkreten Maßnahmen zur Umsetzung würden "weiterentwickelt" - im EU-Wortschatz ein Code für Aufweichen, auf die lange Bank schieben und die komplette Absage der nächsten Kommissarsgeneration überlassen.

Unausgesprochen ist allen klar, dass es so, wie es gedacht war, nicht gehen wird. Alles an der Transformation verläuft viel zu langsam. E-Autos sind nicht gefragt. Grüne Kraftstoffe gibt es nicht. Der Wasserstoff fehlt. Und die Umrüstung von 20 Millionen Gebäuden auf klimafreundliche Heizungen könnte sich nicht einmal ein Deutschland leisten, das noch im Vollbesitz seiner wirtschaftlichen Potenz wäre. Die EU bräuchte realistische Klimaziele. Die aber kann sie sich nicht geben, weil jedes Zurückweichen die jahrelang wiederholten Behauptungen konterkarieren würde, wenn nicht gleich gehandelt werde, sei die Menschheit zum Aussterben verdammt. 

Windelweich geht die EU den Mittelweg zwischen Weiterso und Liebernicht. Sie schafft ihre Visionen nicht ab, sondern genehmigt sich Ausnahmen. Sie versucht, sich mit Zöllen zu schützen und die 20 zentralen Richtlinien und Verordnungen, die den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft erzwingen sollten, als Kann-Bestimmungen zu behandeln, die weitergelten, aber nicht eingehalten werden müssen. 


Dienstag, 4. November 2025

Die Brandmaurer: Uniformierte Gewalt

Uniformiertes Bekenntnis: Die Jugend trägt Überzeugung wieder außen.


Sie sind weiß, sie tragen Schwarz und sie schauen entschlossen in die Kamera. Niemand wird an ihnen vorbeikommen, denn auf ihren T-Shirts steht ihr Glaubensbekenntnis: "Antifaschist*in". Sie sind nur zu elft, dicht geschart um ihre Anführerin. Katrin Göring-Eckardt, deutlich älter, deutlich situierter, deutlich teurer frisiert, ist sichtlich das Herz dieser Gruppe an Entschlossenen. Deren Botschaft ist klar: "Unsere Demokratie wird bedroht und die Angriffe häufen sich", sagen sie. Und wer die Demokratie verteidigen wolle, müsse lautstark gegen Faschismus und für eine tolerante, vielfältige Gesellschaft einstehen.

Angriff gegen Minderheit 

Es ist am Tag nach dem feigen Brandanschlag auf das Auto eines AfD-Politikers in Hamburg ein klares Bekenntnis. Demokratie zu verteidigen heißt, antifaschistisch zu sein! Gerade jetzt, wo sich "die Angriffe gegen Minderheiten häufen", wie es auf der Instagram-Seite der Thüringer Grünen zur Feuerattacke auf den Hamburger Politiker heißt, kann niemand mehr am Rande stehen und zuschauen. 

Die hier, das ist an den schwarzen Uniformen zu sehen, "stehen an der Seite all jener, die sich für unsere demokratisch freie Gesellschaft einsetzen". Nicht zuletzt der Umstand, dass bei der Attacke auf Baumann drei weitere Fahrzeuge Unbeteiligter zerstört wurden, ist unschwer erkennbar als einer jener "gezielten Versuche, demokratische und menschenrechtsorientierte Bewegungen kleinzumachen". Genau dagegen stehen die jungen Leute in ihren entindividualisierenden T-Shirt-Uniformen. Wir sind viele, wir sind stark, sagen die Hände in den Hosentaschen. Wir meinen es ernst, sagen die überwiegend jungen Gesichter, die kein Lächeln sehen lassen.

Niemand soll allein sein

Das Bild bei Instagram, es zeigt, dass niemand allein ist, der entschieden gegen den erstarkenden Faschismus und gegen die gezielten Versuche stellt, "demokratische und menschenrechtsorientierte Bewegungen kleinzumachen". Keiner verlässt den Pfad, keiner geht allein!  Ja, in Hamburg hat ein Auto gebrannt. Aber wenn auf die amerikanischen Dienste kein Verlass mehr ist, was sollen denn dann deutsche Behörden tun? 

Die Ermittlungen immerhin laufen auf Hochtouren, aber ob ein bei Indymedia erschienenes Bekennerschreiben echt ist, vermag nicht einmal die Frankfurter Rundschau zu sagen. Das Portal sei "immer wieder von Trittbrettfahrern benutzt" worden, die dort Antifa-Aktionswochenenden bewarben und  anständige Bürger als Nazis outeten

Eine feurige Brandmaueraktion 

Dass dort jetzt eine feurige Brandmaueraktion gefeiert wird, unter der Überschrift "Feurige Grüße an die angeklagten, eingeknasteten und untergetauchten Antifas!" erscheint der in den zurückliegenden Jahren immer weiter nach links radikalisierten Zeitung kaum glaubhaft. Denn als grundsätzliche friedliche Gemeinschaft könnte kein Antifa-Kollektiv sich auf einen Aufruf wie "Bildet ein, zwei, drei, viele Hammerbanden!" oder "Alerta antifascista, egal ob mit Hammer oder Brandsatz!" einigen, geschweige denn auf "Wir wollen keine Sexisten, Rassistinnen und Faschos im Stadtbild sehen!"

Das ist die Handschrift des Verfassungsschutzes. Das muss sie sein, denn anderenfalls hätte sich Katrin Göring-Eckardt  längst zu Wort gemeldet, um sich und ihre schwarze Gang aus Antifas von denen zu distanzieren, die das Wort Antifa und die gleichnamige Bewegung missbrauchen. "Antifa", eine verharmlosende verbale Zusammenziehung von "Antifaschismus", wird vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages als Bezeichnung  "eher locker strukturierter Strömungen der linken bis linksextremen Szene" definiert. 

Die Uniform gehört dazu 

Die Anfang der 30er Jahre entstandene Bewegung konnte den Faschismus nicht aufhalten und sie überlebte ihn auch nicht. Erst ein Nostalgienachbau Jahrzehnte später, entstanden unter den Laborbedingungen eines demokratischen Staates ohne Faschisten, erlangte die modische Bewegung ihre aktuelle Bedeutung: Antifaschisten kämpfen nicht mehr gegen tatsächliche Faschisten. Sondern aus Mangel an solchen gegen jedermann, der nach eigener Definition kein Antifaschist war.

Gemeinsame Feinde, gemeinsame Glaubenssätze, eine gemeinsame Zeichensprache und eine einheitliche Uniformierung gehörten auch beim dezentral organisierten Nachwuchs eines kommenden totalitären Regimes zum Selbstbild, das sich nicht nur als antifaschistisch, sondern auch als gerecht, sozialistisch, antirassistisch, antisexistisch und antikapitalistisch imaginiert. 

Wie jede ähnliche Bewegung kleidet auch der Antifaschismus seine follower in einheitliche Anzüge. Das bedient eine vor allem bei Jugendlichen auftretende Sehnsucht: Man möchte zu etwas gehören, Teil von etwas sein, das nach Möglichkeit etwas Großes zu sein hat. Zudem möchte der junge Mensch erkannt werden als einer, der für etwas steht.

Schwarz ist die Farbe der Vielfalt 

Schwarz ist die Farbe des Demoblocks, der für Vielfalt steht und bei Bedarf auch zuschlägt. Diese eiserne Faust der Gerechten unter den Völkern kombiniert dieses der SS-Uniform abgeschaute Schwarz in seinem Logo mit dem Blutrot, das für die Millionen Toten der anderen totalitären Ideologie steht, ermordet von Lenin, Mielke, Stalin, Mao und Pol Pot.

Wie Benito Mussolini, der Erfinder des Faschismus, und sein Schüler Hitler, der daraus den Nationalsozialismus, machte, strebten auch die Antifaschisten immer danach, ihre    Nachwuchsorganisationen zu uniformieren, äußerlich wie inwendig. Um eines Tages die erhoffte vollständige Kontrolle über Gesellschaft, Individuum und Zukunft ausüben zu können, galt es als unerlässlich, Kinder möglichst früh möglichst umfassend zu indoktrinieren. 

Die Hitlerisierung der Jugend 

Der Wunsch nach einer Jugend, die als einheitlicher Block hinter ihren Führern steht, ist bei jedem Diktator übermächtig. Die Herrschenden in der DDR etwa ließen jeden begeistert öffentlich feiern, der der Hitlerisierung von Jugend und Kindheit im Dritten Reich mannhaft widerstanden hatte, und sei es durch den Rückzug in eine gesellschaftliche Nische. Zugleich aber gingen sie davon aus, dass es ihnen im Gegensatz zu Hitler gelingen würde, durch harte Disziplinierung jedwedes Abweichlertum zu verhindern.

