Mittwoch, 26. November 2025

Lauterbach-Idee: Zukunft aus der Sterbeliste

Karl Lauterbach Rentenbeitrag,  einkommensabhängige Rentenbeiträge,  aktuarisch fairer Beitrag,  Lauterbach Vorschlag zurückgezogen,  Rentenreform SPD,  Niedrigverdiener Beitragsentlastung,  Gutverdiener höhere Rentenbeiträge
Lauterbach bringt Geld ins Spiel.

Gerechter muss werden, endlich und wieder einmal. Und weil es mit höheren Steuern nicht geklappt hat, sollen es diesmal höhere Beiträge sein. Erst knapp 43 Prozent ihres Einkommens geben die Deutschen, sofern sie werktätig sind, direkt an Vater Staat ab, ehe sie einen einzigen Cent ausgeben können.  

Doch auch wenn das viel scheint, mehr sogar als in 95 Prozent der bisherigen Standzeit des besten Deutschlands, das "wir" (Olaf Scholz) jemals hatten, reicht es hinten und vorn nicht. Jede Auslandsreise eines deutschen Regierungsmitglieds löst bei den Daheimgebliebenen Furcht und Zähneklappern aus. Wird er wieder? Rieseln ihm die Scheine aus den Taschen? Wie viel gibt sie diesmal? Reichen Millionen oder werden es wieder Milliarden?

 Reisende mit guten Gaben

Die Trips hinaus in die Welt gipfeln erfahrungsgemäß immer in guten Gaben, die den Mühseligen und Beladenen überall auf dem Globus offeriert werden. Dazu muss auch die Bundeswehr tüchtig werden. Es gilt, prächtige Renommierbauten zur Erinnerung an die Gestaltungskraft der Demokratie aus dem Boden zu stampfen. Und den Tisch reichlich zu decken für die, die immer noch kommen, weil sie an das deutsche Modell eines raschen Klimaausstiegs glauben. 

Karl Lauterbach, ehemals Christdemokrat, dann SPD-Hinterbänkler, schließlich Gesundheitsminister und heute Deutschlands Mann für die anstehende Eroberung des Weltalls, ist mit einer Idee zur Mobilisierung zusätzlicher Milliarden vorgeprescht. Während sich seine Partei und die Union in Grabenkämpfen um Beitragspromille Anfang des nächsten Jahrzehnts aufreiben, macht der Vater der letzten großen Krankenhausreform sich Gedanken viel größeren Ausmaßes.

In den SPD-Jahren noch einmal stark gestiegen 

Weil die Einkommensungleichheit in den letzten sieben Jahren, in denen die SPD gemeinsam mit CDU, CSU, Grünen und FDP regierte, "noch einmal stark gestiegen" sei, hatte der 62-Jährige kurzerhand eine "eigene KI gestützte Berechnung der Verwerfungen im Rentensystem" (Karl Lauterbach) durchgeführt. Oder durchführen lassen. Der jeweilige Beitrag der jeweiligen Intelligenz ist nicht klar abgetrennt. 

Herauskam aber jedenfalls ein erschütternder Beweis für dafür, dass die Beiträge zu den gesetzlichen Vorsorgekassen einerseits faktisch für alle gleich, für Niedrigverdiener aber zugleich zu hoch und für Gutverdiener deutlich zu niedrig sind. Mit derzeit 18,6 Prozent Rentenbeitrag für alle etwa zahlten Menschen mit einem Bruttoeinkommen von 1.500 Euro nach Lauterbachs Berechnung 3,6 Prozent zu viel. Doch schon ein "Gutverdiener" (Lauterbach) mit 2.500 Euro brutto im Monat spare zum "aktuariell fairen Beitragssatz" (Lauterbach) ein halbes Prozent. 

Kampfbegriff für Scheingefechte 

Lauterbachs aktuarische Gerechtigkeit.
"Aktuariell" ist ein Begriff aus der Versicherungsmathematik, der als "aktuarisch" geläufiger ist, im politischen Scheingefecht aber mit einem ausgedachten Gegner aber wie ein scharfes Schwert funktioniert. Einmal flott geschwungen, traut sich niemand mehr, zu fragen, wer ihn da gerade rasiert hat. So schwierig er aber klingt, meint er doch nur die Berücksichtigung von Lebenszeiten bei der Berechnung von Beiträgen.

Ausgedacht hat sich das der englische Astronom Edmond Halley, der auf der Basis von Sterbelisten aus Breslau ein Modell zur Berechnung der Sterblichkeitsverhältnisse erfand, das bis heute als Grundlage für Lebensversicherungsmodelle gilt. Wer früher stirbt, ist länger tot. Die Versicherung, die das früher weiß, nimmt wegen des höheren Zahlungsrisikos rechtzeitig einen höheren Beitrag.

Ungleichheit schafft Gerechtigkeit 

Bei Lauterbachs Fairness-Berechnung, die wegen der "großen Unterschiede in Lebenserwartung" (Lauterbach) zwischen Arm und reicher auf Beitragssätze zielt, die zur Schaffung "echter Äquivalenz stark vom Einkommen abhängig" sein sollen, ist die Idee allerdings weniger versicherungs- als politmathematisch. Lauterbach folgt der alten Maxime aller Sozialisten: Nur Ungleichheit schafft Gerechtigkeit. Sind alle willig, braucht es auch keine Gewalt.

In Vorbereitung auf seinen großen Wurf hatte Lauterbach schon Tages vor seinem aktuaristischen Aufschlag darauf hingewiesen, dass "Ärmere und untere Mitte immer stärker AfD" wählen. Sozialreformen seien nötig, schon allein, weil es überall an Geld fehle. "Aber sie müssen auch Ungleichheit abbauen", schlussfolgert der Ex-Minister, in dessen Zuständigkeit die Krankenkassenbeiträge stabil blieben. Nur die Zusatzbeiträge stiegen von 1,3 auf mittlerweile 2,5 Prozent.

Der gute Wille ist immer noch da 

Der gute Wille war da, aber die Kraft hat nicht gereicht. Das bringt die Leute gegen die Regierung auf, das macht sie kirre, sauer und anfällig für Populismus, Rechtsfaschismus und einfache Lösung. Lauterbachs hat eine: Die Bitterarmen zahlen nur noch aktuariell gerechte 15 Prozent. Wer mehr als ein monatliches Bruttoeinkommen von 2.500 Euro vereinnahmt, gibt dafür etwas mehr als bisher, denn er zählt zu den "Gutverdienern". 

Lauterbach zeigt sich als echter Sozialdemokrat. Der SPD-nahe Wirtschaftswissenschaftler Marcel Fratzscher hatte Bürgerinnen und Bürgern eben erst schon ab knapp über 1.000 Euro im Monat mit einer Sonderabgabe namens "Boomer-Soli" belegen wollen. Seine Studien hatten zuvor ergeben, dass Menschen mit einem Einkommen von mehr als 12.000 Euro im Jahr zu den Bessergestellten gehören, deren Bereitschaft, sich solidarisch zu zeigen, vorausgesetzt werden kann. 

Mit spitzem KI-Bleistift 

Die Summe liegt jedoch nicht einmal bei der Hälfte eines Einkommens aus einer Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn - für einen waschechten Sozialdemokraten wie Karl Lauterbach ein Ding der Unmöglichkeit, einfache Leute, treue Wähler und langjährige Genossen auf diese Art eiskalt abzukassieren. Der Gesundheitsökonom aus Düren hat deshalb mit spitzem KI-Bleistift nachrechnen lassen. Und die Grenze zwischen Armut und Reichtum kurzentschlossen auf 2.500 Euro nach oben geschoben.

Das liegt deutlich über den 2.312 Euro, die in Deutschland genau in der Mitte zwischen den beiden je gleich großen Gruppen von Mehr- und Wenigerverdienern liegen. Wer vor dem Abzug von allem 2.500 Euro hat, dem bleiben netto 1.960 Euro - fast 160 Euro mehr, als es hierzulande braucht, um sicher Mittelschicht zu gehören. Nur fair, dass die, die so im Geld schwimmen, sich solidarisch zeigen mit denen, die im Augenblick noch bluten müssen, damit die Wohlhabenden aus ihrem dicken Geldbeutel statt eines fairen Beitrages von 23,1 Prozent nur 18,6 Prozent zahlen müssen. 

Ein erschrockener Rückzug 

Alles sehr gut ausgedacht, auf den Cent genau aktuaristisch geprüft und letztlich nicht nur als Waffe gegen Rentenkollaps und Koalitionsbruch tauglich, sondern in der Weiterdrehe auch nützlich gegen den Beitragsanstieg bei Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. Trotzdem geschah das Unerwartete: Noch ehe die Koalitionsparteien eine Kommission aus den führendsten Aktuar-Experten des Landes zusammenrufen konnten, um für die Zeit nach 2040 über einen Systemumbau zu beraten, zog Karl Lauterbach seinen epochalen Vorschlag kommentarlos zurück.

Stattdessen schwärmt der Sozialdemokrat jetzt von einer "weltweiten Explosion der Sonnenenergie", er schimpft darüber, "dass aber sich bei Rente die Arbeit für Geringverdiener fast nie gelohnt hat, weil sie kaum über der Grundsicherung liegt" und er empfiehlt, statt über das "notwendige Maß hinaus auf Gas zu setzen, so viel wie möglich durch Batterien abzupuffern".

Dienstag, 25. November 2025

Methode Röttgen: Der Frieden wird fürchterlich

Die Enttäuschung über die Friedensbemühungen der Amerikaner sitzen bei Norbert Röttgen so tief, dass er der US-Regierung Käuflichkeit und Verrat an den gemeinsamen Werten vorwirft. 

Sie stehen da wie die Kuh, wenn es donnert. Europa, erschrocken, ungläubig und blamiert. Kommt es zum Allerschlimmsten, verrät der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine treuen europäischen Verbündeten, Unterstützer und Helfer. Um mit dem garstigen Feind von Übersee hinter dem Rücken der engsten Partner einen jener berühmten Deals abzuschließen, mit denen Trump seit zehn Monaten die Welt durchrüttelt.

Hohn für den ersten Anlauf


Im ersten Anlauf haben sie alle noch gehöhnt. Es folgten die üblichen Verschwörungstheorien. Trump stehe auf Putins Gehaltsliste. Er agiere im Auftrag des Kreml. Er sei natürlich verrückt, aber rational genug, um die Europäer zu zwingen, auf russisches Öl und Gas zu verzichten, damit seine Big Boys aus der Ölindustrie ihr Fracking-Zeug zu überhöhten Preisen losschlagen können. 

Zugleich sei Trumps Friedensinteresse rein egoistisch geleitet. Der wolle doch nur den Friedensnobelpreis, also etwas, das die EU längst hat. Das Scheitern der Alaska-Mission wurde mit unübersehbarer Häme kommentiert. Hatte er sich wieder reinlegen lassen, der Depp im Weißen Haus! Hatte ihn der trickreiche Russe erfolgreich geködert und wie geplant ausmanövriert.

Aufatmen in der EU

Aufatmen in der EU, aber auch in Großbritannien. Zwei Jahre nach der Zeitenwende ist Europa nicht schon wieder für ein Wendemanöver bereit. Und schon gar nicht für eins, bei dem man den Menschen neuerlich erklären müsste, warum schon wieder alles ganz anders ist als bisher – das aber jetzt, genau wie vorher versprochen, garantiert für eine lange, lange Zeit bis zur Ewigkeit.

