Donnerstag, 9. September 2010

Hauptsache höher

Früher war alles besser, früher war alles aus Holz. Arm etwa war, wer arm war, denn der galt als "von Armut betroffen": Von 1998 bis 2004 stiegt der Anteil derjenigen, die mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze auskommen mussten, von 12,1 auf 13,5 Prozent, danach waren 13,9 Prozent aller Familien von Armut betroffen, wie die damals noch recht angesagte SPD-Sozialexpertin Sigrid Skarpelis-Sperk der Süddeutschen Zeitung beherzt vorrechnete.

Traumhafte Tage für Sozialpolitiker. Wie damals nach dem Mauerfall, als nicht irgendwelche Demonstranten in Dresden mit flotten Sprüchen, sondern der Strom der DDR-Flüchtlinge das Thema deutsche Einheit auf die Tagesordnung der Weltpolitik setzten, wächst der Einfluss der Mahner und Warner, Helfer und Begleiter. Was aber, wenn die ärmste aller Welten mit einem Male auseinanderbricht? Wenn die üblichen Zuwachsraten bei der Verarmung nicht mehr stimmen, wenn die Zahl der Betroffenen zurückgeht, wenn der Druck der Verhältnisse, in denen sich Betreuer aller Parteien hübsch eingerichtet haben, nachlässt und mit ihm auch die Macht derer, die auf ihre Art von Verwaltung und Bekämpfung von Armut leben?

Dann muss ein neuer Begriff her. Aus "von Armut betroffen" wurde so das phonetisch beinahe gleich klingende "von Armut bedroht", das nicht mehr die Armen einbezieht, sondern den Betreuungsangeboten der professionellen Bemutterer eine Perspektive weit darüber hinaus eröffnet. Entstanden in Österreich, wo es Mitte der 90er Jahre zum ersten Mal urkundlich erwähnt wird, löst der Begriff "Armutsgefährdung" (Timeline oben) den Begriff "Armut" als Waffe im Kampf um mehr Gerechtigkeit ab.

Inbegriffen ist hier nun nicht mehr nur, wer unter die Armutsschwelle von 50 Prozent des Durchschnittseinkommens gefallen ist, sondern auch, wer darunterfallen könnte, weil er weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommen zur Verfügung hat. Ein neuer Markt eröffnet sich, eine neue Zielgruppewird per Definition erschlossen.

Armutsgefährung ist ein Eingreifbegriff, ein dynamisches Wort, das Kampf und Einsatz selbst mitbringt: Er signalisiert hier geht noch was, hier kann man gegensteuern, Geld verteilen, Maßnahmen ergreifen, Kommissionen gründen, aktiv werden, helfen. Definiert ist der Begriff Armut nirgendwo bindend. 2003 lag die EU-Armutsgrenze von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens bei 938 Euro pro Monat. Danach waren seinerzeit 17 Prozent der Deutschen arm, weil sie weniger verdienten. 2009 war die Grenze nach einemBericht des "Focus" auf "etwas mehr als 800 Euro im Monat für Alleinstehende" gesunken – nun war schon armutsgefährdet, wer von weniger leben muss. So kamen die Statistiker immerhin noch auf 14,6 Prozent aller Bundesbürger als Betroffene von der Bedrohung: Nicht aber, aber vielleicht bald.

So geht es munter durcheinander und egal, wie die Zahlen gerade gebogen worden sind, es findet sich immer ein Anlass, zu titeln: "Die Armut wächst" (dpa), die "Armut nimmt zu" (Taz), die "Armut steigt" (HZ) oder sie "betrifft immer mehr Menschen" (ddp). Dafür sorgen schon begriffliche Tricks und definitorische Unschärfen. Arm oder von Armut bedroht? Der Unterschied passt in keine Überschrift. So wird plötzlich "arm", wer eigentlich nur arm werden könnte, wenn er noch weniger Geld hat, als er hat. Erweiterte man die Defintion noch ein klein wenig, wären sofort auch Zahnärzte, Inhaber von Autowerkstätten, Manager und Fernsehmoderatoren von Armut bedroht: Da muss nur die Praxis pleite gehen, die Werkstatt abbrennen, die Firma kündigen und der Vertrag nicht verlängert werden.

Durch Armut gefährdet und von Armut bedroht sind oder arm sind derzeit 12,5 Millionen Menschen, meldete das ehemalige Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" im Mai. Das seien umgerechnet 13 Prozent aller Bürger. Im August ist die selbst von Armut bedrohte "Junge Welt", die ihren Mitarbeitern Armutslöhne bezahlt, parteiübergreifend derselben Ansicht: 12,5 Millionen sind "bedroht". Die Armut "wachse" mithin, warnt ein Sozialverband, der dabei nicht darauf hinweist, das im Deutschland des Jahres 2004 ebenfalls schon "13 Prozent der Bürger von Armut bedroht oder arm" waren. Was seinerzeit rätselhafterweise allerdings nur 10,6 Millionen Menschen entsprach, wie das Statistische Bundesamt damals errechnet zu haben vorgab.

Nicht das einzige Wunder bei der deutschen Armut, die wächst, je mehr iPods, iPads, Playstations und Flachbildfernseher verkauft werden. 2008 war das "Armutsrisiko" nach einem Bericht der Berliner Zeitung "erstmals seit zehn Jahren gesunken": Es waren nur noch 16,5 Prozent aller Haushalte statt wie eben 13 Prozent von Armut bedroht. Das sei über eine Million Menschen weniger als noch im Jahr 2006, als das Armutsrisiko nun angeblich 18 Prozent betragen hatte. Nicht 13, wie ehedem von den Bundesstatistikern behauptet worden war.

Hauptsache Risiko, Hauptsache höher als irgendwann. "Ein Drittel mehr Arme in Deutschland" machen fleißige Helfer Anfang des Jahres schon aus, "14 Prozent" aller Menschen seien inzwischen betroffen. "Armut in Deutschland steigt rasant" assistieren die "Potsdamer Neuesten Nachrichten: "11,5 Millionen" seien "betroffen – ein Drittel mehr als vor zehn Jahren. Natürlich.

Das PPQ-Armutsarchiv:
Arm mit Apple
Geld macht arm
Weniger ist mehr
Arme immer reicher

3 Kommentare:

Freedy hat gesagt…

Früher bedauerten die Armen noch die Elenden und versuchten gar, ihnen von dem wenigen, das sie erübrigen konnten, etwas abzugeben. Heute, da die vormals Elenden nurmehr arm sind, bereichern sich ihre Betreuer.

Beobachter hat gesagt…

Das einzige, was in diesem Land von arm zu elend sich wandelt, ist die Intelligenz der Bürger. Aus vielerlei Gründen.

Was sich mehrt ist jedoch Überflüssiges in den Taschen weniger, welche doch die elendigsten Dummköpfe sind.

Wählt sie weiter!

Grüße

VolkerStramm hat gesagt…

Soziale Kälte, saga ich nur, soziale Kälte.