Die Uniformierung von Kindern und Jugendlichen war dabei das zentrale Instrument. Wer Menschen zwingen kann, in eine Einheitskleidung zu schlüpfen, die demonstrativ keinerlei Zweckbindung hatte als die eine, Individualität auszulöschen und visuell Macht zu demonstrieren, der hat sein Volk besiegt. Sich selbst attestieren die Erfinder und Verbreiter von derartigen Ziviluniformierungen, dass das gemeinsam getragene Tuch ein "Wir-Gefühl" förder, die Gruppenzugehörigkeit stärkt und Eigenständigkeit unterdrückt. 

Die ältere Frau im Mittelpunkt 

In jeder uniformierten Gruppe entstehen Hierarchien - im Bild der Instagram-Antifaschisten symbolisiert durch die deutlich ältere Frau im Mittelpunkt, die auf den ersten Blick als Anführerin zu erkennen ist. Soziologisch basieren diese unwillkürlichen Abläufe auf seit Jahrtausenden bewährten Militärtraditionen: Die einheitliche Kleidung erschafft eine Armee. Winzige Zeichen auf den Uniformen oder informelle Kenntnisse über Unterstellungsverhältnisses erzwingen Gehorsam, Gehorsam wiederum schafft Kampfbereitschaft.

Der Kampf ist meist symbolisch, auch bei der Antifa. Deren Massengefolge kommt zu Aufmärschen zusammen, die sich gegen die vermuteten follower am anderen Ende des politischen Regenbogens richten. Dabei verbreitete Parolen wie "Wir sind mehr" dienen der Selbstvergewisserung nach innen und der Propaganda nach außen: Massenaufmärsche mit uniformierten Kindern und Jugendlichen demonstrieren die Stärke der Ideologie, der die Marschierer anhängen, naturgemäß nicht durch Argumente, sondern allein durch Masse und Überwältigung.

Die neuen Pioniere 

Die Methode ist dieselbe wie in den in den faschistischen, kommunistischen und nationalistischen Systemen des 20. Jahrhunderts, allein die Farben von Fahnen und Uniformen wechseln. Die Hitlerjugend trug braunes Hemd und schwarze Hose, dazu ein rotes Halstuch mit Lederknoten und die HJ-Armbinde. Ihre "Pioniere" kleidete die SED nach dem Vorbild des großen Bruders in Moskau in weiße Hemden und dunkle Hosen, das rote Halstuch wurde anfangs blau. Ältere bekamen dann wieder ein rotes, noch Ältere eine blaue Bluse mit dem Symbol einer aufgehenden Sonne.

Sie waren die "Freie Deutsche Jugend", gefangen in einem System, das ihre Freiheit strenger begrenzte als jeder andere deutsche Staat zuvor. Sie hatten Wehrunterricht für den Frieden. Und zu glauben, was ihnen gesagt wurde, denn Zweifel zu äußern, reichte bereits für den Verdacht, den Falschen auf den Leim gegangen zu sein.  Die visuelle Gleichschaltung, geplant als optische Klammer, die Kinder früh lehrt, dass Individualität kein Wert ist, sondern Konformität gezeigt werden muss, wurde zum Schutzmantel für Millionen: Gekleidet wie ein Mensch, der sich unterworfen hat, blieb die innere Einstellung verborgen hinter einer Illusion von totaler Herrschaft.

Symbol für Einheitsmeinung  

Die Antifa, in den USA und Ungarn zuletzt verboten, kopiert das auf preußische und zaristische Traditionen zurückgehende Prinzip der Einheitskleidung als öffentliches Symbol für eine Einheitsmeinung dennoch. Streng durchideologisiert, kombiniert die Bewegung ihre Farben Schwarz und Rot seit einiger Zeit mit allen übrigen der Farbpalette, um den Vorwurf zu begegnen, man habe selbst faschistoide Bezüge und Sehnsüchte. 

Unter dem Banner der farblichen Beliebigkeit soll diesmal nicht der neue Mensch, sondern der totale Mensch geformt werden: gehorsam, opferbereit, identitätslos und bereit, Widersprüche klaglos und ohne Fragen hinzunehmen. Wo es bei Pegida, den Corona-Leugnern und den Friedensdemos noch hieß, jeder, der teilnehme, müsse sich umschauen, mit wem er da marschiere, gilt bei der Antifa, dass gelegentliche Terroranschläge, brutale Prügelattacken und die gewaltsame Zerstörung von Teilen der kritischen Infrastruktur nichts am insgesamt friedlichen Wesen des Antifaschismus änderten. 

Das Schweigen im Walde 

Für die großen Medienhäuser ist das ausgemacht. Während sie die Blockade einer Fähre, auf der der damalige Klimawirtschaftsminister Robert Habeck unterwegs war, als Anschlag eines "motorisierten Mistgabelmobs" auf die freiheitliche Fundamente unserer Demokratie anprangerten, läuft der Brandanschlag auf einen AfD-Spitzenpolitiker unter "in Flammen aufgegangen" (Die Welt). Demonstrativ haben sich weder der Bundesinnenminister noch der Kanzler, die Justizministerin oder der Vizekanzler zum Terrorakt gegen einen gewählten Abgeordneten geäußert. Und ebenso wenig zur Ankündigung im Bekennerschreiben: "All you damn’ MAGAfreaks, you will follow Kirk to hell!"

Stahlpakt: Guter Zoll für den Wachstumsschub

Gute Zölle in der EU
Es kommt nie darauf an, was jemand tut, sondern immer darauf, wer es macht.

Schädlich! Verheerend! Wohlstandsverzehrend! Und natürlich spaltend. Auf die Zollpläne des US-Präsidenten Donald Trump gab es in Europa Anfang des Jahres nur eine einzige Antwort. Erstens würde das starke Europa sich das alles nicht gefallen lassen. Zweitens würde man den Präsidenten  zwingen, sich eines Besseren zu besinnen. Und dritten müsste selbst er doch einsehen, dass sein Vorhaben, die Industrie in den Vereinigten Staaten zu stärken, indem er ausländische Produkte mit hohen Zöllen aussperrt, schlussendlich nur die amerikanischen Verbraucher bezahlen würden.

Die Zolltarife der Taliban 

Das war nicht nur rechtswidrig, wie sich die Mehrzahl der Ökonomen einig war. Das war auch dumm. Trump würde durch seinen Traum von der Abschottung von der globalen Arbeitsteilung zum "Verlierer" (FAZ). Auch wenn Ursula von der Leyen das Allerschlimmste schließlich doch noch abwenden konnte. Für die EU handelte sich beherzt und mutig dieselben Konditionen aus, wie das Weiße Haus sie den afghanischen Taliban zugesteht, blieb der ganz große Freihandel als Ziel der Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft auf der vernünftigen Seite des Atlantik bestehen.

Kein Zoll für niemandem auf Nichts, etwa so, wie die EU seit dem Ende der Punischen Kriege mit Südamerika aushandelt.  Das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Staaten des MERCOSUR-Bündnisses - Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay - ist seit Jahrzehnten auf der Zielgerade. Klappt alles, werden auch die noch zu führenden Gespräche über das sogenannte "Begleitinstrument zur Stärkung von Nachhaltigkeitsaspekten" bis zum St. Nimmerleinstag abgeschlossen. 

Großgebiet mit Begleitinstrument 

Stimmen Rat und EU-Parlament dann im Rahmen des Trilogs zu, das gilt als Formsache, außer Frankreich stellt sich quer, könnte schon irgendwann eine der weltweit größten Freihandelszonen mit über 715 Millionen Konsumenten aus der Taufe gehoben werden. Faktisch würden danach sämtliche anderen Staaten Schlange stehen, um baldmöglichst auch zu den Zollsparern gehören zu dürfen.

Es wird ein knappes Rennen. Denn kaum hat die EU, einst gegründet als Zollunion und bis heute auf Zolleinnahmen zur Finanzierung ihres Betriebs angewiesen, unter der Leitung ihrer Besten einen erfolgreichen Abwehrkampf gegen Trump geführt, schwinden die Prinzipien in Brüssel und Berlin schneller als Brandmauer- und Stadtbild-Debatte den öffentlichen Raum verlassen haben. 

Die Krieger des Lichts entdecken ihr Herz für Handelsschranken, Einfuhrhindernisse und Zölle, je höher, desto besser. Ursula von der Leyen, immer dort, wo akut gerettet werden muss, hatte schon vor Tagen angekündigt, dass  EU-Kommission die wankende und dahinschwindende EU-Stahlindustrie vor Auswirkungen globaler Überkapazitäten schützen müsse.  

Kochen mit Luft 

Nicht mit  mit einem "Aktionsplan" diesmal, wie er noch im März im Handumdrehen eine "wettbewerbsfähige und kohlenstoffarme" Stahlindustrie schaffen sollte. Weil nämlich die "Stahlindustrie als Motor des europäischen Wohlstands" weiterhin gebraucht werde, nur eben stahlkochend in Hochöfen, die angetrieben werden mit grünem Wasserstoff, den es nicht gibt.  Nein, diesmal solle eine "Reihe von Maßnahmen den EU-Stahlsektor vor unlauteren Auswirkungen" der Stahlkocherei in Staaten schützen, die immer noch auf herkömmliche Weise arbeiten - und Strom aus fossilen Quellen beziehen.