Dass Trump nicht locker gelassen hat, offenbar motiviert von seinem Erfolg im Nahen Osten, den ihm Europa noch immer nicht verziehen hat, war ärgerlich. Doch in Berlin, Brüssel und Paris glauben sie längst selbst an die endlos wiederholten Geschichten vom Russen, der sich in der Ukraine nur Appetit holt, um ab 2029 den Rest Europas aufzuessen. Lass ihn machen, sagten sich Merz, von der Leyen und Macron, die es ohnehin nicht ändern konnten. 

Dicke Bände mit Prinzipienpapieren 

Entsetzen aber nun, als der zweite Anlauf drohte, in eine Art Vorfrieden zu münden. Auf den letzten Drücker reichten die Europäer ihre Einwände ein. Dicke Bände voller Prinzipienpapiere, die nach einem dringenden Friedenswunsch riechen wie eine Abdeckerei nach Veilchen. Such fünf Tage danach ist noch unklar, ob irgendjemand in Washington, Kiew oder Moskau die als Verbesserungsvorschläge getarnten Sabotageversuche überhaupt gelesen hat.

Selenskyj jedenfalls hat sie nicht genutzt, um eine Allianz der Antiamerikaner hinter sich zu versammeln und den Krieg nur noch gestützt auf die Macht Europas weiterzuführen. Der ukrainische Präsident, der dem Druck aus Washington widerstanden hatte, bis der große Korruptionsskandal an seinem Hof wie ein Vulkan ausbrach, scheint plötzlich bereit, die alte Formel Land gegen Frieden in Erwägung zu ziehen. In seiner ersten Rede an die Nation sprach Selenskyj von Würde, die sein Land nicht aufgeben dürfe, aber vielleicht aufgeben müsse, wolle es den einzigen Verbündeten behalten, den es wirklich brauche.

Gellegende Friedensglocken

In Berlin klang das wie gellende Friedensglocken, gerade in den Ohren derjenigen, die ihre jüngere Karriere einer messerscharfen Profilierung als Falken zu verdanken haben. Marie-Agnes Strack-Zimmermann teufelte auf den „sogenannten Friedensplan“ ein, da hatte sie ihn noch kaum gelesen. Anton Hofreiter, der Grüne mit dem Haarschnitt eines niederländischen Hippie-Soldaten, bot sich als Kanonenfutter an. Der CDU-Außenexperte Roderich Kiesewetter nannte die US-Vorschläge einen „Kapitulationsplan“, gegen den sich Deutschland aussprechen müsse. 

Trump stehe aufseiten Russlands. Es so weit kommen gelassen zu haben, sei „Ausdruck des Versagens Europas“. Das müsse eingesehen werden. Wer das nicht tue, stelle sich gegen alles, was wir glauben. „Anstatt über sinnlose Pläne zu reden, sollte Europa endlich anfangen, die Ukraine so zu unterstützen, als wäre die Ukraine schon in EU und NATO“, schrieb Kiesewetter. Denn faktisch sei die Ukraine Europas erste Verteidigungslinie. Will heißen: Falle sie, ist der Weg bis Finistère frei.

Die neuen kalten Krieger

Enttäuschung überall. Donald Trump hat die EU fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Selbst der eine Punkt im Plan, der vorsieht, dass die NATO darauf verzichten müsse, die Ukraine als Mitglied aufzunehmen, stieß den neuen kalten Kriegern böse auf. Natürlich könnte die NATO die Ukraine ohnehin nicht aufnehmen, solange nicht alle Mitgliedstaaten inklusive der USA zustimmen. Aber auch der Verzicht auf etwas, das man sowieso nicht haben kann, fällt manchmal schwer. 

Etwa dem stets als „Unions-Fraktionsvize“ vorgestellten Norbert Röttgen. Der Mann aus dem Rheinland hatte  sich nach seiner erfolglosen Bewerbung um die Nachfolge der damaligen CDU-Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer und der Wiederholung dieses Misserfolgs im Wettbewerb mit Friedrich Merz lange als Umweltpolitiker, Bürokratieabbauer und Digitalisierer angepriesen. Erst mit dem russischen Angriff auf die Ukraine wechselte die Pferde: Röttgen, ausweislich seiner öffentlichen Biografie ungedient, verwandelte sich in einen lupenreinen Wehrpolitiker.

Enttäuscht von Trump

Seine Enttäuschung über Trumps Friedensplan und die kaum mehr zu leugnende Wahrscheinlichkeit, dass er eines Tages aufgeht, frisst der 60-jährige Jurist aber nicht nur in sich hinein. Der „Zeit“ gewährte Röttgen jetzt einen Einblick in die verletzte Seele eines verratenen Mannes. Der Christdemokrat, immerhin stellvertretender Vorsitzender der amerikanisch-deutschen Initiative Atlantik-Brücke, in der deutsche Politiker gebacken werden, sieht einen „Einschnitt“, denn nach Monaten der Hoffnung auf Strenge aus Amerika „hat man sich eindeutig russische Forderungen zu eigen gemacht, mit dem Motiv, selbst Kasse zu machen“.

Die Methode ist bekannt, aber wirksam. Während Norbert Röttgen sich selbst und allen, die die Dinge sehen wie er, zubilligt, ausschließlich aus hehren Motiven heraus zu handeln, wertet er alle die, die angesichts einer verfahrenen Situation, die Menschen jeden Tag ihr Leben kostet, als eigennützige, nur am Profit interessierte Käuflinge ab. Das Muster fällt ins Auge: Röttgen meint es gut, wenn er den Krieg fortsetzen möchte, denn es geht um Höheres als ein paar tausend oder hunderttausende Leben. Es geht um Würde, Völkerrecht, Prinzipien, die Unverletzbarkeit von Grenzen. Trump, Vance und Rubio dagegen arbeiten nur für sich. Sie streben nach Profit. Nach dem Friedennobelpreis. Nach Macht und Reichtum.

Das Verfahren hat im politischen Nahkampf inzwischen die althergebrachte Sachauseinandersetzung vollkommen abgelöst. Es werden keine Argumente mehr getauscht, nur noch Bezichtigungen, je übler, desto besser. Hier lautet eins: "Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich". (Christian Vetter in "Die Abenteuer des Werner Holt", 1965).

Ein entsetzter Atlantiker 

Dass jede einzelne Anwendung der Sudelmethode das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in die Ehrbarkeit der Politik und die lauteren Motive von Politiker weiter untergräbt, nimmt auch Norbert Röttgen in Kauf. Der Schaden, den er den US-Amerikaner zuzufügen erhofft, erscheint es ihm wert, einen Schaden an Unsererdemokratie in Kauf zu nehmen. 

#Sogar die russischen Milliarden, die die EU am liebsten selbst verwenden würde, traut sie sich nur ran, wollten die Amerikaner sie wegnehmen – laut sogenanntem Friedensvertrag auch noch mit Zustimmung der Russen. „Die Amerikaner verlangen etwa, dass die in der EU eingefrorenen russischen Milliarden nicht etwa der Verteidigung der Ukraine zugutekommen, sondern in einen Fonds fließen, dessen Gewinne am Ende zur Hälfte an die USA gehen“, schildert Röttgen eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen: Die Russen könnten den Amis russisches Geld freiwillig geben, um die Profite aus dem Wiederaufbau der Ukraine zu teilen. „Das hätte ich mir nicht vorstellen können.“

Krieg und Frieden

Für Norbert Röttgen spielt die Frage nach Krieg oder Frieden im Grunde keine große Rolle. Der Anwalt, der vor 31 Jahren direkt nach der Zulassung in den Bundestag wechselte und so vermeiden konnte, allzu sehr mit der Realität in Berührung zu kommen, wird in jedem Fall nicht mehr eingezogen. Er hat gute Chancen, den Dritten Weltkrieg am Rhein zu verbringen, jener Zentralregion der alten Bonner Republik, für die Russe noch naturgegebener Feind war. Aus der sicheren Distanz sieht Röttgen  im Besuch des Bundeskanzlers bei Trump eine zweite Zeitenwende. Merz hatte den schweigend absolviert, sichtlich froh, nicht vorgeführt und zu unbedachten Äußerungen verleitet zu werden.

Dieser Tag habe einen „grundlegenden Bruch“ gebracht, glaubt Röttgen. Er fächert die Konsequenzen schon im Präteritum auf: „Wir durften unsere Geschichte und unsere Interessen nicht leichtfertig aufgeben und mussten versuchen, die USA unbedingt an unserer Seite zu halten.“ Vorbei. Vergangenheit. Es war vergeblich. Röttgen greift wieder ins Fach mit den Verschwörungstheorien: „Die aktuelle US-Administration hat den Gedanken einer Allianz für die gemeinsame Sicherheit schlichtweg verkauft“ und sich „bei Fragen der europäischen Sicherheit auf die Seite des kriegführenden Diktators“ geschlagen.

Enttäuscht und entsetzt


Ein verbitterter Mann, enttäuscht und entsetzt, weil die Amerikaner sich entschlossen haben, einen Frieden zu suchen, ohne auf den wild durcheinander plappernden Chor ihrer europäischen Verbündeten zu hören. Mit letzter Kraft versucht Röttgen, das Beste aus der Lage zu machen. In der zerstrittenen Koalition müssten nun „alle Differenzen angesichts dieser Bedrohung hintangestellt werden“. Nie war die Lage schlimmer, seit der Russe vor Berlin stand. Der mögliche Friede in der Ukraine sei eine „akute Bedrohung europäischer Sicherheit und Souveränität“.  Das letzte ist ein Wort, größer als alles, was Röttgen zu beschreiben versucht. 

„Es muss jedenfalls jedem klar werden, dass es in dieser Lage eine wichtigste Regierung und einen wichtigsten Regierungschef in Europa gibt für die Frage von europäischer Sicherheit.“ Bei dieser Regierung handele es sich um die deutsche, mit dem wichtigsten Regierungschef sei Friedrich Merz gemeint. „Die Bundesregierung und den Bundeskanzler in ihrer Autorität und Handlungsfähigkeit zu stärken, ist jetzt ein absolutes Muss.“ Denn „falls sich Putin durchsetzt“ – „Putin“ steht hier als Chiffre für Trump – „haben wir größere Schwierigkeiten als den Nachhaltigkeitsfaktor bei der Rente im Jahr 2032.“

Damit dürfte Norbert Röttgen richtig liegen. Mit Russlands Angriff auf Europa wird 2029 gerechnet.

Tag des Femizids: Siegeszug einer Kampfparole

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Der Begriff "Femizid" ist eine Erfindung jüngeren Datums, ausgedacht, um darüber hinwegzutäuschen, dass die Mehrheit aller Mordopfer in Deutschland männlich ist.

Sprachlich holpert er selbst bei den großen Engagementzentralen herein wie ein Eselskarren mit Achsenbruch. Zum "Orange Day 2025", einem noch recht jungen Aufwallungsanlass der behördlich anerkannten Zivilgesellschaft, ruft der NDR energisch zu "Aktionen gegen Gewalt an Frauen". Auch die Frau im Rheinland kann sich freuen, denn hier wird  viel "gegen Gewalt an Frauen" getan. Nicht genug natürlich, das meldet die Taz aus Berlin. "Übergriffe auf Frauen nehmen zu, Frauenhäuser sind überlastet. Das Gewalthilfegesetz soll helfen", hat es aber nicht.  

