Mittwoch, 4. Mai 2022

Rückgebundene Zärtlichkeit*: Zwei Sterne im Stylecheck

Verehrungsliteratur entstand als eigenes mediales Genre während der ewig langen Merkeljahre.

Kritisch begleiten, abbilden, was ist, und sich nie blenden lassen vom Feuerwerk der Propaganda, auch nicht, wenn sie den allerbesten Zwecken dient. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche und  und Tag für Tag ist das die Aufgabe, der Deutschlands Medien mit höchstem Einsatz gerecht zu werden versuchen. Als Angela Merkel noch Kanzlerin war, gelang es ganzen Regimentern von der Vierten Gewalt, herauszubekommen, wie die ostdeutsche Hamburgerin alles vom Ende her dachte, während der Rest der Welt noch ganz am Anfang stand.  

Wo der Hause rauskommt

Merkel wusste immer, wo der Hase hinläuft, weil sie ihn rauskommen sah. Es gab nichts zu meckern an ihren Entscheidungen, die gut abgewogen waren und so schnell und diskussionslos verkündet wurden, dass meist kaum noch Zeit für den angemessenen Beifall blieb. Merkel Vorgänger Kohl und Schröder standen zu ihrer Zeit häufiger im Gegenwind aus den Thementurbinen der Leitmedien. Angela Merkel machte es besser, sie regierte nicht gegen die veröffentlichte Meinung an, sondern überzeugte mit Ratsschlüssen, die ebenso bei "Spiegel", "FR", Süddeutscher und Taz hätten fallen können.

Was ihr fehlte, war allerdings Charisma, die Fähigkeit, einen Marktplatz mitzureißen oder auch nur in einem Fernsehstudio zu sitzen, zu reden und niemand wegdämmern zu lassen. Den Menschen gefiel irgendwann auch das, es war kein Mangel mehr, sondern eine faszinierende Tugend. Welcher führendste Weltpolitiker konnte sonst von sich sagen, dass die meisten Biografien über ihn einfach nur seinen Namen trugen, weil mehr einfach nicht zu sagen war?

Hoffnung in der Fankurve

Und doch. Dass sie dann weg war, nach zwei Pandemiejahren in weitgehender Selbstisolation abgesehen von einigen Auftritten Brüssel mit dem Tag der Amtsaufgabe gänzlich unsichtbar geworden, weckte selbst in der Fankurve Hoffnungen. Nicht Olaf Scholz, der Nachfolger, aber die beiden grünen Minister*innen Annalena Baerbock und Robert Habeck, zwei Kanzler im Wartestand, versprachen ungewohntes Temperament zurückzubringen in die tristen Hallen der Hauptstadtpolitik. So viele Pläne, so viele leidenschaftlich vorgetragene Visionen. Der ganze Gesellschaftsumbau, die Aussicht auf etwas Neues, Ungewohntes, das rockte die Republik der eingeschlafenen Füße wie vorher nur Andrea Nahles.

Liebe auf den ersten Blick, die länger gehalten hat als die Wahlversprechen vom Herbst 2021. Der spröde Scholz, dem die Herzen nie so zuflogen wie seinem Vorgänger Martin Schulz, gibt im neuen Kabinett den Merkel. Baerbock und Habeck machen den Guttenberg: Jeden Tag eine unbequeme Wahrheit, jeden Tag ein sympathisches Gesicht. Die Riege der SPD-Minister kennt bis heute kein Mensch, selbst die grünen Kollegen Lemke und Özdemir kommen öffentlich kaum vor. Zwei Sterne überstrahlen alles. Zwei Vorbilder. Zwei, die es richtig machen, ganz egal was.

Stylecheck und Anerkennung

Das Genre  "Kritik an Robert Habeck" existiert wie das Genre "Kritik an Annalena Baerbock" bis heute nur als kleinliches Genöle in den Gossen des Internets. Dort, wo Politikberichterstattung seriös angefertigt wird, ausgiebige Recherche, Gegencheck, Hintergrundcheck, Handarbeit am Textentwurf,  sind die beiden Stars der Bundesregierung Gegenstand von Ratgeberliteratur aus der "Brigitte"-Schule. Vom Stylecheck bis zur Kleiderbesprechung, vom nationalen Stolz auf diese Figur bis zur Anerkennung für ganz kleine, aber solidarische Gesten reicht das Spektrum der medialen Verehrung. So viel Ehrlichkeit. Nach den Merkel-Jahren hat damit offenbar niemand gerechnet.

Wie aber können alle so werden? Was muss man tun, um diese Kleider tragen, die Strubbelhaar im Fernsehen zeigen zu können? Und schließlich "Wie lerne ich reden wie Robert Habeck", womöglich das Schlüsseltalent des Klimawirtschaftsministers, der genau weiß, dass einem kein fallengelassener Teller Kritik einbringt, wenn man selbst als Erster entgeistert ruft, "ohoooo, jetzt habe ich doch glatt einen Teller fallenlassen!" Oder eben: "Natürlich werden wir uns selbst schaden! Aber das wolltet ihr doch!" Angela Merkel kann beruhigt sein. Medial ist ihre Nachfolge gesichert.

* Methode der Symptomerfassung


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Nächste Woche im Spiegel: Mukbang mit Ricarda Lang, dann Posentraining mit Annalena und einem:in Fotografen:in vom Otto-Katalog.