Die EU-Kommission hält also einerseits natürlich "am Grundsatz des offenen Handels fest".  Andererseits kürzt sie die Menge des zollfreie nach Europa lieferbaren Stahl auf die Hälfte. Und verdoppelt für den Rest den Zollsatz auf 50 Prozent. So hoch muss der Schutzzaun sei, erstmal, um einen "starken Stahlsektor" zu erhalten, den man "für die Wettbewerbsfähigkeit, die wirtschaftliche Sicherheit und die strategische Autonomie" benötige. Aber auch dafür, dass er in Bälde "dekarbonisiert" (EU-Kommission) werde, so dass er dann "sauberen Stahl der nächsten Generation" liefern könne.

Ausgleichszölle für Gerechtigkeit 

Eine strenge Maßnahme nach dem Vorbild der erfolgreichen Sonderstrafzölle auf chinesische Elektroautos. Mit denen hatte die Kommission im Sommer 2024 die Daumenschrauben für die Produzenten in Fernost angezogen. Die würden, hieß es, im Gegensatz zu europäischen Autobauern, vom Staat bezuschusst. Deshalb müssten Ausgleichszölle für Gerechtigkeit sorgen. 

Die Bilanz des ersten Versuchs fällt beeindruckend aus: Im letzten Jahr vor den Abschreckungszöllen exportierten chinesische Hersteller 129.800 Autos mit reinem Elektroantrieb im Wert von 3,4 Milliarden Euro nach Deutschland importiert. Zahlen aus dem Jahr 2025 zeigen: In ersten fünf Monaten kamen die Exporteure nur noch auf 45.000 Fahrzeuge.

Ein schöner Rückgang um fast ein Fünftel, der den europäischen Herstellern geholfen und die Absatzflaute bei VW, Mercedes, Stellantis und Opel behoben hat. Die Wende zur Elektromobilität kommt endlich in Gang, und sie ist selbstgemacht. Nach demselben Muster eilen Kommission und Bundesregierung  nun herbei, der maladen Stahlindustrie aus der Misere zu helfen. Zollschranken hoch und damit die "Zukunft der deutschen Industrie" retten, so hat CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann den Plan umrissen, mit neuen EU-Einfuhrzöllen Wachstum zu generieren.

Unterschiede zum Jahresanfang 

Im Unterschied zum Jahresanfang, als Trumps Zollpläne ein verfrühtes Ende der Welt heraufbeschworen, sind diesmal alle dafür. Die sozialdemokratische saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) unterstützt die Forderung. Ihr Parteigenosse, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, wies vor dem geplanten Stahlgipfel darauf hin, dass "auch die chemische Industrie massiv unter Druck" stehe. Die Zollschraube, so hieß das, müsse noch viel weiter gedreht werden. Heiko Maas, nach einem kühnen Besetzungsmanöver seit kurzem Aufsichtsratsvorsitzer bei Saarstahl und Dillinger Hütte, hat sich noch nicht äußern können. Aber "für den Moment sind das gute Nachrichten."

Nicht jeder Zoll ist schlecht. Es kommt schließlich immer darauf an, wer ihn erhebt. Damit "hier in Deutschland produzierter Stahl seine Chance bekommen" kann (Rehlinger), darf der Freihandel nicht übertrieben werden. Schließlich müsse die Industrie hierzulande nicht gegen eine zuweilen irrwitzig erscheinende Energie und Transformationspolitik ankämpfen, sondern "gegen Dumpingpreise" derjenigen, die aufgrund ihrer Standortbedingungen günstiger produzieren. 

Hoffentlich kein Tünkram 

Vom Stahlgipfel im Kanzleramt, zu dem mit Friedrich Merz ein Mann eingeladen hat, dessen Zweifel am Erfolg einer Transformation zu grünen Herstellungsprozessen nach großem Widerspruch der progressiven Stahlparteien schnell wich, erwarten alle viel und noch viel mehr. Nicht noch einmal "Tünkram" (Habeck) soll Merz über die Möglichkeit erzählen, Stahl künftig nicht nur mit den rekordhohen deutschen Stromkosten zu weltmarktfähigen Preisen zu kochen, sondern das mit noch dreimal teurerem grünen Wasserstoff tun wollen. Sondern eines jener "wichtigen Signale" setzen, die als "konkrete und nachhaltige Hilfen für die kriselnde Branche" zu verstehen wären. 

Nicht die Ergebnisse, sondern der Stahlgipfel im Kanzleramt selbst sei "ein wichtiges Signal für die gesamte Industrie in Deutschland" hat Dirk Wiese übertriebene Erwartungen an Ergebnisse vorab einfangen. Er erwarte "klare politische Antworten" - im politischen Berlin gilt das als direkte Aufforderung, jetzt aber endlich mindestens von einem "klaren Kompass" zu sprechen und "die Energiekosten in den Griff zu bekommen" (Wiese). 

Chinas Stahlangriff 

Da in dieser Beziehung wenig Aussicht besteht, hat der auch der Parlamentarische SPD-Geschäftsführer die Zölle als Lösungssimulation im Hinterkopf.  Es gebe da "Länder, die die Regeln der Welthandelsorganisation systematisch verletzen". Auch wenn Deutschland und Europa sich deswegen nie beschwert hätten, sei klar, dass diese Staaten "die Regeln der WTO schwächt oder faktisch beseitigen" wollten "und damit auch unsere wirtschaftliche Stabilität und gesellschaftlichen Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg."

Da müssen neue Zölle sein, auch wenn die letzte diesbezügliche Auseinandersetzung mit China noch genau andersherumgeführt wurde. Dann obendrauf noch das Übliche: "Der Industriestrompreis, eine zukunftsfeste Kraftwerksstrategie und die Deckelung der Netzentgelte". Schon wäre "unsere Industrie international wettbewerbsfähig" und die Arbeitsplätze gesichert. Und das, obwohl es ihr weiterhin an Abnehmern fehlen wird, so lange Autoindustrie unter China-Importen leidet der Wohnungsbau unter  dem Geiz der Vermieter und die Investitionstätigkeit unter dem Umstand, dass Friedrich Merz die Stapel von Ansiedlungsangeboten ausländischer Konzerne erst noch "ordnen" muss. 

Wenn Stahl erst teurer ist

Die Zölle werden es richten, denn wenn Stahl erst deutlich teurer wird, kommt auch die Bautätigkeit wieder in Gang. In einem Strategiepapier hat die SPD bereits eine Bevorzugung von Stahl aus Deutschland und der EU gefordert. Koste es, was es wolle, das Geld ist ja da, es hat dann nur ein anderer. Der zuständige EU-Kommissar Stéphane Séjourné hat den 50-prozentige Trump-Zoll schon als Geburtshelfer einer "Reindustrialisierung Europas" gelobt. 

Danach wird global immer noch zu viel Stahl auf dem Markt sein. In der Kommission wird von deutlich mehr als 600 Millionen Tonnen weltweiter Überkapazität gesprochen. Doch China, das nach den Zahlen des Weltstahlverbands heute noch mehr als 1.000 Millionen Tonnen produziert, wird damit aufhören und die überzähligen Hochöfen herunterfahren - auch aus Respekt vor der in Deutschland heimischen Stahlindustrie und ihrer schweren Lage. Die hiesigen Hütten produzieren gerade mal 40 Millionen Tonnen im Jahr, zu Preisen, die bei 550 bis 650 Euro pro Tonne liegen, so lange fossil geschmolzen wird. Der grüne Stahl würde dann bei 1.100 bis 1.200 Euro liegen - China liefert derzeit für 440 Euro.

Montag, 3. November 2025

Die Abhänger: Erben in der sozialen Hängematte

Ältere und sogar Jüngere lassen sich in die soziale Hängematte fallen, sobald ihnen ihre finanzielle Versorgung die Möglichkeit dazu gibt. Eine Initiative engagierter Ökonomen fordert jetzt strenge Maßnahmen gegen Bummelanten. Abb: Kümram, Öl auf Sperrholz

Sie lassen sich mit der Geburt ins gemachte Nest fallen, später erben sie und liegen in der sozialen Hängematte, die Papa und Mama, Opa und Oma aufgespannt haben. Oft erben sie später auch noch, was ihnen ihre Altvorderen zugedacht haben. Für die Gesellschaft ist das ein wachsendes Problem. Wie eine aktuelle Untersuchung von Schweizer Wissenschaftlern der Universität Lausanne und der ETH Zürich nachweist, verstärken Erbschaften den Wunsch Älterer, frühzeitig in den Ruhestand zu treten. Das Arbeitsangebot werde dadurch deutlich gesenkt.  