Ein Tag Ende November 

Vielleicht kann es nun dieser eine Tag Ende November richten, der "seit 1991 auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam macht", wie die UN-Frauenorganisation informiert. Seit 1999 ist der 25. November offiziell der "Internationale Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen". Im Zuge der von den Vereinten Nationen initiierten Orange-the-World-Kampagne verlieh die Weltgemeinschaft dem Tag die Farbe Orange als Erkennungszeichen. Sie symbolisiere wie der berühmte Orange-Man Donald Trump eine Zukunft ohne Gewalt gegen Frauen, hieß es. 

Um die Symbolkraft weiter zu verstärken, erhielt der Gedenktag der Frauengewalt, gelegen zwischen dem "Tag der Hausmusik" und dem "Welttag der Zeitschriften", 2008 noch die Ernennung zum Teil der "UNiTE to End Violence against Women"-Kampagne, die der UN-Generalsekretär neben Israelkritik zu seiner wichtigsten Chefsache gemacht hat. 

António Guterres leidet selbst am schwersten unter Nachrichten über On- und Offline-Gewalt gegen Frauen.  "I call on the world to unite to end violence against women everywhere", rief der greise Portugiese den Völkern der Welt zu. Gewalt gegen Frauen sei eine "schreckliche Menschenrechtsverletzung" und eine "globale Krise", die durch Konflikte, Klimawandel und Online-Missbrauch verschärft werde. 

Mut und Einsatz bei der Uno 

Den Finger noch in der Wunde, forderte Guterres Mut und Einsatz von allen Institutionen. Die Welt brauche verstärkte Investitionen in Prävention, eine Beendigung der Straflosigkeit für Täter, die Unterstützung von Frauenaktivistinnen und einen weltweiten, vereinten Einsatz aller Sektoren, um Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu beenden. Die "Überlebenden digitaler Gewalt", so schrieb er, bräuchten zudem mehr Unterstützung.

Die Weltgemeinschaft tut, was sie kann. 2011 erfolgte die zusätzliche Widmung des International Day for the Elimination of Violence against Women zum Roses Revolution Day, an dem nun auch zum Protest gegen Gewalt in der Geburtshilfe aufgerufen werden darf. Und im Zuge der zunehmenden Leugnung von globaler Geschlechtervielfalt durch staatliche Akteure findet der jüngste Festtag des Feminismus informell nun auch als Tag gegen Gewalt an Frauen, Mädchen sowie lesbischen, intergeschlechtlichen, trans, nicht-binären und agender Flinta-Personen statt.

Allerdings ist unter der Last der Menge der symbolischen Mahnungen eben sprachlich alles aus dem Ruder gelaufen. Seit das Bundesministerium für Bildung, Familien, Senioren, Frauen und Jugend das Bundesförderprogramm "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen" und die Bundesservicestelle "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen" als Teil des deutschen Gesamtprogramms zur Umsetzung des  Übereinkommens des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ins Leben riefen, läuft alles aus dem Ruder. 

Der "Internationale Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen", wie er offiziell heißt, verkam zum "Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen" oder  gar zum "Tag gegen Gewalt an Frauen". Die Bundesregierung betreibt unter dem falschen Titel sogar eine Internetseite.

Verluderte Sitten 

Die Sitten verludern. Die globalen Vorgaben, abgesprochen  mit der Weltgemeinschaft, werden achselzuckend ignoriert. Im Stille-Post-Prinzip wird der Sprache Gewalt angetan: Gewalt, so steht es im deutschen Strafgesetzbuch, wird gegen "Personen oder gegen die öffentliche Ordnung" ausgeübt, etwa durch Nötigung (§ 240 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB) und den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB). Sie wird nicht an Personen angewendet, auch nicht an Frauen. Denn Gewalt ist kein Kleid, das an einer Frau aussieht. 

Doch genötigt durch den selbst Ministerialen einleuchteten Missklang der korrekten Komposition "Tag gegen die Gewalt gegen Frauen" verlegte sich das offizielle Einsatzkommando auf die Konstruktion "Tag gegen Gewalt an Frauen". Ein richtiges Signal wird durch falsche Formulierungen nicht schlechter. Es bestand große Hoffnung, dass das schräg zusammengeschraubte Tagesmotto im Zuge des allgemeinen Kulturabbaus nicht auffallen würde. Und so kam es auch: Der "Tag gegen Gewalt an" hat allgemeine Anerkennung gefunden. 

Geschichte einer Erfindung 

Doch die Geschichte des deutschen Kampfes gegen Femizide ist nicht nur eine der steten Versuchung, die Grundregeln der eigenen Sprache zu ignorieren. Sie ist auch die Geschichte einer Erfindung aus Verzweiflung, die zur medialen Waffe wurde. Noch im Dezember vor zehn Jahren, so zeigen es statistische Daten, war der Begriff "Femizid" in Deutschland ein Fremdwort. Frauen wurden in manchem Jahr häufiger ermordet als Männer, Männer wiederum in anderen Jahren häufiger als Frauen. 

Es gab keinen Anlass Morde an Angehörigen des einen Geschlechts zu einer anderen Art Tat zu erklären als Morde am anderen. Auch die Gesamtzahlen zeigen keineswegs einen beunruhigenden Trend: Die Anzahl der polizeilich registrierten Mordopfer geht seit Anfang der 2000er Jahre zurück. Damals lag sie bei durchschnittlich 400 bis 500 Toten pro Jahr, im Jahr 2024 waren es nur noch 285. Häufiger betroffen waren im zurückliegenden Vierteljahrhundert Männer: Unter den etwa 7.500 Mordopfern seit dem Jahr 2000 waren  55 Prozent Männer und nur zirka. 45 Prozent Frauen.

Nirgendwo ein Maskuzid 

Dennoch gibt es keine Versuche, "Maskuzide" nicht nur als Strafsachen und individuelle Tragödien zu behandeln, sondern als Symptome tiefer gesellschaftlicher Risse zu sehen. Das tut nur der Begriff "Femizid", dessen Siegeszug ausweislich der Daten seiner Verwendung in deutschen Medien im Jahr 2016 begann. Über die >Ursachen können nur Vermutungen angestellt werden. 

In besagtem Jahr fand der Brexit statt, die US-Präsidentschaftswahlen endeten mit dem Sieg von Donald Trump, die WHO rief das Zika-Virus zur globalen Bedrohung aus und in Kolumbien endete der Bürgerkrieg. Was genau das alles womit zu tun haben könnte, müssen spätere Historikergenerationen herausfinden. Fakt ist, dass der Femizid nach 2016 eine Reise antrat, die ihn vom Nischencode zu einem Medienphänomen machte. 

Im Feuer des Zorns 

Ausgedacht hatte sich das Wort die US-amerikanische Soziologin und Aktivistin Diana E. H. Russell bereits 1976. Doch die Erfindung, geschmiedet im Feuer des feministischen Zorns darüber, dass Männer meist Männer umbringen, aber auch Frauen häufiger von Männern umgebracht werden als Männer von Frauen, gebar die aus Südafrika stammende Spezialistin für Vergewaltigungen, Morde an Frauen, Inzest und Pornografie den englischsprachigen Ausdruck Begriff "Femicide". 

Russell präsentierte ihn bei einem Internationalen Tribunal gegen Gewalt an Frauen in Brüssel, vor 2.000 Teilnehmerinnen aus 40 Ländern. Er sei der Schlüssel zur Verbreitung der Behauptung, dass Männer Frauen töteten, weil sei Frauen seien. Diese Art Mord sei "nicht zufällig, sondern strukturell begründet". Wer die Strukturen ändere, so Russell, könne folglich auch Femizide verhindern.

Später stellte sich heraus, dass Russell ihren Kampfbegriff dem englischen Dichter John Corry gestohlen hatte, der bereits 1801 verwendete. Doch zwischen Mitte der 70er Jahre und Mitte der 2010er galt das Wort ohnehin als tot. Es benannte nichts, was deutsche Gerichte nicht im Verlauf jedes Strafverfahrens zu klären versuchen: Welches Motiv hat ein Mörder? 

Das Aus für Ehrenmorde

Erst nach 2016 entfaltete sich die Benennungsmacht eines Begriffes, des pauschal urteilt, indem er Tötungen von Frauen als geschlechtsspezifisch markiert. Anfangs waren es noch "Ehrenmorden" in bestimmten Milieus, die als brutalster Ausdruck von Geschlechtergewalt Entsetzen auslösten. Nach und nach aber umarmte der Femizid alles, was Frauen an Gewalt erfahren. Von Morden in Beziehungen, die inzwischen als "Intim-Femizid" bezeichnet werden, über Kriegsvergewaltigungen die als "Femigenozid" aktenkundig werden, bis zu den gefürchteten Ehrenmorden, die mit Hilfe des neuen Sammelbegriffes abgelöst werden konnten, reicht das Spektrum. 

Nicht einmal eine Frau muss mehr zwingend dabei sein, denn mit der Ausweitung des Orange Day auf "lesbische, intergeschlechtliche, trans, nicht-binäre und agende Flinta-Personen" definiert nicht mehr die traditionelle Geschlechterzuordnung die Chancen einer Anerkennung als Femizid. Sondern deren der strukturelle Aspekt patriarchaler Machtverhältnisse, die Tötungen ermöglichen. Was anfangs in feministischen Kreisen kursierte, in denen viele spürten, welche Möglichkeiten auf mediale Verbreitung der neuen Definition steckte, hat sich mittlerweile durchgesetzt. 

Fast jeden Tag ein Femizid 

Die Lage ermordeter Frauen ist seit 2018 immer wieder Thema im Bundestag, deutlich häufiger als die Sicherheitslage auf deutschen Weihnachtsmärkten, Flughäfen oder in Schulen. Befeuert von Statistiken der UN, nach denen die Anzahl der Frauenmorde um ein Drittel angestiegen ist, nutzen Politiker das Trendthema, um Unsicherheit und Angst zu schüren. Die frühere Innenministerin Nancy Faerser etwa warnte 2023 davor, dass es "fast jeden Tag einen Femizid" gebe. Dazu hatte sie alle 360 in Deutschland ermordeten Frauen zu Opfern von Femiziden erklärt. Und das, obwohl es im gesamten Jahr nur insgesamt 299 Morde gegeben hatte. 

Doch der Femizid heiligt die Mittel. Er hat Gewaltschutzgesetzen in die Welt geholfen, dafür gesorgt, dass Frauenhäuser als probates Mittel gegen Gewalt betrachtet werden und der Glaube, dass mehr Geld mehr nützen würde, mächtiger ist denn je. Die Rettung ist nahe, denn auch die EU-Kommission hat das Thema inzwischen entdeckt: Eine neue EU-Richtlinie weist die Mitgliedstaaten an, Femizid extra zu registrieren. Die Hoffnung ist groß, dass sich aus den eingehenden Zahlen etwas "gegen Gewalt an Frauen" machen lassen wird. 

Neuordnung der Erinnerungslandschaft: Helden mit Ablaufdatum

Begraben wurde Heinz Rühmann als nationales Heiligtum. Jetzt wurde der Schauspieler ausgegraben, noch einmal besichtigt und der Verehrung für nicht würdig befunden.