Sie entziehen sich 

Der Zusammenhang ist erwiesen: Wer erbt, reduziert eher seine Arbeitszeit oder hört sogar ganz auf zu arbeiten. Besonders stark sei der Effekt von Erbschaften auf die Arbeitszeit nach Angaben der Wissenschaftler bei älteren Arbeitnehmern. Selbst nach nur 30, 40 oder 45 Jahren im Arbeitsprozess sehen sie in der finanziellen Sicherheit, die ihnen eine zufallende Erbschaft gibt, eine Möglichkeit, sich in die Rente zurückzuziehen. Wer es sich leisten könne, kürzerzutreten, tue das oft, ohne Rücksicht auf seine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber zu nehmen. 

Kein Wunder also, dass die deutsche Wirtschaft seit Jahren nicht aus dem Tief kommt. Obwohl der Fachkräftemangel anhält, verschärfen die Erben ihn durch ihren massenhaften Renteneintritt. Versuche, den Trend mit einer Extraabgabe für Babyboomer zu brechen, scheiterten bisher am mangelnden Mut der Bundesregierung, mit strengen Maßnahmen gegen Erben vorzugehen. Auch die Initiative des Berliner Starökonomen Marcel Fratzscher, gegen die Verweigerung der Älteren, über das nächstmögliche Austrittsdatum hinweg weiterzuarbeiten, verpuffte folgenlos. 

Der Staat bleibt tatenlos 

Der Staat bleibt tatenlos. Obwohl Ökonomen seit Jahrzehnten davor warnen, dass die allmähliche Auflösung ddr Erwerbsgesellschaft früherer Jahre dazu führen wird, dass zu wenige Steuer- und Beitragszahler zur Verfügung stehen, um die grundgesetzliche garantierten Leistungen zur sozialen Teilhabe für alle zu schultern, sind entschiedene Schritte zur Verbreiterung der Einnahmebasis bisher ausgeblieben. Der Staat spare sich krank, warnt eine Gruppe engagierter Mikro- und Volkswirtschaftslehrer um den als Vater von Dynamisierungspaket, Wumms und Doppelwumms der Ära Scholz bekannten Entscheidungstheoretiker Wolfhardt Kremer. 

Als Initiative "Compass Gerechtigkeit" fordern die 47 Unterzeichner*innen von Kanzler Merz, seiner Wirtschaftsministerin Katherina Reiche und ihren Parteifreunden von CDU, CSU und SPD strengere Vorgaben für die Aufgabe eines Arbeitsplatzes, eine straffere Besteuerung von Nachlässen, die höher liegen als der Mindestlohn und "motivierende Maßnahmen", wie es heißt, um die Deutschen zu zwingen, mehr und länger zu arbeiten. 

Gleiches gleich und Ungleiches auch 

Kremer, der am Climate Watch Institut (CWI) im sächsischen Grimma Preisbildung, Entrepreneurship und Unternehmergeist (PEU) lehrt, verweist auf Übererben, die ohne eigene Leistungen bessergestellt seien als der Durchschnitt. Der Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz, in Artikel 3 verankert, besage, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden müsse. "Faktisch ist das ein Gebot, das nivellierende Eingriffe erlaubt." Wichtig sei hier die Beachtung der Verpflichtung des Staates, zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse aus § 72 Abs. 2 GG. "Bisher ist dabei immer auf regionale Unterschiede abgehoben worden", erklärt der Initiator von "Compass Gerechtigkeit". Er und seine prominenten Mitunterzeichner plädierten hingegen für einen individualisierten Ansatz.

Niemand soll mehr mehr haben, keiner aber weniger. Vorhandene Erbmasse könne auf alle Bürger aufgeteilt werden. Das helfe gegen die wachsende Ungleichheit bei den Vermögen, die sich bei Besitzenden anreichern, bei allen anderen aber kaum bilden können. Zudem, davon ist Kremer überzeugt, ließe sich durch weniger große Erbschaften selbst in körperlich anstrengenden Berufen die Motivation stärken, bis zum Beginn der gesetzlichen Rente oder aber sogar darüber hinaus weiterzuarbeiten. "Wer nicht genug hat und nicht erbt, dem bleibt ja kaum etwas anderes übrig." 

Arbeit bis zur Bahre 

Dass die in der Debatte um die Arbeit bis zur Bahre immer wieder genannten Dachdeckern, Pflegekräften oder Erzieherinnen sich allesamt "wirklich kaputtmachen und schon Schwierigkeiten haben, bis 67 zu kommen", wie SPD-Vize-Kanzler Lars Klingbeil kürzlich verdeutlicht hatte, glaubt  Wolfhardt Kremer nicht. Dabei handele es sich um eine "Latrinenparole aus den Bundestagstoiletten", verbreitet von Politikern und Gewerkschaftslobbyisten, die "ihren Lebtag lang weder einen Dachdecker noch eine Pflegekraft gesprochen haben". 

Kremer, der mit seiner Arbeitsgruppe zum Thema Teilzeitquote, Schonplatzarbeit und Quiet Quitting geforscht hat, verweist auf Studien, nach denen  Senioren heute nicht nur jünger sind als vor 20 oder 40 Jahren, sondern auch fitter und gesünder. "Viele von denen könnten durchaus auch noch fünf oder zehn Jahre schwere körperliche Arbeit leisten und helfen, Deutschland und Europa wieder aufzubauen." Heranziehen möchte er am liebsten aber nicht nur die, die müssen, sondern auch die, die glauben, sich aufgrund ihrer Vermögenssituation einen schlanken Fuß machen zu können. Die Gutsituierten, häufig aufgrund ihrer Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse zu anstrengungslosem Wohlstand gekommen, kosten den Staat Milliarden. 

Die faulen Aussteiger 

"Sie reduzieren ihre Arbeitszeit oder steigen ganz aus dem Berufsleben aus", warnt Kremer. Der Staat lasse das zu, obgleich Deutschland in einem Überlebenskampf mit China und den USA stehe, in dem jede Hand gebraucht werde. "Diese Leute arbeiten keineswegs alle weniger, weil sie körperlich oder zeitlich am Limit sind, geistig ausgebrannt oder komplett verbraucht und krank", sagt der Experte, "sondern schlicht, weil sie es sich leisten können." Mit Erbschaften und Schenkungen gemästet, sind es der Schweizer Studie zufolge besonders Menschen auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik, die von über Jahrzehnte kumulierten hohen Vermögen profitieren, "obwohl sie selbst meist auch über hohe Einkommen verfügt haben und trotz der hohen Abgabenlast in Deutschland sparen konnten". 

Das Ergebnis zeigt sich in verheerenden Werten bei älteren Arbeitnehmern, die oft früher in Rente gehen, wenn sie erben. Am stärksten ist die unmittelbare Wirkung auf die Arbeitszeit laut der Studie, wenn Menschen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren erben. Als einzige Begründung nannten viele Kremer zufolge, dass es ihnen reiche. 

Nicht mehr mit letzter Kraft 

Da Erben großer Vermögen in der Regel bereits im Voraus wissen, was auf sie zukomme, seien sie auch in der Lage, ihren Ausstieg zu planen. "Schon im mittleren Alter wird da häufig nicht mehr mit letzter Kraft gearbeitet", ist Kremer sicher. Da es keineswegs mehr die höheren Altersstufen seien, auf die in Deutschland der Großteil der Erbschaften entfalle, wirke sich das bei Bruttoinlandsprodukt spürbar aus: "Im Durchschnitt wird mittlerweile im Alter von 60 Jahren geerbt", sagt Wolfhardt Kremer: "Die Auswirkungen auf die Volkswirtschaft sind erheblich, denn die geleisteten Arbeitsstunden sinken durchs Erben um 1,7 Prozent, wodurch das Bruttoinlandsprodukt um geschätzt 1,1 Prozent geschmälert wird." 

Insgesamt sei die Situation sogar noch angespannter, denn nicht nur das Erben, sondern auch vom Staat betriebene Glücksspiele führen zur Senkung von Leistungsbereitschaft und Arbeitszeit. Wie die Studienautoren um Marius Brülhart ermitteln konnten, haben Lottogewinne eine noch stärkere unmittelbare Auswirkung als Erbschaften: Lottogewinner lassen spontan von der Erwerbstätigkeit ab, wenn sie glauben, dass sie sich um ihre spätere Alterssicherung keine Sorgen mehr machen müssen.

Geduldete Vermögen 

Für die Initiatoren des "Compass Gerechtigkeit"  ist das ein klarer Fingerzeig. Nach Jahren, in denen der Staat Vermögende geduldet und die Weitergabe von Vermögen durch Freigrenzen im sechsstelligen Bereich auf Kosten der Allgemeinheit gefördert habe, sei es höchste Zeit für grundlegende Reformen. Statt nur "an der Erbschaftssteuer herumzuschrauben", wie Kremer entsprechende Forderungen von Linkspartei, Grünen und SPD nennt, gelte es, "das Erben in Deutschland mit einem großen Wurf  zukunftssicher zu machen". 

Dazu solle der Staat sich selbst als Universalerbe für alle Vermögen oberhalb der auch schon für den Boomer-Soli vorgeschlagenen Freigrenze von 12.852 Euro im Jahr einsetzen. Da in Deutschland Schätzungen zufolge rund 400 Milliarden Euro vererbt werden, wie das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zuletzt vermutete, könne das treuhänderisch eingezogene Geld verwendet werden, um etwa jedem 18-Jährigen mit einem Grunderbe von 150.000 Euro beim Start ins Erwachsenenleben zu helfen. 

Schlange stehen nach der Uniform 

Kremer ist sich sicher, dass sich auf diese Weise auch die Frage beantworten ließe, wie die Bundeswehr ausreichend viele Rekruten finde. "Sobald es die Summe erst nach absolviertem Wehrdienst gibt, werden die jungen Leute nach der Uniform Schlange stehen."

Natürlich sei das noch nicht in trockenen Tüchern, denn eine andere Aufteilung der Erbmilliarden sei durchaus auch denkbar. So wäre es möglich, die eingehenden Summen auf alle Bürgerinnen und Bürger aufzuteilen. "Wir reden dann immer noch von einem Betrag von 4.500 Euro im Jahr, den viele trotz der schwindenden Kaufkraft des Euro als recht hoch empfinden werden. Auf ein ganzes Leben hochgerechnet ergebe sich für jeden Menschen im Land ein Betrag von zwischen 300.000 und 400.000 Euro. 

Die Gefahr, dass sich angesichts so hoher Beträge ein neuer Erbadel aus Bürgerinnen und Bürgern bilde, die ihren Anteil sparten, um ihn den eigenen Kindern zu  hinterlassen, sehe er nicht. "Jeder weiß doch dann, dass Beträge oberhalb der Freigrenze zu 100 Prozent weggesteuert werden, um eine gleichmäßige Vermögensverteilung zu garantieren und eine größere Gerechtigkeit herstellen kann".

Das Märchen vom klaren Kompass: Wo der Fleischer fleischt

Friedrich Merz hat einen klaren Kompass. Was er damit meint, ist nicht bekannt.

Wer rast, der rostet. Es braucht Mut zur Tücke. Wer den Schaden hat, der braucht für den Schrott nicht sorgen. Maß und Schnitte. Liebe geht durch den Kragen. Politik ist immer schon ein Geschäft gewesen, das mit dem Wort Macht ausübte. Mit Hilfe der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin und ihren Vorgängerinstitutionen werden die Spitzen der Parteien und der staatlichen Institutionen seit jeher mit Parolen, Leerformeln und ganzen Bedeutungskomplexen ausgerüstet.  

Historienbezogene Resilienz-Strategie 

Mit seinem Satz von der zunehmend führenden Rolle der Bedeutung der Mikroelektronik in der Klassenauseinandersetzung hat Friedrich Merz gerade erste ein leuchtendes Beispiel für  diese sogenannte Führung von vorn: Die Mikroelektronik zum "Schlüssel für eine gute Zukunft unseres Landes" zu erklären, gilt der politikberatenden Forschung als Meisterstück einer historienbezogenen Resilienz-Strategie.

Merz bezog sich direkt auf die Spätzeit der Honecker-Ära in der DDR, die ähnlich wie die Gegenwart in der Bundesrepublik geprägt war von einer großen Ratlosigkeit über Möglichkeiten, das Land zu retten und seine Bürgerinnen und Bürger bei der Stange zu halten.

Der CDU-Chef droht an seinen eigenen Ansprüchen zu scheitern. Gekommen als großer Reformator, der Deutschland zurückführt auf einen Wachstumpfad, sieht der älteste Kanzler des zurückliegenden Vierteljahrhunderts schon nach einem halben Jahr alte aus. Reformiert ist nicht und manchmal wirkt Merz selbst verwundert darüber. Es könnte allerdings sein, dass es am falschen Werkzeug liegt: Auch eben wieder hat Merz vom "klaren Kompass" gesprochen, den er habe. Doch der Kompass ist ein Anzeigeinstrument. Er  bringt niemanden voran, der kein Segel setzt. Ob "klar" oder nicht".

Gesegelt wird ein Kurs 

Gesegelt wird ein Kurs, kein Kompass. Dieser Kurs muss klar sein, nicht das Glas über der Anzeige. Doch auf seine Weise erzählt Friedrich Merz mit seinem verdrehten Parolismus und dem schrägen Märchen vom klaren Kompass eben genau die Geschichte seiner Ära: Die Dissonanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist so groß, dass sich ein Raum der Möglichkeit öffnet, unwidersprochen nicht nur Plattitüden verbreiten zu dürfen, sondern auch Plattitüden, deren innerer Zusammenhang in etwa dem der schwarz-toten Koalition entspricht.

In der Historie waren Zeiten einer Inflation der für jedermann erkennbaren Idiotie stets Zeiten vor großen Veränderungen. Erst kommen die Honeckers, die endlos, aber inhaltsleer dahinschwatzen. Dann gehen die Reste des Ersparten dahin. Und irgendwann fängt etwas Neues an. Die Älteren erinnern sich an die Ruinenlandschaften, in denen viele Honecker-Untertanen hausen musste. Klo halbe Treppe, Heizen mit Krümelbriketts. Ringsum verfallene Stadtbilder, Millionen aus dem klammen Staatshaushalt gingen in die Bruderstaaten in der dritten Welt. 

Und der große Bruder Sowjetunion, bis eben noch die unumstrittenen Führungs- und Schutzmacht, stand unter scharfem Reformverdacht. Aus Honeckers Misstrauen der ganzen Entwicklungsrichtung gegenüber  wurde ein neuer Kurs, weg von Moskau, deutlicher orientiert auf einen eigenen Weg, der die DDR zu einem "führenden Standort für neue Technologien" (Friedrich Merz) machen sollte.

Futter für die Falschen 

Der damalige Staats- und Regierungschef sah neue Technik als Möglichkeit, mit "komplizierten, nicht aufschiebbaren Problemen fertig zu werden". Wie es Merz heute darum geht, nicht den Falschen Futter für ihre Verschwörungstheorien vom vermeintlichen Versagen der Bundesregierung und der EU-Kommission zu geben, war auch Honeckers Entscheidung, auf Zuversicht als Tröstung zu setzen, als Kontrapunkt gegen das "Triumphgeschrei westlicher Medien über das Scheitern sozialistischer Gesellschaftskonzeptionen" gedacht.

Knackige Formulierungen wie das geflügelte Wort von Ochs und Esel, die den Sozialismus nicht aufhalten können, der mit zittriger Stimme vorgebrachte Schlachtruf  "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" oder das kräftig getuschte Sprachbild von den "tatkräftigen Frauen - und zwar von der Basis bis zur Spitze", sie verdankten sich der Arbeit der Worthülsendreher des früheren DDR-Kombinats VEB Geschwätz. 

Erbe des Reichsamtes 

Die traditionsreiche Propagandaschmiede, Rechtsnachfolger des Reichsamtes für Sprachpflege (RfS), belieferte die SED-Führung mit Plattitüden und Paronomasien, also Begriffen, die semantisch oder etymologisch nicht zusammengehören, sich jedoch im Klang ähneln und damit weit über ihre eigentliche Bedeutung hinaus Wirksamkeit im öffentlichen Raum entfalten.

Ein Brauch, an dem die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) als Bundeszentralamt für Bedeutungsmanagement bis heute festhält. Unter Leitung des seit 1990 amtierenden Direktors Rainald Schawidow produziert die BWHF einen steten Strom an Leerformeln wie "Stahl-Gipfel", "Rettungsschirm", "Leitkultur", "Energiewende" und "Wachstumspakt", "Systemfeinde", "Pandemieleugner" oder "Brandmauer". 

Unbestimmte Substantive 

Daneben aber beliefert das Kollektiv der Phrasendrescher*innen und Worthülsendreher die Politiker der demokratischen Mitte auch mit rhetorischen Figuren, die im politischen Nahkampf Verwendung finden. Unbestimmte Substantive wie "Reform" werden dabei nach einem noch aus den Beständen des Reichsamtes stammenden Schnittmusterbogen an beschreibende Begriffe geklebt. So entstehen schönfärbende Euphemismen, deren innerer Gehalt deutlich übertroffen wird von ihrem äußeren Gepränge. 

In den mit brutaler Härte und hoher Frequenz ausgefochtenen Richtungskämpfen in den Herzkammern Unsererdemokratie  aber bleibt inzwischen oft nicht mehr Zeit genug, sich professionell ausrüsten zu lassen, ehe es ins Gefecht geht. Die intellektuelle Eleganz, mit der die einzelnen Begriffe aus der BWHF  früher glänzten, ist geschwunden. Zwar ist bei der Serienproduktion an zusammengesetzten Substantiven zumindest auf den ersten Blick alles beim Alten  - wirkmächtige Plattitüden wie "Chemiegipfel", "Stadtbildgipfel", "Stahlgipfel" und "High-Tech-Agenda" belegen es. 