Sein Tod war eine nationale Tragödie. Heinz Rühmann war tot, der deutsche Nationalschauspieler, der mit Filmen wie  "Die Drei von der Tankstelle" bis "Die Ente klingelt um ½ 8" die Herzen von Millionen erobert hatte. Rühmann, geboren in Essen, verkörperte auch die Janusköpfigkeit seines Heimatlandes.  Sein Aufstieg begann schon vor dem Adolf Hitlers. Er setzte sich unter Hitler fort. Und er endete keineswegs mit dessen Ende.

Beerdigung eines Heiligtums 

Niemand musste dem Hans Pfeiffer aus der "Feuerzangenbowle" etwas verzeihen, weil er noch knapp vor Kriegsende zur Erheiterung des Tätervolkes beigetragen hatte. Rühmann, ein guter Bekannter von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels und häufig zu Gast in dessen Haus am Bogensee in der Nähe von Berlin, pausierte nur zwei Jahre, ehe er als "Der Herr vom andern Stern" auf die Leinwand zurückkehrte. Schnell war auch der Erfolg wieder da. Zeitangepasst spielte Heinz Rühmann jetzt ernstere Rollen. Doch hauptsächlich sorgte er weiter für gute Unterhaltung trotz schlechtem Gewissen.

Einer wie alle. Einer für alle. Viereinhalb Jahrzehnte waren Star und Publikum eins. "Wir werden das Kind schon schaukeln", rief Rühmann, der in "Der brave Soldat Schwejk" zeigte, dass sich am Ende der durchsetzt, der sich am besten durch die Fährnisse seiner Zeit schlängelt. Als der Mime starb, es war natürlich an einem 3. Oktober, dem vierten erst, der als Tag der Einheit gefeiert wurde, dimmte die staatsamtliche "Tagesschau" das Studiolicht. 

Deutschlands einst "beliebtester Schauspieler" 

"Heinz Rühmann gestorben", lautete die traurige Mitteilung, nachdem die Nachricht eingegangen war. "Mehr als sechs Jahrzehnte stand Deutschlands bekanntester und wohl auch beliebtester Schauspieler auf der Bühne", las Dagmar Berghoff vor. Der Schauspieler habe "in über 100 Filmen ein Millionenpublikum beeindruckt". Zwei Minuten und 19 Sekunden Sendezeit widmet die Nachrichtensendung dem nationalen Verlust. Im Rückblick auf Rühmanns Leben laufen allerlei Filmausschnitte noch einmal über die Mattscheibe, denn es gilt "die vielseitige Karriere des großen Charakterdarstellers" (Tagesschau) zu beleuchten.

Seine einfache Art habe ihn für jedermann zur Identifikationsfigur gemacht, hieß es im  liebevoll gemachten Lebensrückblick. Der zeigt Ausschnitte aus frühen Filmen Rühmanns, springt dann unverhofft in die Nachkriegszeit und abgesehen von der Nennung des 1941 gedrehten Kinoerfolges "Quax, der Bruchpilot" könnte Heinz Rühmann während der Jahre der Hitlerdiktatur auch "In weiter Ferne, so nah!" gelebt haben, Titel des Wim-Wenders-Films, mit der seine aktive Filmlaufbahn im Jahr zuvor beendet hatte. 

Der Liebling der Nation 

Da war einer gegangen, um den es schade war. Ein Liebling der Nation, ein sympathischer Kerl, der nach Kriegsende zum Glück doch nicht von den Sowjets gekapert worden, war, um im Osten eine sozialistische Filmwirtschaft mit humanistischer Botschaft aufzubauen. Rühmann, das war Konsens, hatte vielleicht nicht alles richtig gemacht im Leben. Aber auch nichts falsch. 

Ein Irrtum, wie inzwischen bekannt geworden ist. Im Zug der Neuordnung der Erinnerungslandschaft hat auch die deutsche Filmwirtschaft Experten verpflichtet, die dunklen Ecken ihrer Vergangenheit auszuleuchten. Vor allem sollte das Münchner Institut für Zeitgeschichte die NS-Vergangenheit der bekanntesten deutschen Kino-Stars durchleuchten. Genügen die auch heutigen Ansprüchen an außerberufliche Unfehlbarkeit? Haben sie sich jederzeit und weit genug entfernt gehalten von der Versuchung, in einem System moralisch sauber zu bleiben, hinter dem eine überwältigende Mehrheit der Deutschen mit großer Begeisterung stand?

Unternehmen Geschichtsrevision 

Der Abstand zum Tag, an dem mit Rühmann "der größte deutsche Schauspieler" (Tagesschau) starb, war mit 30 Jahren groß genug, um eine Geschichtsrevision vorzunehmen. Heinz Rühmann, der Lausbub und Fernsehliebling, fiel wie 13 bekannte Kulturschaffende als "NS-belastet" oder "NS-konform" durch den frisch polierte moralischen Rost der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e.V. (SPIO). 

Rühmann bekam seine "Ehrenmedaille" aberkannt, ebenso wie Fassbinder Produzent Ludwig Waldleitner, Hitler Lieblingsfotografen Leni Riefenstahl und die russlanddeutsche Emigrantin Olga Tschechowa. Sie SPIO kann das, denn sie ist nicht rechtsidentisch mit der gleichnamigen Vorläuferorganisation, die 1923 in Berlin gegründet wurde und ihren jüdischen Vorsitzenden Erich Pommer, Regisseur des Welterfolges "Metropolis", sofort nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten fallen ließ. 

Der rausgeworfene Jude 

Dass die Organisation nun denn "ihre" Vergangenheit aufarbeitet, wie  der mit der Aufgabe betraute Historiker Bernhard Gotto sein Gutachten überschreibt, gehört zu jener Art deutscher Rätsel, die wohl nie gelöst werden können. Der Fall Erich Pommer kommt im Zuge der "Korrektur historischer Fehlentscheidungen" (Gutachten) nicht vor. Dafür aber kommen auch die "beiden Nicht-Parteimitglieder" Rühmann und Tschechowa nicht schadlos aus dem Gerichtssaal: "Ebenfalls systemloyal" hätten die beiden Filmstars agiert. "Sie genossen die materiellen
Privilegien und die Wertschätzung von NS-Potentaten wie Hitler, Goebbels und Goering."

Niemand würde sich heute so verhalten. Kein Kulturschaffender sucht im Deutschland der Jetztzeit die Nähe der Macht, ihren Schutz, ihre Hilfe und Protektion. Studienleiter Bernhard Gotto, als heute 52-Jähriger noch eine Art Zeitgenosse von Rühmann, bricht den Stab mit Stil über dem so lange für verehrungswürdig gehaltenen Schauspieler. Rühmann sei kein Nazi gewesen. Auch lasse sich für ihn  "keine materielle NS-Belastung" erkennen. 

Neue moralische Maßstäbe 

Doch die moralischen Maßstäbe einer Generation, die in auf ihrem ganzen geruhsamen Lebensweg aus der Augsburger Mittelstandsfamilie in die Münchner Professur 30 Jahre später nie vor der Wahl zwischen zwei Übeln stand, sind scharf genug gewetzt, um nachholend Widerstand auch gegen "weitere Kategorien" von Schuldigen leisten zu können.

Die sind etwa als "NS-Konforme" erfasst, das heißt als "Personen, die während der NS-Diktatur
ihre Systemloyalität durch den Beitritt in die NSDAP, der SA oder der SS zum Ausdruck
brachten, ohne dabei ein Amt oder eine Funktion darin auszuüben". Rühmann hatte das eine nicht und auch nicht das andere getan. Aber, so hat das Femegericht in München entschieden: "Außerdem fallen Personen darunter, die ein besonders hohes Ansehen als Filmstars genossen und daher eine
privilegierte Position in der NS-Unterhaltungsindustrie einnahmen."

Symbolisch die Maske vom Gesicht 

Leider ist Rühmann tot. Leider lässt sich ihm die Maske nur noch symbolisch vom Gesicht reißen. Da sich ihm das Dutzend "Bambis", all die Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland mit Stern und Schulterband, der Silberner Chaplin-Stock des Verbandes Deutscher Filmkritiker, die Goldene Ehrenmünze der Landeshauptstadt München, der Magdeburger Otto für das Gesamtwerk, die Goldenen Kameras und Goldenen Leinwände, die Silbermedaille des New York Filmfestivals und der Ernst-Lubitsch-Preis Ernennung so wenig wegnehmen lassen wie die Ernennung zum "Staatsschauspieler" anlässlich des 50. Geburtstages von Adolf Hitler, lautet das Urteil auf posthume Entziehung der Verbandsehrenmedaille der SPIO.

Für Rühmann ein harter Schlag. Der einst gefeierte Star wird zum Gesellenstück einer neuen Geschichtsbetrachtung, die die Vorstellungen der heute lebenden Generation bei der Bewertung früher lebender Menschen als absolut setzt. Es wird nicht mehr nur erinnert und gemahnt. Es wird benotet, als hätte der Täter seine Tat nicht unter ganz anderen Bedingungen geplant und durchgeführt. 

Die totalitären Enkel 

Dass Rühmann in einer Diktatur lebte, die ihre Gegner nicht mit dem Entzug von Ehrenmedaille zu bestrafen pflegte, sondern mit dem Verlust des Lebens, hindert die unter weitaus glücklicheren Bedingungen aufgewachsenen Enkel und Urenkel nicht daran, rückwirkend zu erwarten, dass sich auch unter den Lebensumständen in der Nazi-Diktatur jeder so hätte verhalten müssen, wie sie es im Land von Einigkeit und Recht und Freiheit heute tun.

Kein Kungeln mit der Macht. Kein Heranwanzen an die, die einem die Arbeit ermöglichen oder einen zerstören können. Natürlich würde jedes Vorstandsmitglied des Filmwirtschaftsverbandes einem Reichspropagandaminister heute seinen Protest ins Gesicht schmettern, wenn ein Drehbuch nicht seinen demokratischen Grundwerten entspräche. Natürlich würde auch Forschungsleiter Gotto selbst um den Preis des Verlustes seiner Professur nicht einen Finger rühren, beauftragte ihn ein diktatorisches Regime, unter den aktiven Fernsehschaffenden "demokratiekonforme" auszusieben. 

Rühmanns Schuld und Schuldigkeit 

Rühmanns Schuld besteht darin, dass er nicht die Haltung zeigen wollte, die heute jedermann zeigen würde: Koste es, was es wolle, das Richtige zu tun. Im Unterschied zu damals täte es heute jeder. Das ist die Lehre der Geschichte, die der Entzug der "Ehrenmedaille" an Rühmann unterstreicht. Schon  das Beispiel DDR hatte gezeigt, dass Künstlerinnen und Künstler nach dem Ende des Dritten Reiches  nicht bereit waren, sich sofort als Lautsprecher des nächsten Totalitarismus zu betätigen. Lieber gingen sie ins Gefängnis, als Kompromisse zu machen - eine Haltung, die an den Tag zu legen noch heute Vertragsbestandteil für jeden "Tatort"-Kommissar, Talkshow-Gastgeber und ZDF-Clown ist. 