Machttaktische Kommunikationstechnik  

Doch im politischen Berlin geht mittlerweile nicht nur das politische Handeln, sondern auch das noch bessere Erklären der vorzüglichen Politik ganz eigene Wege. So kündigte der Kanzler selbst an, dass seine Regierung einem "klaren Kompass" folge. Gut gemeint, aber eine peinliche Bastardkonstruktion aus dem eigentlich gemeinten "klaren Kurs" und dem "politischen Kompass", der in der machttaktischen Kommunikationstechnik den aus der Dichtung bekannten "inneren Kompass" ersetzt. 

Der "klare Kompass" überzeugt durch seine umfassende Sinnfreiheit, er diente schon Politikernden wie Heiko Maas, Jan van Aken und Nancy Faeser, die damit paranomasisch am Gemeinten vorbeiredeten. Auch bei Friedrich Merz gehört die Paronomasie-Phrase schon lange zum Handwerkszeug im Ankündigungskoffer. Das Zwei-Gedanken-Amalgam Marke "Der Bäcker backt – der Fleischer fleischt" dient auf den ersten Blick einer Tatkraft-Simulation. 

Unvorbereitete Empfänger der "Kompass"-Botschaft glauben oft, die Floskel beschreibe einen real existierenden Gegenstand, bei dem es sich um einen Kompass handelt, der mit einer durchsichtigen Glasscheibe ausgestattet ist. Glück für Menschen und Medienlandschaft, dass Merz nicht "llar wie Kloßbrühe" gesagt hat.

Ein Verbum Paradoxum

In Wirklichkeit aber ist der "klare Kompass" ein noch recht junges verbum paradoxum, das sich keiner Zulieferung aus der BWHF verdankt. Vielmehr war es Friedrich Merz selbst, der die schräge Fügung vor fast einem Vierteljahrhundert im Umlauf brachte, als er der damals regierenden rot-grünen Bundesregierung einen fehlenden "klaren Kompass" vorwarf. Es war die Geburtsstunde eine sogenannten Spoonerismus, Widerspruch in der Beifügung, lateinisch Contradictio in adiecto. Dabei handelt es sich um einen logischen Widerspruch, der ohne Absicht formuliert wird und oft auch, ohne dass er bemerkt wird. Bekannt und überaus beliebt sind etwa das "vorläufige Endergebnis" oder die "exakte Schätzung".

Der "klare Kompass" ist weniger bekannt, aber sehr viel unauffälliger. Seine offenkundig unsinnige Nutzung ist auch in der Wissenschaft noch nie hinterfragt worden. Seine innere Widersprüchlichkeit wird ein Vierteljahrhundert nach Merz` erster öffentlicher Anwendung der Zwillingsformel nicht nur auf den Proklamationsbühnen der politischen Theater akzeptiert, sondern auch im medialen Bedeutungskampf um Aufmerksamkeit. 

Das Archiv des ehemaligen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" erzählt eine einzige Erfolgsgeschichte des missglückten Versuchs von Friedrich Merz, einen "klarer Kurs" auszurufen: Zwischen 1950 und dem Jahr 2000 existierte die Worthülse nicht. Bis 2005 bewährte sie sich in fünf Testläufen. Und seitdem ist der "klare Kompass" ein zentraler Code der politischen Klasse.

Sonntag, 2. November 2025

Der elektronische Phallus: Die Marktschreier des Marxismus

Die frühe Künstliche Intelligenz war bereits deutlich schlauer als viele heute agierende menschliche Intelligenzen.

Sie wissen nichts, können aber auf alles antworten. Sie haben keine Ahnung von dem, was sie sagen, liegen aber allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit nach meist richtig mit dem, was sie als wahr ermittelt haben. Im Unterschied zu echten Glaubenskriegern, die die Wirklichkeit so sehr hassen, dass es ihnen gelingt, sie komplett auszublenden, sind ihnen die Folgerungen egal, die sich aus ihren Schlüssen ergeben.

Während ein Mann wie der "Zeit"-Kommentäter Mark Schieritz noch eine Zehntelsekunde vor dem Aufprall in der Realität behaupten wird, der freie Fall sei das natürliche Habitat einer jeden Volkswirtschaft, ist die Künstliche Intelligenz nicht interessiert daran, eine eigene religiöse Überzeugung zum Maßstab ihrer Bewertung zu machen.  

Sie interessiert sich für die Fallgeschwindigkeit, den Gegenwind und die Struktur der mutmaßlichen Aufschlagstelle, prüft die Wahrscheinlichkeit noch möglicher Rettungsmaßnahmen und vermag daraufhin auf die Frage zu antworten, welche Überlebenschance Schieritz hat - samt seiner blickdichten Augenbinde.

Vorausschau durch die Augenbinde 

Das Problem dabei ist nicht der Umstand, dass Schieritz immer falsch liegt, die Künstliche Intelligenz aber gelegentlich nicht ganz richtig. Das Problem ist, dass bei letzterer niemand von außen herausbekommen kann, warum es so ist, wann und inwiefern. Mark Schieritz` Verlässlichkeit ist um Dimensionen größer als die selbst der am höchsten entwickelten Algorithmen: Der 51-Jährige bedient sich schon so lange einer Methode der strikten Fehlwahrnehmung, dass er wie eine stehengebliebene Bahnhofsuhr funktioniert. 

Es kann sein, dass der Blick aus Weltfremdenhausen auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit fällt, der so wahrgenommen wird, wie er sich tatsächlich darstellt. Die Regel aber ist eine Überinterpretation des zu Erkennenden im Sinne des tief im Inneren selbst Gewünschten.

Wie andere führende Repräsentanten der Haltungsökonomie nützt Schieritz der Gesellschaft auf seine Weise. Er blamiert sich, wird verhöhnt und ausgelacht, erfüllt damit aber zuverlässig seine Aufgabe als Kontraindikator. Sagt Schieritz A, ist B richtig. Beharrt Fratzscher auf C, kann nur D korrekt sein. Und sobald Höfgen sich für E einsetzt, macht niemand etwas falsch, der F bevorzugt. Das ist bekannt, das ist für die Mehrzahl der Menschen sicher abzuschätzen. 

Marktschreier des Marxismus 

Nur suchen inzwischen weit mehr Bürgerinnen und Bürger Rat und Hilfe bei der Künstlichen Intelligenz als bei der fehlenden der Marktschreier des modernden Marxismus. Das ist insofern problematisch, als jeder wissen kann, dass und weshalb die Riege der Lautsprecher des Sozialismus immer schiefliegen. Niemand aber zu sagen vermag, wann eine KI korrekt antwortet und wann sie nur in Teilen richtig Auskunft gibt. 

Irgendetwas rattert darin. Strom fließt durch Halbleiter und Spannung vibriert in Seltenen Erden, so ungefähr läuft der Prozess ab, an dessen heutzutage Ende Reise-, Routen- und Lebensplanung, Depotoptimierung, Krankheitsdiagnose und Heilmittelempfehlung stehen. 

Die KI als Wahlomat fürs ganze Leben - in ihrem dystopischen Buch "Hausgemachte Katastrophen" haben Kit Pedler und Gerry Davis schon vor mehr als 50 Jahren beschrieben, vor welche unlösbare Aufgabe die Menschheit sich gestellt sieht, wenn sie eine "sich in ihrer eigenen Komplexität suhlende Maschine" erschaffen hat, "die verzweifelt versucht, ihre Brauchbarkeit angesichts ihrer eigenen, von Menschenhand geschaffenen Unzuverlässigkeit zu erhalten". Die "Maschine", das war damals ein Personalcomputer mit der Rechenkraft eines Kopfhörers von heute, zu wenig selbst für die damals noch bescheidenen Ansprüche. 

Der rechnende Dinosaurier 

Schon der erste Rechner sei ein Dinosaurier gewesen, schlussfolgern Pedler und Davis, beider erfolgreich geworden als Drehbuchautoren für die Fernsehserie "Doctor Who". Die Evolution geht immer in eine Richtung, bis diese sich als falsch herausstellt - Microsoft-Gründer Bill Gates hat einen solchen Wegpunkt gerade öffentlich ausgerufen. Pedler und Davis lassen einen ihrer Protagonisten das große Ganze erklären: "Die großen Echsen wuchsen zu riesigen Monstren, hatten aber nur ein winziges Gehirn. Nun, ein kleines Gehirn mit langsamem Reaktionsvermögen kann einen solch riesigen Körper, wie den des Dinosauriers, nicht steuern. So musste das arme Vieh ein zweites Gehirn auf dem Rücken entwickeln – doch auch das war nicht genug. Sie wälzten sich im Dreck, und schließlich starben sie aus, da sie nicht mehr steuerbar waren." 

Deshalb "Dinosaurier-Effekt", heißt es weiter: "Wir stellen mehr und mehr komplizierte Maschinen her, und sie werden mit Sicherheit immer unzuverlässiger." Dazu kommen die Fehler, die zwischen dem Operator und der Maschine auftreten und - am Beispiel der Riege der Kontraindikatoren ist das gut zu sehen - wie eine Informationsblockade wirken. Bei einer Rechenmaschine, wie sie sehr viel früher genutzt wurde, ist die Fehlerherstellung transparent: Der Operator schiebt seine Kugeln hin und her und er stellt Berechnungen an und wenn er einen Fehler, so kann er das Innere der Maschine – die aufgereihten Kugeln – vor sich sehen. Er ist in der Lage, seinen Fehler sofort zu erkennen und ihn umgehend zu korrigieren, denn außer ihm selbst ist niemand da, der etwas falsch gemacht haben könnte. 

Jede Art Weltuntergang 

Mit dem Computer, so sorgten sich die beiden von jeder Art Weltuntergang begeisterten britischen Snobs Ende der 80er Jahre, ändert sich alles. "Sie stellen sehr schnelle Berechnungen an, Berechnungen, die wir mit dem Kopf niemals anstellen könnten, so ausdauernd wir dies auch versuchen würden." Das aber bedeute, dass von Rechnern erteilte Auskünfte etwa zu Wechselbeziehungen von komplizierten Variablen als zutreffend hingenommen würden. "Wenn die Maschine falsch berechnet, können wir die Fehlerquelle nicht sehen wie bei den Kugeln", schreiben die beiden Erfinder der Serie "Doomwatch"

Allenfalls zu lokalisieren würden sie sein, aber auch nur "in der ersten und zweiten Maschinengeneration". Absehbar aber war, dass die "Technologie von heute ein unersättlicher Moloch" ist. Jeder Entwickler sage sich, "meine letzte Maschine hat Berechnungen in x Sekunden erstellt, nun will ich sie so konstruieren, dass sie das in der Hälfte von x Sekunden macht". Das gelinge dann auch, "nicht, weil irgendjemand das wirklich benötigt, sondern weil es ein sehr gutes Verkaufsargument ist", glaubten die beiden SF-Autoren den Grund für die Entwicklung immer "kompliziertere und viel kleinerer Rechenelemente"  entdeckt zu haben. "Zuerst hatten wir die monolithischen Blöcke, jetzt haben wir die mikromonolithischen, und so weiter."

Auskünfte der Maschinen 

1971, Richard Nixon war US-Präsident, Willy Brandt bekam den Friedensnobelpreis und Erich Honecker putschte seinen Ziehvater Walter Ulbricht aus dem Amt, sahen die beiden Weltuntergangsliebhaber Davis und Pedler eine vielversprechende Zukunft kommen. 

Wenn Erfinder gezwungen seien, "sich neue Wege ausdenken, um die Leistung seiner Maschine zu erhöhen, nur um allen voraus zu sein, und so greift er auf das menschliche Gehirn zurück, um zu sehen, ob er nicht kleine Tricks kopieren kann, und er entdeckt, dass die Maschine lernen kann", glaubten sie. Daraufhin fange er an, "Schaltkreise einzubauen, damit die Maschine lernen kann – das heißt, er verbessert die zukünftige Leistung als ein Resultat der vergangenen Erfahrung". 

Der einzige Preis, der zu zahlen sein werde, vermuteten die beiden Briten vor einem halben Jahrhundert, sei die Sache aber vielleicht nicht wert. "Dieses Streben nach höchster Leistung geht auf Kosten der Zuverlässigkeit". Jedermann werde "wie wild" versuchen, "die letzte Unze an Arbeit aus den Schaltsystemen herauszupressen" und hier beginne das Risiko: Der Mensch werde sich dennoch auf die Auskünfte der Maschinen verlassen, deren Wahrheitsgehalt er ja ohnehin nicht mehr prüfen könne. 

Der elektronische Phallus 

"Es gibt Umstände, bei denen ein Fehler zwei nach sich zieht, aus zwei werden dann vier, und so weiter", lassen Pedler und Davis einen besorgten Wissenschaftler über die neue "Art mechanischer Geistesgestörtheit" sagen, die sie voraussehen, wenn Computer zum "elektronischen Phallus" – einem technologischen Statussymbol.

Samt aller Folgen: "Als Spezies werden wir unglaublich faul und geben mehr und mehr von unseren eigenen Funktionen an die Mechanik ab." Das sei so verlockend und gemütlich, dass die Entwicklung niemanden mehr beunruhigen werde, schließlich führe sie dazu, dass Computer gemacht würden,  "die so verdammt gut sind, dass wir nicht einmal deren Fehlerquellen mehr erkennen können". Ein halbes Jahrhundert später ist es wirklich so weit gekommen. 

Wirklich Verlass ist nur noch auf die, die immer falsch liegen.

Syrien: Erst Stadtbild, dann Rückkehr

Nie hat Johann Wadphul größere Zerstörungen gesehen. 

Bei einem Besuch in Syrien hat Bundesaußenminister Johan Wadephul die deutsche Flüchtlingspolitik ein weiteres Mal ganz unerwartet und unbürokratisch umdimensioniert. Waren Geflüchtete aus Syrien anfangs allein aufgrund ihrer Herkunft jeweils vorübergehend für ein Jahr als Kriegsflüchtlinge anerkannt, weil eine Rückkehr in die Kriegsgebiete ihnen nicht zuzumuten war, hat der CDU-Politiker vor Ort jetzt einen wegweisenden neuen Vorschlag gemacht. Die Anerkennung der Nochnichtsolangehierlebenden könnte künftig verlängert werden, so lange das Stadtbild in Syrien nicht stimmt.  

Kein anderer Ort 

Es gab keinen anderen Weg, keinen anderen Ort, nirgendwo sonst sichere Zuflucht. Als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sich im Sommer 2015 entschloss, die Grenzen Deutschland nicht zu öffnen, setzte ein Zustrom an Geflüchteten ein, der mit nichts zu tun hatte. Merkel selbst versicherte später, das Wort "Zustrom" nie gemocht oder genutzt zu haben. Schließlich sei es um Menschen gegangen. 

Doch so ist das, wenn das Alter die Erinnerung trübt und nur noch die Hoffnung bleibt, dass sich auch sonst niemand mehr an längst vergangene Zeiten und die lange schon verschüttete Milch der frommen Denkungsart entsinnen kann. Merkel beharrt auch nach zehn  Jahren noch auf den Parolen jener Herbsttage vor zehn Jahren, als es ihr, der belächelten ostdeutschen Quereinsteigerin, erstmals gelang, sich den Respekt der Meinungseliten der alten Bundesrepublik zu erringen. Zur eigenen Verwunderung waren Merkels einsamer Entscheidung sogar Medien beigesprungen, die als halbrechts galten. Rum wie um, hieß es da zu ihrer "umstrittenen Entscheidung" (Focus): "Merkels ,Grenzöffnung' hatte kaum Auswirkungen auf Flüchtlingszahlen".

Gleich um die Ecke 

Gekommen wären sie sowieso, Deutschland liegt, etwa von Syrien aus betrachtet, gleich um die Ecke. Auf dem kürzesten Landweg sind nur die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich zu durchwandern, schon ist der Flüchtende am Ziel. Eine knappe Million machte sich hierher auf. Fast so viele wie vor dem brutalen Regime Baschar Assads in den direkt benachbarten Libanon flohen. 

Deutlich mehr als Jordanien aufnahm. Viermal so viele, wie im Irak unterkamen. Achtmal mehr als Ägypten    aufnahm.  Das "freundliche Gesicht", wie es Merkel nannte, beschämte die gesamte arabische Welt. Weder Saudi-Arabien noch die Vereinigten Arabischen Emirate nahmen Flüchtlinge aus Syrien auf. Auch die reichen Scheichtümer Katar und Oman weigerten sich, die vor Assads Schergen und dem Bürgerkrieg zwischen den Autokraten und seinen islamistischen Feinden Flüchtenden aufzunehmen.

Syrien als Staatsräson 

Deutschland sprang ein, beherzt und kurzentschlossen. Syrien war Staatsräson. Drei Prozent aller Kriegsflüchtlinge aus dem Luftlinie 3.000 Kilometer entfernten Land kamen nach Deutschland. Selbst nach Kasachstan, Usbekistan, Russland, Äthiopien und Tunesien wäre der Weg deutlich kürzer gewesen. Bis nach Indien, China oder Spanien kaum nennenswert länger.

Über vier Millionen Menschen hatten schließlich das Bürgerkriegsgebiet in Syrien verlassen – eine Million von ihnen kam in Deutschland an. Es brauchte nicht einmal eine Debatte im Bundestag oder gar einen Beschluss des Parlaments, die Grenzen zu "öffnen", wie US-Präsident Barack Obama den Vorgang später beschrieben hat, oder sie zumindest nicht zu schließen, wie Faktenchecker der "Tagesschau" den Prozess als naturgesetzliches Nicht-Ereignis erklärten. 