Keiner der aktuellen Fernsehlieblinge würde nur wegen des drohenden Verlustes von Privilegien, Einkommen oder Freiheit einknicken wie Heinz Rühmann. Die "Kaltschnäuzigkeit", mit der die jetzt verurteilten Mimen und Filmschaffenden trotz der damals herrschenden  Diktatur an ihrem gewerbe festhielten, zeige ein "bestürzendes Gesamtbild", hat Berhard Gotto seine Erkenntnisse zusammengefasst. 

Die Besserwisser 

Früher lebende Menschen hatten offenbar versucht, mit den Verhältnissen klarzukommen. Später lebende Mitschuldioge prämierten das mit Preisen, Orden und Ehrenmedaillen. Erst heute hat eine Generation das Ruder übernommen, die die dabei gemnachten historischen Fehler nicht nur korrigieren, sondern rückwirkend Strafen aussprechen kann, um die Vergangenheit zu säubern und sich selbst auf der richtigen Seite der Geschichte zu platzieren.

Rühmanns Verdammung ist ein Signal. Jeder, der den Mimen gut fand, steht nun unter Verdacht, es mit der vrioschriftsmäßigen Haltung nicht genau genug zu nehmen. 80 Jahre nach dem Fall des Hitlerregimes ist es demokratische Pflicht, sich über die zu erheben, die in der Situation waren, sich unterzurordnen oder gegen ein Regime zu rebellieren, das keinen Zweifel daran ließ, dass es jeden Widerstand mit Gewalt vernichten würde. 

Montag, 24. November 2025

Das alte Lied: Wer noch Lust hat, General zu werden

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Aristophanes Stück "Der Frieden" hat Jahrtausende bei guter Gesundheit überstanden.

Aristophanes wurde geboren, als die heute gültigen Kalender noch nicht benutzt werden konnten. Um das Jahr 448 vor Christus soll er zur Welt gekommen sein gewesen sein, als Sohn von Philippus in Kydathen in Athen, damals einer der griechischen Stadtstaaten, demokratisch regiert, von Sklaven aufgebaut und eine Führungsmacht im attischen Seebund. Aristophanes studierte ein Orchideenfach, er wollte Dramatiker werden und wurde es. Er schrieb seine Stücke erst anonym, wurde aber schnell berühmt und trat dann unter seinem eigenen Namen auf.

Mit Hohn und Spott 

Sein Trick war es, Zeitkritik in Hohn und Spott zu verkleiden. Wie ein früher Jan Böhmermann zielte in seinen Werken auf die Mächtigen, auf Entscheidungsträger und einfache Leute, die von der Norm abwichen. Seine spitze Feder war wegen ihrer satirischen Schärfe gefürchtet. Die drastischen Darstellungen in seinen Stücken ließen dem Publikum in Aufführungen seiner Texte das Lachen im Halse steckenbleiben. Er prangerte die "Schmausbrüder" und die "Babylonier" an, ließ sich böse über Bauern und Ritter aus, machte sich lustig über Reiche, Frösche und Störche.

Als Aristophanes an den Dionysien des Jahres 421 v. Chr. seinen "Eirene"  - zu Deutsch Frieden - aufführte, war er – trotz der im Stück selbst erwähnten Glatze – noch ein junger Mann von etwa 24 Jahren. Die Festspiele zu Ehren von Dionysos, dem Gott der Ekstase, wurden für den jungen Dichter zu einem Triumphzug. Aristophanes Wagnis, sich dem umstrittenen Thema des damals schon seit zehn Jahren laufenden Krieges Athens mit dem konkurrierenden Sparta zu widmen, zahlte sich aus. Schon im sechsten Jahr seiner Karriere wurde der Magier des Reims zum Star, weil er in seinem Stück Zweifel ausformulierte, die viele Athener beim Blick auf die Frontlage befallen hatten.

Mehr als der Krieg zweier Städte 

Der später als Peloponnesische Krieg aktenkundig gewordene Zwist zwischen dem von Athen geführten Attischen Seebund und dem Peloponnesischen Bund unter seiner Führungsmacht Sparta war mehr als der Krieg zweier Städte gegeneinander. Der Attische Seebund, nach den Perserkriegen 50 Jahre zuvor als freiwilliges Verteidigungsbündnis freier griechischer Städte gegründet, war im Laufe der Zeit zu einem reinen Macht- und Zwangsinstrument Athens geworden. 

Die Athener nutzen ihn, um ihre Vormachtstellung im Ägäischen Meers zu sichern und auszubauen. Die Hauptstadt des Bundes hatte sich mit langen Mauern bis nach Piräus gegen Bedrohungen gesichert. Aus dieser festen Position heraus strebte Athen nach uneingeschränkter Herrschaft.

Aufrufe zur Vernunft 

Doch der Peloponnesische Bund unter Führung Spartas stellte sich dem entgegen. Die "Lakedaimonier und ihre Mitkämpfer", wie sich Peloponneser nannten, fühlten sich von Athen bedroht. Anfangs konnte sich König Archidamos II. noch durchsetzen. Er rief zur Vernunft auf, vermochte aber nicht zu verhindern, dass die Kriegerpartei Athen bezichtigte, den dreißigjährigen Frieden von 446 v. Chr. gebrochen zu haben. 

Es folgte die förmliche Kriegserklärung, die zum Ausgangspunkt end- und fruchtloser Kämpfe wurde. Das reiche Athen litt. Es wurde belagert. Eine Seuche forderte zahllose Opfer. Aristophanes schrieb "Der Frieden" und er verspottete die Intellektuellen, die den Krieg für notwendig erklärten. Die Bürger, die ihn für gewinnbar hielten. Und die Mächtigen, die ihn schon allein deshalb fortzusetzen gedachten, um nicht eingestehen zu müssen, dass er vermeidbar gewesen wäre.

Ein schräges Stück 

Aristophanes wurde angezeigt und wegen Verleumdung angeklagt. Herrscher Kleon versuchte, ihm die Staatsbürgerschaft aberkennen zu lassen. Aristophanes blieb bei seinen Leisten und er schuf mit "Der Frieden" ein in der Form von heute aus gesehen schräges Stück, dessen Inhalt die Jahrtausende seit seiner Entstehung schadlos überstanden hat.

Aristophanes: Eirene ("Der Frieden") ab Vers 292 ff., gekürzt

TRYGAIOS (zum Chor)
An die Arbeit, Leute! Mit den Schaufeln geht hinein und schafft die Steine weg!

CHORFÜHRER (zu Hermes)
Zähl auf uns! Du aber, aller Götter weisester, übernimm als Fachmann hier vor Ort die Leitung! Du wirst gleich sehen: wir sind tüchtige Mitarbeiter.

TRYGAIOS (zu Hermes)
Komm rasch und halt die Schale hin! Wir wollen ein Gebet erschallen lassen – und dann frisch ans Werk!

HERMES
Opfer, Opfer! Auf die Knie und schweigt!

TRYGAIOS
Wir opfern betend, dass der heutige Tag für Griechenland der Anfang sei von reichem Segen, und dass, wer kräftig jetzt am Seil mitzieht, in Zukunft niemals mehr zu Felde ziehen muss!

CHOR
Dass er, bei Zeus, in Frieden leben kann mit einer hübschen Dirne und das Feuer schüren!

TRYGAIOS
Wer aber lieber Krieg als Frieden will …

CHOR
Soll jeden Tag, o Herr Dionysos, sich die Geschosse aus den Armen klauben!

TRYGAIOS
Und sollte einer, weil er Oberst werden will, es dir nicht gönnen, Herrin, hier ans Licht zu kommen …

CHOR
Soll ihm das Herz gleich in die Hosen fallen – wie Kleonymos!

TRYGAIOS
Ist einer Waffenfabrikant und Waffenschieber und wünscht sich Krieg für sein Geschäft …

CHOR
Dann soll er Terroristen in die Hände fallen und nichts bekommen außer Brot und Wasser!

TRYGAIOS
Und wer noch Lust hat, General zu werden, und wer als Sklave vorhat, blauzumachen und nicht hilft …

CHOR
Der werde aufs Rad geflochten, ausgepeitscht!

TRYGAIOS
Auf uns jedoch komm Segen! Schenk uns reiches Erbarmen!

CHOR
Lass doch das „Armen“ weg! Bete: schenk uns reiches Erben!

TRYGAIOS
Gut also: reiches Erben! Erben, sage ich! Von Hermes, von den Grazien, den Horen, Aphrodite und der Liebe – von Ares … Hau ruck ho!

CHORFÜHRER (zu Trygaios und Hermes)
Heda, ihr zwei, kommt, helft uns ziehen!

TRYGAIOS
Zieh ich denn nicht? Ich häng ja in den Seilen, leg mich rein und tue, was ich kann!

CHORFÜHRER
Warum denn kommen wir nicht weiter?

TRYGAIOS (zu einem Choreuten)
Herr Oberst Lamachos, das ist ja Obstruktion! Wir können’s auch ohne deine Fratze machen!

HERMES (auf eine andere Gruppe weisend)
Und das Argiverpack hat auch nicht mitgezogen; sie haben nur gelacht, als wir uns abgemüht – und als Neutrale gleich von beiden Seiten profitiert.

TRYGAIOS
Doch die Spartaner, unsre Feinde, ziehen tüchtig!

HERMES
Nur grad die Kriegsgefangenen möchten gern; doch die sind interniert und können nicht hinaus.

TRYGAIOS
Auch die Megarer sind uns keine Hilfe!

HERMES
Sie ziehen immerhin und zerren …

TRYGAIOS
Wie Straßenköter! Denn bei Zeus, sie sind ja halb verhungert.

CHORFÜHRER
So kommen wir nicht weiter. Einmütig müssen wir am gleichen Strick ziehn! Hau ruck!

CHOR
Hau ruck!(Alle ziehen gemeinsam)

CHORFÜHRER
Hau ruck, bei Zeus!

TRYGAIOS
Kein Wunder, denn die Hälfte zieht ja in der falschen Richtung! Argiver – das gibt Prügel! Hau ruck noch mal!

CHOR und CHORFÜHRER (durcheinander)
Hau ruck! Hau ruck! Jetzt alle!

TRYGAIOS (zu Eirene)
O Herrin, Traubenspenderin, wie soll ich dich anreden? Wo finde ich ein Tausendhektoliterwort für dich? Mir fehlt das Vermögen. (Zu den Begleiterinnen) Ich grüße dich, Opora, Fülle des Herbstes, und dich, Theoria, Freude der Feste! Wie schön ist dein Gesicht, wie süß dein Atem – der mir tief zu Herzen geht, so süß wie Demobilmachung und Parfüm!

HERMES
Das riecht ganz anders als der Militärtornister!

TRYGAIOS
Ja, das ist der schrecklichste der Schrecken: die Notration im Kriegeswahn! Denn diese riecht nach sauren Zwiebelrülpsern, sie aber hier nach Erntezeit, Bewirtung, Dionysosfest, nach Pfeifen und Theater, nach Arien des Sophokles und Hähnchen – und Verschen des Euripides!

HERMES
Ich hau dir gleich eine runter für diese Lüge! Keine Freude hat sie an diesem linken Intellektuellen!

Schicksalstage eines Kontinents: Erziehung nach Verdun

M;erz Macron Starmer Leyen 4 Panzersoldaten und ein Hund*in
Die vier von der Brandstelle: Merz, Starmer, von der Leyen und Macron stehen für ein knallhartes Weiterso an der Ostfront.

Über allen Gipfeln ist Ruh`' nach einer Woche hektischer Betriebsamkeit. Bis tief in die Nacht und atemlos hindurch hatte eine Koalition der Willigen unter den Mächtigen der Welt in Belèm und Johannesburg versucht, die regelbasierte Ordnung der alljährlichen Treffen zur Bestätigung der beschlossenen Ziele zu stärken. Die ganz Großen waren nicht oder nur mit subalternen Helfern erschienen. Das Ringen um einen festen Ausstiegsfahrplan aus den Fossilen in Brasilien wurde überschattet von Donald Trumps sogenanntem Friedensplan. Ehe der deutsche Kanzler und die anderen Europäer noch von Brasilien über Europa nach Südafrika gelangt waren, hatte sich die Welt weitergedreht.  

Hilferuf auf der Noruffrequenz 

Die G20 verabschiedeten ihre Abschlusserklärung notgedrungen vor Beginn der Gespräche der angereisten G13. Ein Hilferuf auf der Notruffrequenz, der einmal mehr den Ausbau erneuerbarer Energien, mehr Klimaschutz und den Abbau der Verschuldung armer Länder fordert. Nicht der Inhalt war wichtig, sondern die gemeinsame Frontstellung gegen die Vereinigten Staaten: Im Schulterschluss mit den sieben außereuropäischen Teilnehmern verlangten die sechs vom alten Kontinent angereisten Staatenlenker aus Frankreich, Italien, Deutschland, Großbritannien und Brüssel (EU-Kommission und Europäischer Rat), dass die Uno-Charta respektiert und die Menschenrechte eingehalten werden müssen.

Ein Donnergrollen in der Weltpolitik. In Brasilien war nur Stunden zuvor der Versuch des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva gescheitert, im Handstreich ein festes Ausstiegsdatum für Öl und Gas ins Abschlussdokument zu drücken. Nach seinem Erfolg mit der Gründung eines Regenwaldschutzfonds, der seinem Land künftig Milliarden einbringen wird, hatte Lula da Silva die Gunst der Stunde und die Abwesenheit der Amerikaner nutzen wollen, um ein weltweites Verbrennerverbot völkerrechtlich festzunageln. 

"Konferenz der Wahrheit" 

Die "Konferenz der Wahrheit" (Lula) sollte sich nicht nur wie gewohnt rituell noch einmal darauf festlegen, dass die Festlegung des 2015 verabschiedeten 1,5-Grad-Zieles weitergilt. Sie sollte den Fossilen auf feste Fesseln verpassen. Der Zwang, auf Öl und Gas zu verzichten, sollte einer sein "ohne irgendjemandem etwas vorzuschreiben, ohne eine Frist festzulegen, damit jedes Land Dinge entscheiden kann, die es in seinem Rhythmus machen kann", wie Lula den eckigen Kreis beschrieb, den Belém hatte malen sollen. Alles müsse sich "auf Konsens gründen", sagte der brasilianische Präsident.  Der aber müsse der Wille zur Abkehr von Kohle, Öl und Gas sein. 

Eine Steilvorlage für deutsche Medien: Die, die "nur sagen wollen, dass es möglich ist" (Lula), mussten nicht sagen, wie. Die aber, die sich dem Überrumplungsmanöver verweigerten, weil nicht zuletzt das traurige Scheitern Deutschlands zeigt, welche dramatischen Folgen ein Energieausstieg ohne Anschlussverbindung hat, wurden als "sehr stark auftretende Koalition aus Ölländern" gebrandmarkt. Sie hätten den "Plan für einen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas" zu Fall gebracht, obwohl den doch "ein breites Bündnis aus rund 80 Staaten, darunter Deutschland und die EU, gefordert hatte". 

Nackt im Wind der Wirklichkeit 

Eine Konferenz der Wahrheit fürwahr. Am Ende eines Jahrzehnts, in dem die in immer monströsere Dimensionen wachsenden Klimagipfel den Bürgerinnen und Bürgern vorgemacht hatten, es brauche nur ausreichend viele Beschlüsse, um die Menschheit von Öl, Gas und Kohle zu entwöhnen, steht das Konzept Zielvorgabe nackt im Wind der Wirklichkeit. 

Je weiter die Pläne außer Reichweite gerieten, desto inbrünstiger wurde die Versicherung vorgetragen, dass man nun erst recht am Beschlossenen festhalten müsse. Der zentrale Glaubenssatz der Weltklimakirche bestand in der Überzeugung, dass mit Zeit guter Rat kommen werde. Wenn erst das letzte Kohlekraftwerk, die letzte Gasturbine, das letzte Kernkraftwerk und der letzte Ottomotor abgeschaltet seien, werde jeder merken, dass das Leben auch mit Zufallsenergien irgendwie weitergehe.

Das größte Experiment 

Mach mit, mach's nach, mach's besser, forderte Deutschland, das sich schon in den frühen Merkel-Jahren mutig an das größte Experiment seit dem real existierenden Sozialismus gewagt hatte. "Klimaschutzverpflichtungen" ersetzten das Nachdenken darüber, wie sich Kohleverstromung, die Nutzung von Öl oder Gas oder der Einsatz von nuklearer Energie in der Realität stabil durch launischen Wind und zeitweise wochenlang fehlende Sonne ersetzen lassen könnten. 

Angela Merkel beantwortete die Frage mit einem Auftritt als "Klimaforscherin" (Bild) in Grönland. Vor einem schmelzenden Eisberg machte sie Werbung für den deutschen Sonderweg zur Klimarettung, wegen der ernste Lage angetan nicht mit dem üblichen Pokémon-Jäckchen, ihrer gewohnten Ritterrüstung in allen Rettungsmissionen. Sondern mit einer knallroten Goretex-Jacke der Deutschen Seenotrettungsgesellschaft. 

Rot signalisiert höchste Not 

Rot signalisiert höchste Not, rote Jacken stehen in Deutschland für Armut und Menschheitsverbrechen gleichermaßen. Auf das Klimathema ist die prekäre Lage nicht mehr beschränkt, das hat Bundeskanzler Friedrich Merz nach seiner Rückkehr aus Südafrika in der ARD deutlich gemacht. Dass die Amerikaner unabgesprochen einen "sogenannten Friedensplan" für die Ukraine vorlegten, ohne sich zuvor mit den europäischen Partner abzustimmen und deren Zustimmung einzuholen, degradiert die Frontstaaten auf dem alten Kontinent zu Zuschauern in eigener Sache. 

Merz beschrieb die Lage auf die Frage, welche überaus bedeutsame Rolle Europa in den Gesprächen spiele, mit dem schönen Satz "Wir haben Kontakt zur russischen Regierung über die Amerikaner". Schon auf dem G13-Gipfel in Johannesburg hatten die ostatlantischen Staaten angedeutet, dass sie so nicht ungestraft. mit sich umspringen lassen werden. Mit einem historischen Beschluss zogen sie eine rote Linie zwischen Krieg und Frieden. Letzterer dürfe nur geschlossen werden, wenn Russland zuvor zugestimmt habe, dass das das Prinzip, dass Grenzen nicht gewaltsam verändert werden dürften, weiter gelte und die von Russland annektierten Gebiete in der Ostukraine nicht international anerkannt würden.

Konferenzprogramm in Kolonialmanier 

Kein Fußbreit den Faschisten, diese Bedingung hatte EU-Chefin Ursula von der Leyen schon beim G20-Gipfel vor zwei Jahren in Neu Dehli ein für allemal als Voraussetzung für jede Einigung mit Russland bestimmt. Zwei Jahre und viele tausend Tote später ändert auch der sogenannte Friedensplan nichts an dieser Grundforderung der Europäer, selbst wenn die US-Administration sich selbst für vermeintliche Fortschritte  auf dem Weg zu einem Ende "dieser Scheiße" (US-Emissär Daniel Driscoll) bejubelt.

Europa hat den Rumpfgipfel der G20 kurzerhand zu einem "Ukraine-Krisengipfel" (Die Zeit) umfunktioniert: Den südafrikanischen Gastgebern, stolz, die große Runde der mächtigsten Staatenlenker erstmals in Afrika empfangen zu dürfen, wurde damit im alten Kolonialstil das Konferenzprogramm auf der Hand genommen. Weder die "afrikanische Agenda" noch die "Süd-Süd-Kooperation", die der frühere Apartheidstaat als seine zentralen Prämissen sieht, spielten in der Berichterstattung über die Gipfelerfolge irgendeine Rolle.

Eine Welt made in USA 

Die Weltpolitik der vergangenen 80 Jahre ist zu einem großen Teil ein Werk Amerikas. Europa und Deutschland waren, von den von Haus aus nationalistischen Franzosen abgesehen, glücklich mit ihrer Rolle als Mündel Washingtons. Dort wurde für Sicherheit gesorgt und sie auch bezahlt. Dort wurden die technischen Innovationen entwickelt und die Kredite ausgereicht, die das deutsche Wirtschaftswunder befeuerten. Dort saßen auch die Kunden für die Waren, die die einst hocheffiziente Industrie in Deutschland weit über den eigenen Bedarf hinaus herstellte.

Europa konnte sich, so geschützt und gefüttert, der eigenen und weit überlegenen Moral widmen. Die globale Klimapolitik der zurückliegenden 30 Jahre war im wesentlichen ein Werk Europas. Den Weg zum Kyoto-Protokoll machte die COP1 in Berlin frei. 2015 war Paris der Schauplatz des Höhepunktes der internationalen Klimafeiern: Das Pariser Klimaabkommen, bislang etwa ebenso erfolglos wie das vorhergehende Kyoto-Abkommen, markierte den point of return. 

Mehr wurde es danach nicht mehr. Besser auch nicht. "Brasilien, China, Indien, Russland, Saudi-Arabien machen sich nicht mal mehr die Mühe, ihr fossiles Wachstumsmodell in den Mantel des Klimaschutzes zu hüllen", konstatiert die Süddeutsche Zeitung zehn Jahre danach. Die Vereinigten Staaten sind offiziell ausgestiegen. Die EU traut sich bisher nur noch nicht.

Zu groß ist die Angst, mit dem Eingeständnis, dass es wichtigere Aufgaben gibt als das Klima in 30 Jahren programmieren zu wollen, noch mehr vom einst guten Ruf zu verlieren. Schon ohne eine Klimakehrtwende der EU stehen die europäischen vier der globalen G7 immer öfter bedröppelt am Rand der Ereignisse. Wenn Europa gefragt ist, dann weder als Vorbild noch als positives Beispiel, sondern allerhöchstens als Geldgeber. Es ist einer, dessen schlechtes Gewissen ihn veranlasst, selbst dann noch freigiebig für jede obskure Idee zu spendieren, wenn das Geld daheim nicht reicht, um das Notwendigste zu finanzieren.

Lahm und leichenblass 

So macht man sich Freunde und Europa macht sie sich nur noch so. Auf der Suche nach der ersehnten Anerkennung, die ablenken soll von der eigenen Machtlosigkeit, stolpert die EU mit offenen Schnürsenkeln über die Weltbühne. Lahm und leichenblass behaupten Bürokraten wie Ursula von der Leyen einen Einfluss, den sie nicht haben. Neben ihnen agieren nationale Staatsmänner wie Emmanuel Macron und Keir Starmer, Riesen auf Abruf. Und Friedrich Merz, dem der Überdruss am Amt schon nach einem halben Jahr auf die Stirn geschrieben steht.