Kein Zettl für das Haus der Geschichte 

Da waren sie dann halt da, sogar ohne schriftlichen Befehl. Im Unterschied zur letzten großen Grenzöffnung gab es diesmal nicht einmal einen Zettel, der sich goldgerahmt ins Haus der Deutschen Geschichte in Bonn würde hängen lassen, unmittelbar neben dem des Maueröffners Günter Schabowski. Traurig, denn so werden auch spätere Generationen nie nachvollziehen können, was in jenem magischen Sommer 2015 eigentlich geschah, warum und auf welchen verschlungenen Wegen.

Doch Deutschland profitierte. Der angekratzte Ruf der einst so bewunderten  europäischen Führungsnation lebte von der Bereitschaft seiner politischen Führer, alles zu riskieren, um einen guten Eindruck zu machen. Das war und ist den Parteien der Mitte so wichtig, dass der Bundestag sich bis heute weigert, irgendeine Art von Einschränkung der grundlegenden Offenheit vorzunehmen. In dieses Glas passt alles Wasser der Welt. Diese Röhre hat keinen Rand, über dem sie überläuft.

Seehofers Obergrenze 

Die vom damaligen Innenminister Horst Seehofer im Jahr 2016 vorgeschlagene Flüchtlingsbremse namens "Obergrenze mit atmendem Deckel" scheiterte zuletzt trotz einer Umbenennung in "Zustrombremse" im Parlament. Auch wenn es in manchen Regionen grummelt und meckert - deutsche Behörden machten niedrigschwellige Angebot, um auch den Familiennachzug nach Deutschland zu fördern.

Syrer*innen, das hatten Forschende des berühmten Instituts der Deutschen Wirtschaft früh ermitteln können, sind mathematisch nicht besonders talentiert. Über ihre Lese- und Schreibkompetenzen gebe es aber keine gesicherten Informationen. "So lässt sich über die funktionale Analphabetenquote keine Aussage treffen."

Auch andere Vorurteile stellten sich als haltlos heraus. Syrische Schulabschlüsse würden von der Bundeszentralstelle für ausländisches Bildungswesen "verhältnismäßig hoch" eingestuft. Syrien verfüge ja auch "über eine geregelte Berufsausbildung, die vor dem Krieg immerhin von rund 15 Prozent eines Jahrgangs besucht wurde". Auch seien "in Syrien vor dem Krieg sehr viele Ärzte und Zahnärzte ausgebildet" worden. Entsprechend hoch sei ihr Anteil auch unter den anerkannten ausländischen Berufsabschlüssen in Deutschland. Bis heute sind es 6.000 - ein Anteil am Gesamtzustrom von 0,6 Prozent, der etwa identisch ist mit dem Anteil, den Ärzte und Zahnmediziner in der deutschen Bevölkerung bilden.

Alles war befristet 

Trotzdem. Sie würde zurückgehen. Das alles war auf Zeit befristet. Sobald der Bürgerkrieg beendet sei und Syrien frei von Assad und seiner Geheimpolizei, sei es Wunsch und Wille der Deutschland geflüchteten Demokraten, umgehend zurückzueilen, um ihr Heimatland wiederaufzubauen. So wenig es später gelang, die wahren Gründe für den großen Treck nach Deutschland "zu benennen" (Focus), so sicher schien das Ende vorgezeichnet. 

Aus dem Kommen werde ein Gehen werden. Aus dem Zustrom ein Aderlass. Früh schon erhoben sich Stimmen, die dafür warben, die "geschenkten Menschen" wie sie die grüne Spitzenpolitikerin Katrin Göring-Eckardt in einem Anfall von humanistischem Überschwang nannte, zum Bleiben zu überreden. Diese meist jungen Leute, überwiegend Männer, seien doch ideal geeignet, die anstehende demografische Katastrophe abzufedern und die Renten der deutschen Boomer zu zahlen. 

Erste Wahl für den vorderen Graben 

Zudem, murmelte es später, wären sie aufgrund ihrer durch Flucht und Entbehrung gestählten robusten Natur im Fall eines heißen Konflikts mit Russland erste Wahl für die Besetzung der vorderen Gräben. Das mancher meinte, die Flüchtlinge seien "zu fremd", "zu islamisch", "anpassungsunwillig" und "integrationsunfähig", stellte sich als komplettes Fehlurteil heraus. Vielen sind in Deutschland neue Wurzeln gewachsen.

"Kinder, die in unseren Schulen lesen und rechnen lernen", sprechen "die mit westfälischem, niederdeutscher oder oberbayerischem Einschlag", berichtet die Frankfurter Rundschau. Eltern ernährten "ihre Familien durch ehrliche Arbeit" – "oft in Berufen, in denen wir selbst längst zu wenige haben: in der Pflege, in der Landwirtschaft, in den Werkstätten, als Selbstständige im Handel." Der Satzbau ist nicht ganz nachvollziehbar. Aber Fakt ist: Amazon hätte keinen einzigen Paketboten, wären sie nicht da und bereit, beim Niederringen des traditionellen Einzelhandels zu helfen.

Eines Tages 

Johann Wadephuls Versprechen, dass Flüchtlinge aus Syrien nicht nach Hause zurück können, so lange das Stadtbild dort nicht dem entspricht, was Deutschland ihnen schuldet, ist ein großer Schritt zu einer endgültigen Lösung. War anfangs stets die Rede davon, dass alle eines Tages zurückkehren müssen, nur eben nicht jetzt, weil Assad den Krieg gewonnen hatte, hieß es später, alle würdenzurückkehren, sobald Assad sie wieder einlasse. 2018 lobtze das Innenministerium eine Prämie für freiwillig Ausreisende aus. Doch der Islamische Staat stand der großen Rückreisewelle im Wege. 

CDU und CSU wollten den Abschiebestopp für Syrer nur bis Sommer 2018 verlängern. Doch die Zeit verging, und selbst als es besser wurde, wurde es nicht gut genug. Assad flüchtete. Ein steckbrieflich gesuchter Islamist übernahm. Abu Mohammed al-Jawlani verwandelte sich binnen Wochen vom blutbefleckten Schweinehund in den selbst in den großen Runden der Demokraten vorzeigbaren Präsidenten Ahmed al-Scharaa. Ein Anzugträger, der Wadephul bei seinem Besuch in Damaskus freundschaftlich mit einer Umarmung begrüßte.

Jeder will die Syrer 

Die Gefahr, dass al-Scharaa Deutschland seine Syrer wegnehmen könnte, bestand durchaus. Es brauchte erst Johann Wadephuls Intervention, um sie zu bannen. Sichtlich beeindruckt von den Eindrücken, die er in seinem schwer verwüsteten Vorort von Damaskus gewonnen hatte, gab Wadephul seiner Erwarung Ausdruck, dass er nicht damit rechne, "dass kurzfristig eine große Zahl syrischer Flüchtlinge freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren" werde. In Syrien sei "sehr viel an Infrastruktur" zerstört, ein "solch großes Ausmaß an Zerstörung habe er persönlich noch nicht gesehen", sagte der Außenminister. "Hier können wirklich kaum Menschen richtig würdig leben."

"Richtig würdig leben" ist damit die aktuelle Linie der Bundesregierung für die Vergabe des Aufenthaltsrechts in Deutschland. "Die Sehnsucht nach der alten Heimat bleibt", heißt es in der Frankfurter Rundschau. Aber angesichts der Bedingungen muss sie eine Sehnsucht bleiben. Die rechtliche Hürde, dass Hunderttausende kein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland haben und das Land deshalb eigentlich verlassen müssten, wird durch Zuwarten überwunden. 

"Noch in diesem Jahr" 

Je länger die Zeit zurückliegt, in der alle Aufenthaltstitel nur vorübergehend, zeitweise und bis auf Widerruf vergeben wurden, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jede Forderung nach Rückkehr als verachtenswerter Anfall von Unmenschlichkeit auf den Forderer zurückfällt. Wadephuls Einschätzung, eine Rückkehr sei "zum jetzigen Zeitpunkt nur sehr eingeschränkt möglich", war unionsintern gegen Bundesinnenminister Alexander Dobrindt gerichtet. Dessen Ministerium plant mit Blick auf die im kommenden Jahr drohenden Landtagswahlen Abschiebungen nach Syrien, weil das im Koalitionsvertrag so vereinbart worden sei. Begonnen werde solle "mit Straftätern" und das noch "in diesem Jahr".

Doch angesichts der Tatsache, dass nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) alle syrischen Aufnahmekapazitäten "bereits erschöpft" sind, weil schon rund eine Million Syrerinnen und Syrer aus den Nachbarländern in ihre Heimat zurückgekehrt sind, wird es auch dazu sicher nicht kommen.