Nach der Konferenz der Wahrheit in Brasilien, die das schonungslos offengelegt hat, folgte für den CDU-Chef daheim nun schon die "Woche der Wahrheit" (Spiegel). "Haushalt, Rentenzoff, Koalitionsgipfel" müsse Merz zum Gefallen aller moderieren, um seine Regierung zu retten. Von Krieg und Klima keine Rede.




Sonntag, 23. November 2025

Europa im Omnibus: Rückzug vom Kuchenbuffet

Cookie-Banner Abschaffung   EU Cookie-Richtlinie Ende   ePrivacy-Richtlinie Abschaffung   Ursula von der Leyen Cookies   Consent-Banner weg   EU Vereinfachungspaket 2025   AI Act Lockerung Omnibus
Die Rückabwicklung der Cookie-Richtlinie soll den Menschen helfen, die EU wieder lieben zu lernen.

Es soll ein Geschenk sein, das Dankbarkeit schafft und eine neue Verbundenheit der Völker mit ihrer Kommission. Und schnell gehen muss es, denn bald ist Weihnachten und die EU-Kommission möchte den Mühseligen und unter der Last von Bürokratiebergen stöhnenden Bürgerinnen und Bürgern etwas unter den Baum legen. 

Es riecht nach Revolution in Brüssel. Ein ganzes Zeitalter wird rückabgewickelt. Das Kuchenbuffet, das eine frühere Kommissionsbesetzung erdacht und ein früheres EU-Parlament beschlossen hat, wird kurzerhand abgeräumt. Nach 23 Jahren, in denen die Cookie-Richtlinie - offiziell ePrivacy-Richtlinie (2002/58/EG) - Segen und Schutz für hunderte Millionen Menschen war,  geht Europa ans Eingemachte.  

Immer wieder und wieder 

Um den Versuch einer Aufweichung der weltweit ersten und entschiedensten Einschränkung der Benutzung von Künstlicher Intelligenz zu tarnen, geht Ursula von der Leyen das Undenkbare an: Die einst als wichtiger Beitrag zum Datenschutz verkaufte Cookie-Anordnung soll wegfallen. Die Gemeinschaft der 27 würde dann nicht mehr verlangen, dass jede Webseite jeden Besucher immer wieder und wieder und wieder mit einem automatisch aufploppenden Banner fragen muss "Akzeptieren Sie alle Cookies?"? "Oder nur ein paar?" "Oder nur wichtige?" "Oder nur technische?" "Oder gar keine?" 

Ein Zivilisationsbruch für einen Staatenbund, der sich nicht zuletzt über seine fein ziselierten gesetzlichen Eingriffe in die persönliche Freiheit definiert. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine derartige Anzahl an sinnfreien Bestimmungen, die aus selbstbestimmten Bürgern betreuungspflichtige Personen machen. Mit der Cookie-Richtlinie reagierte Europa in der Zeit kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf eine neue Bedrohungslage.

Digitale tethered caps

Internetseiten versuchten, mehr über ihre Besucher zu erfahren. Welcher Browser?  Welches Betriebssystem? Wo steht der Rechner? Schon mal hier gewesen? Das Resultat war ein europäisches Datenschutzgesetz, das verlangt, dass Websites vor dem Einsatz von Cookies die "informierte Einwilligung" der Nutzer einholen. Eine Art tethered cap fürs Internet, mit dem die Bürokraten sich keine Freunde machten. Aber einmal beschlossen, bleibt in der EU alles, wie es ist. Wer weiß, wann sich mit Nachgeben noch einmal beim Volk punkten lassen wird.

Jetzt ist es so weit. Nach zwei Jahrzehnten, in denen Brüssel die Freiheit des Web knebelte und Billionen von unsinnigen Einverstanden-Klicks ganze Kraftwerke leersaugten, rudert die Kommission zurück. Vor einigen Wochen schon kündigte Ursula von der Leyen an, sie  die Nutzung auf Webseiten "vereinfachen" und die "oft als störend empfundenen Consent-Banner grundlegend überarbeiten" wolle.

Uninteressierte Nutzer 

16 Jahre nach der letzten Überarbeitung der Cookie-Richtlinie, die die Auflagen 2009 noch einmal verschärft hatte, habe sich herausgestellt, dass das System, das ursprünglich den Datenschutz stärken sollte, ineffektiv sei. Nutzer und Nutzerinnen klickten die Einwilligungsbanner oft einfach weg, ohne die wichtigen Belehrungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Wer nur den Wetterbericht sehen wolle, sei offenbar gar nicht daran interessiert zu erfahren, dass sein Interesse für den Seitenbetreiber interessant genug sei, seine übermittelten Daten zu speichern und auszuwerten. 

Das Ergebnis ist eine Flut an Zustimmungen gewesen, die jedem Datenschutz Hohn sprächen, zudem aber für Frust bei den Nutzern sorgte, der sich auf die EU-Kommission fokussierte, die eigentlich Dankbarkeit erwartet hatte. Ein trauriges Kapitel, denn so blieb es dabei, dass immer, wenn jemand gefragt wird, was die EU ihm eigentlich gebracht habe, nur die europäischen Roaming-Vorschriften genannt werden.

Reklame für Brüssel 

Das muss sich ändern. Die EU braucht Rückenwind, neue Begeisterung, Menschen, die sie so wichtig  und bedeutsam finden wie sie sich selbst. Die Gelegenheit für eine große Reform ist günstig, denn Brüssel steht unter Druck. Aus Angst, den KI-Zug endgültig zu verpassen, dringen die Mitgliedstaaten darauf, den erst vor anderthalb Jahren beschlossenen AI Act zu lockern. Angesichts der Ängste, die Brüssel geschürt hatte, um das "weltweit erste Gesetz zur Regulierung von KI" durchzusetzen, soll die Rückabwicklung mit Hilfe eines Omnibus-Gesetzes vollzogen werden. 

Versteckt in einem Rechtsakt mit dem schönen Namen "Vereinfachungspaket" werden die Lockerung des AI Acts und die beim vorgeschriebenen Schutz der Bürger vor Trackern gemeinsam durchs Parlament gezogen. Von der Leyen weiß, so sehr mancher dagegen ist, der KI auch in Europa zum Durchbruch zu verhelfen, so sehr sind alle für ein Ende des Pop-up-Terrors, dessen Sinnhaftigkeit von Anfang an nie jemand verstanden.

Die Brandmauer fällt 

Die Arbeit von Jahrzehnten, die Arbeit tausender Beamter, Berater, Wissenschaftler, Lobbyisten, Datenschützer, dutzender Kommissare, hunderter Parlamentarier und ebenso vieler Mitglieder des EU-Rats würde binnen Wochen zunichtegemacht. Fast ein Vierteljahrhundert brauchte Brüssel, um die ausgeklügelte Brandmauer zwischen Bürgern und Internetseiten zu errichten, die sich mit einem Klick pro Seite überspringen ließ. Dass das gesamte Unternehmen ein regulatorisches Fiasko war, muss dank Omnibus-Verfahren niemand eingestehen. 

Ganz im Gegenteil: Die Kommission tritt als Retter und Erlöser auf die Bühne: Sie befreit die Menschen von der 2009 verabschiedeten entscheidenden Novelle (2009/136/EG). Artikel 5 Absatz 3 der ePrivacy_Verordnung zog Europa damals Banner-Zwangsjackett: "Der Speicherung von Informationen oder der Zugriffsgewährung auf bereits gespeicherte Informationen in den Endgeräten der Vertragsparteien ist nur dann gestattet, wenn die betroffene Person hierin ausdrücklich eingewilligt hat."

Übers Ziel hinaus und zurück 

Automatische Zustimmung war verboten. Browsererweiterungen, die das nervige Wegklicken selbstständig erledigen, waren illegal. Die EU hatte sich darauf festgelegt, dass Cookies  personenbezogene Daten abfragen und damit ein Loch in den Datenschutzpanzer von 440 Millionen Europäern brennen. Das Argument, zu strenge Regeln könnten Innovationen verhindern, zog nicht. Es ging Europa damals gut. Der Kontinent konnte sich vieles leisten. Die führenden Parteien in Deutschland steuerten mit einem klaren Kompass direkt auf die Vereinigten Staaten von Europa zu, deren Errichtung der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz für den 1. Januar 2025 angekündigte.

Es ist anders gekommen, anders genug, die Gemeinschaft jetzt im Ende des europaweiten Banner-Chaos, das Nutzer schützen sollte, einen ebenso großen Segen zu sehen wie im aufwendigen Akt, mit dem es heraufbeschworen worden war. Wie genau die Pest beendet werden soll, hat Brüssel noch nicht verraten. Wie so oft soll es eine EUberraschung werden. Ein Vorschlag sieht vor, dass Nutzer ihre Cookie-Präferenzen nur noch einmal über die Einstellungen ihres Browsers festlegen müssen, der dann  bei jedem Webseitenbesuch meldet, was gewünscht wird. 

Allerdings wäre das eine Lösung, die für Europa viel zu einfach wäre. 

Kein bisschen Frieden: Wollt ihr den totalen Sieg

Wehrwilligkeit und Siegesgewissheit sind weiterhin vorhanden. Abb: Fritz Reipert, 1940, 40 Pfg.

Im Sommer 2024 entscheid sich der Ukraine-Krieg. Ein Markus Becker hatte im "Spiegel" ein Ultimatum gestellt. "Der Westen muss klären, ob er zum Krieg gegen Putin bereit ist", stellte er zweieinhalb Jahre nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine klar, an welcher Wegscheide die Welt steht. Alle 18 Sanktionspaket hatten nichts gebracht. 

Die Waffenhilfe für die Ukraine war kein Gamechanger gewesen, nicht nach der Lieferung von Helmen, nicht nach dem Transport der ersten Leopardpanzer an die Front. Nicht einmal, als Schwerewaffen freigegeben wurde und auch nicht, als den Verteidigern amerikanische Raketen zur Verfügung gestellt wurden.  

Keine Eskalation 

Was blieb jetzt noch? Außer all in oder einem Verhandlungsfrieden? Joe Biden im Weißen Haus und Olaf Scholz in Berlin, Emmanuel Macron, die EU-Spitze und die Nato entscheiden sich für das Prinzip Hoffnung. Keine Eskalation. Keine Verhandlungen. Weiter so ohne Ausstiegsoption.

Vielleicht, diese Möglichkeit gab Zuversicht, geschieht ein Wunder. Vielleicht stirbt Putin, der zumindest in deutschen Medien schon lange als todkrank galt. Vielleicht wird der Kremlherrscher des Mordens auch müde. Vielleicht gehen ihm doch noch die Soldaten aus, die Panzer, die Geschütze und die Munition.

Das mörderische Ringen 

Selbst der 30-jährige Krieg hat nicht ewig gedauert. Er ging nach fünf Jahre andauernden Friedensverhandlungen zu Ende, im dritten Anlauf, nach zwei zuvor gescheiterten Friedensvereinbarungen. Das Wissen darum, wer das mörderische Ringen mit rund acht Millionen Todesopfern gewann, ist heute weitgehend verlorengegangen. Schweden bekam Teile Norddeutschland. Frankreich das Elsass. Schweden verlor später alles wieder. Frankreich auch, doch es holte sich das meiste zurück. Verlor es erneut. Und bekam es nach knapp 400 Jahren doch wieder.

Die Geschichte ist mit den Geduldigen. Die Landkarte Europas ist ein Tagebuch beständiger Grenzverletzungen, Gebietsverluste, Zugewinne und Eroberungen, die wieder verlorengingen. Polen, heute der Wachstumstiger unter den schwächelnden EU-Wirtschaften, existierte die meiste Zeit seiner Historie nicht. Litauen, ein Zwergstaat, der die Suwalki-Lücke bewacht, war einst eines der mächtigsten Reiche des Kontinents. Ein Teil Russland war 700 Jahre lang deutsch. Ein Teil der Ukraine ist seit elf Jahren russisch, nach 300 Jahren unter Herrschaft der Osmanen und 200 unter der des russischen Zaren.

Nichts ist für die Ewigkeit 

Alles ist im Fluss. Nichts ist für die Ewigkeit. Doch eingegraben in festungsgleich ausgebaute Stellungen verharrten Russland, die Ukraine, Europa und die USA die ersten drei Jahre nach Russlands Angriff auf die Ukraine lang in ihren Maximalforderungen. Putin betonte, Russland werde nicht eher ruhen, bis die Ukraine für immer geschwächt, zu einer Pufferzone zwischen Ost und West degradiert und ihrer Ambitionen auf eine Nato-Mitgliedschaft beraubt worden sei. Das freie Europa forderte den Rückzug Russland hinter die Grenzen von vor 2014, Reparationen und einen Verzicht auf alle weiteren imperialen Ambitionen. Die USA hielten sich raus. Joe Bidens Probleme waren ganz andere.

Mit Donald Trumps Einzug ins weiße Haus aber endete diese Zeitenwendezeit ohne Zeitenwende. Erschrocken musste Europa konstatieren, dass der neue Präsident die Verantwortung für die Fortführung des Krieges an die übertragen würde, die die Ukraine  stets am lautesten als die vordersten Verteidiger des freien Europa gerühmt hatten. Die Bilder von der Befehlsausgabe in Washington gingen um die Welt. 

Von zwei auf über fünf  über Nacht

Es dauerte nicht einmal 48 Stunden, bis der letzte Politiker in Europa verstanden hatte, dass die Vereinigten Staaten es ernst meinten. Zwischen Sonntagabend und Mittwochmorgen erhöhte Deutschland seine Militärausgaben von unter zwei auf über fünf Prozent des BIP. Die Entscheidung fiel ohne Parlamentsdebatte, ohne begleitende Talkshowauftritte, ohne Absprache mit den Nato-Partnern und ohne Rücksicht auf Haushaltszwänge.

Dem politischen Berlin schwante, dass sich etwas geändert hat. Der Aufschlag in der Realität war brutal. Das Erwachen aus dem Traum, immer nur tun zu können, was man will, nie aber tun zu müssen, was getan werden muss, hatte verfassungsändernde Wucht. Es machte aus Pazifisten Bellizisten. Aus Wehrdienstverweigerern Männer, die es in den ersten Graben zieht. Und aus der grünen EU-Kommissionspräsidentin eine olivgrüne, deren "Green Deal" Platz machen musste für die Vision vom "stählernen Stachelschwein".

Rückzug von der Ostfront

Auch das aber war nur ein Moment. Bis heute verweigert sich der Großteil der Verantwortungsträger in Europa und Berlin stur allen naheliegenden Schlussfolgerungen aus dem von Trump erklärten Rückzug von der Ostfront. Nur in der kruden Logik der Bundesregierung ergibt es einen Sinn, die volle Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr für das Jahr 2035 anzustreben, wenn man gleichzeitig mit einem russischen Angriff im Jahr 2029 rechnet. Nur in der strategischen Mathematik der gesamten  europäischen Verteidigungsfamilie wird ein Einlenken der Russen immer wahrscheinlicher, je geringer die Aussichten der Ukraine werden, den Angreifer eines Tages mit militärischen Mitteln wieder aus dem Land werfen zu können.

Abstimmung mit den Füßen 

Trumps "sogenannter Friedensplan" (Tagesschau) ist der Versuch, den Krieg zu beenden, ehe Putin ihn beendet - sei es in zwei, sei es in drei oder in zehn Jahren. Große Teile der ukrainischen Bevölkerung selbst sind der Verteidigungsanstrengungen längst überdrüssig. Seit Präsident Wolodymyr Selenskyj jungen Männern unter 24 die Ausreise aus der Ukraine wieder gestattet hat, strömen so viele zehntausende demnächst Wehrpflichtige ins sichere EU-Europa, dass selbst Bundeskanzler Friedrich Merz schon öffentlich forderte, die betreffende Altersgruppe in der Ukraine festzuhalten

Die jungen Ukrainer stimmen mit den Füßen ab. Die Westeuropäer überstimmen sie. Trumps neuerlicher Friedensvorschlag ist nicht nur in Berlin wie eine Kriegserklärung angekommen. Nachdem sich die EU entschlossen hatte, bis zum letzten Ukrainer weiterzukämpfen, kommt der einzig mächtige Verbündete mit dem Dolch im Gewand zu Besuch. Und wieder steht die Wertegemeinschaft vor einer Situation, die sie nicht kommen sehen hat, obwohl seit Trumps erstem Anlauf zu einer Beendigung des sinnfreien Schlachtens im Donbas die Gefahr in der Luft lag, dass der US-Präsident keine Ruhe geben wird.

Eine neue Kriegsbegeisterung 

Aber Europa, Deutschland an der Spitze, hatte sich auf eine funkelnagelneue Begeisterung für Krieg und Militär eingegroovt. Das gemeinsame Bedrohungsgefühl würde die innere Einheit stärken. Rüstung die Wirtschaft retten. Eine kurze, aber knackige Wehrdienstzeit die schlaffe Jugend straffen und ertüchtigen. Der Chef von Rheinmetall wähnte sich dank der Rüstungsmilliarden schon im Wunderland.  Bundeswehr-Inspekteur Christian Freuding verkündete, man sei jetzt schon bereit für den "Fight tonight, also den unmittelbaren Kampf." Er vertraue darauf, dass Deutschland "durch Hingabe und Innovationen kriegstüchtig werden" könne.

Der Eindruck täuschte nicht, dass es dem einen oder anderen nicht schnell genug gehen kann, endlich den Panzer zu satteln und zum Rückspiel gegen Russland anzutreten. Putin habe nur eine Wahl, verkündeten die derzeit noch kalten Krieger. Seine bedingungslose Kapitulation werde angenommen, zumindest wenn er sich zugleich bereit erkläre, die Ukraine auf eigene Kosten wiederaufzubauen. 

Chaos und Rückzugsgefechte 

Gegen die Erfolgsaussichten dieses einzigen Szenarios für ein Kriegsende, das europäische Politiker in den zurückliegenden dreieinhalb Jahren entwickelt haben, spricht die Lage an der Front. Chaos. Personalmangel. Rückzugsgefechte. Zuletzt dann noch die Korruptionsaffäre, die den ukrainischen Oberkommandierenden Selenskyj in einem für die USA rein zufällig sehr glücklichen Moment von einer zweiten Seite aus unter Druck setzte. 

Mit seinem 28-Punkte-Plan droht Trump nun mit Frieden, auf Kosten der Ukraine, aber auch auf Kosten eines Europas, das sich kurz vor dem vierten Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine endlich darauf eingestellt hatte, dass das alles ganz ernst und sehr viel wichtiger ist als Klimawende, Energieausstieg und Genderfragen. Wieder auf dem falschen Fuß. Und wieder keine Argumente außer dem, dass die US-Regierung zahlreiche Vorschläge gemacht habe, "die für Kiew nur schwer zu akzeptieren sein dürften". 

Der Friedensfahrer als Verräter 

Deshalb müsse Europa, eben das Europa, das die Friedensfahrt des ungarischen Staatschefs Viktor Orban noch als Verrat gebrandmarkt hatte, unbedingt mit am Tisch sitzen. Einer müsse ja auch, heißt es, die Position vertreten, dass die Realitäten auf dem Schlachtfeld keine Rolle bei den Vereinbarungen zur Beendigung der Kampfhandlungen und den vertraglichen Vereinbarungen zu einer sicheren Nachkriegsordnung spielen dürften.

Wieder nicht gefragt, ja, nicht einmal informiert worden zu sein, hat die Europäer getroffen. Unmittelbar nachdem er von einer womöglich nahenden Friedenslösung gehört hatte, brachte sich der deutsche Bundeskanzler als Friedensvermittler ins Spiel. Merz, bei seinem Vorstellungsgespräch bei Trump ein Mann ohne Mund, entdeckte plötzlich "den Friedensengel in sich" (Berliner Zeitung).

Putin zur Ablehnung zwingen 

Gemeinsam mit den Kollegen der anderen Staaten, die die Ukraine bis zu einem Siegfrieden weiterkämpfen lassen wollen, arbeitet Deutschland jetzt hektisch an einem "Gegenvorschlag zu Trumps Ukraine-Plan" (Spiegel). Zugeständnisse an Russland sollen gestrichen werden. Klappt alles, besteht Hoffnung, dass Putin einen Friedensschluss erneut ablehnt. Die "Badekur" (Paul von Hindenburg), die Europa seiner angeschlagenen Wirtschaft mit Hilfe der Rüstungsbillionen gönnt, könnte weitergehen. 

Argumente hat Wolodymyr Selenskyj geliefert, der in einer Ansprache an die Ukrainer von einer bitteren Wahl sprach. Sein Land werde seine "Würde oder einen wichtigen Partner verlieren", je nachdem, wie es sich entscheide. Die Ostgebiete aufgeben? Gegen Sicherheitsgarantien der USA? Aufbaumilliarden aus Moskau? Den Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft? Oder weiterkämpfen bis zum Schluss, nur noch unterstützt von den EU-Staaten, deren Kampfbereitschaft mit jeder anstehenden Wahl in einem der Mitgliedsländer infragesteht?

Die Taktik aus dem Gaza-Krieg 

Bis Donnerstag soll entschieden werden, hat Donald Trump bestellen lassen. Der amerikanische Präsident folgt mit der eiligen Terminsetzung der Taktik, die im Nahen Osten funktioniert hat. Europa hält auf gewohnte Weise dagegen. Alles müsse viel langsamer gehen, auch müsse unbedingt Platz für "einen eigenen Beitrag zum umstrittenen US-Friedensplan für den Ukraine-Krieg" geschaffen werden.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die letzte verbliebene bekannte FDP-Politikerin Europas, zeigte den Amerikanern die Konsequenzen auf, die ein Festhalten am "sogenannten Friedensplan" mit seinem Kurs auf einen "irren Diktatfrieden" haben würde. Eine Umsetzung werde "einzig und allein den Kriegsverbrecher Russland belohnen", "die Sicherheit weiterer Länder in Europa gefährden" und  "die Nato zerstören". Dagegen müsse die Bundesregierung, "endlich Haltung zu zeigen" und der Ukraine "endlich alle Unterstützung liefern, die das Land zur Abwehr der russischen Angriffe benötigt".

Der sogenannte "sogenannte Friedensplan" im Detail hier.