Mittwoch, 7. Februar 2024

Von der Leyen allein zu Haus: Selbstgespräche im Elfenbeinturm

Wenn Ursula von der Leyen wegweisende Worte spricht, lauscht der Kontinent atemlos.

Es ist ein ganz gewöhnlicher Tag im Europäischen Parlament in Straßburg. Es geht wie immer um alles, die Zukunft, die Geschlossenheit, die Abwehr drohender Gefahren durch anstehende Wahlen, die falsch auszugehen drohen. Vor aller Augen vollzieht sich während der Sitzung der 751 Abgeordneten samt EU-Kommissionspräsidentin und dem Chef des Europäischen Rates ein Drama, das alles über den Zustand der Gemeinschaft verrät, was niemand wissen soll.   

Überschwemmungen und Stürme haben die Ernten vernichtet, sagt Ursula von der Leyen. Und deshalb wohl seien "unsere Landwirte" überall in Europa auf den Straßen. Sie verdienten nun, "dass man ihnen zuhört", sagt die Frau, die sich nach vier Jahren an der Spitze der EU darum bewirbt, nach den anstehenden EU-Wahlen erneut von einer handverlesenen Hinterzimmerrunde zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt zu werden. Sie macht das doch gut. Immer da, nie zu sehen. Unauffällig auffällig. Eine Frau im Kostüm einer Königin.

Sandfarbene Bluse und besorgte Miene

Den Rücken durchgedrückt und die Schultern weit oben, als repräsentiere sie tatsächlich eine Weltmacht, so steht Ursula von der Leyen an diesem tristen Dienstag mitten im Krieg, mitten im Wiederaufbau nach Corona, mitten im Vollzug des von ihr selbst erdachten Green Deal im EU-Parlament in Straßburg. Die Zeiten, als die Christdemokratin mit ihrem Kostüm Solidarität mit diesem oder jenem ausdrückte, sind vorüber. Von der Leyen trägt sandfarbene Jacke und farblich passende Bluse und eine besorgte Miene. Schwere Zeiten, schwere Bürde.

Heute ist sie gekommen, um vor dem Europäischen Parlament ein Erklärung abzugeben, das tut sie gleich nach Charles Michel, der dasselbe für den sogenannten EU-Rat erledigen muss. Verdruckst wirft der Belgier seine Last ab, ein großer Mann, eben erst tragisch zurechtgestutzt. Michel hatte selbst EU-Chef werden wollen, doch kaum hatte er seinen Wunsch ausgesprochen, war er auch schon geplatzt worden. 

Leidenschaft mit eingeübten Gesten

Selbst im Parlament hört niemand zu.
Nein, EUrsula muss das weitermachen. Und wie sie das tut auf dieser "Sondertagung", die nicht nur allerlei Beschlüsse des Europäischen Rates abhandelt, sondern auch gleich noch "Zwei Jahre Angriffskrieg Russland gegen Ukraine" und die Bauernproteste. Erst verklappt die 67-Jährige eine gar fürchterliche Botschaft von "60 bis 70 Prozent zerstörter Böden in Europa" in den großen Sitzungssaal. Dann geht um "unsere Landwirte" (von der Leyen), es regnet ein Trommelfeuer aus Worthülsen herab, abgeschossen von der Frau hinter dem blauen Pult, der der Charme einer blickdichten Feinstrumpfhose eigen ist. Leidenschaft spielt sie eingeübten Gesten. Besorgnis mit gefurchter Stirn. Zweifel, die im Manuskript stehen, werden mit Kopfschütteln präsentiert.

Eine gute, eine überzeugende Vorstellung, einmal mehr. Doch sie versendet sich. Die "Europäische Öffentlichkeit" (EU) ignoriert, ja, sie boykottiert die Rede der großen Vorsitzenden in einem Maß, das erschrecken muss. Millionen Bürgerinnen und Bürger, Mitarbeiter von Ministerien, Verbanden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und ganz einfache Menschen sind offenbar so wenig an den "Risiken von chemischen Pflanzenschutzmitteln" (Leyen) interessiert wie die 751 Abgeordneten und der Rest der 280 Millionen Wahlberechtigten. Der deutsche Ereignissender Phoenix zählt im Moment der Liveübertragung um die 120 Zuschauer. Der Videokanal des EU-Parlaments kommt parallel auf immerhin 80.

Demonstrative Nichtachtung

Die große Stärke von der Leyen aber ist es, ihre Sätze über die Basis und die Beschlüsse und deren Zurücknahme ungerührt von dieser demonstrativen Nichtachtung verteilen zu können. Dass gar niemand mitbekommt, wie die EU-Chefin aus Furcht vor den Wählerinnen und Wählern das ganze große Umweltschutzgesetz gegen Pestizide mit ein paar Sätzen zurückzieht, muss von der Leyen nicht befürchten. Minuten später schon wird ihre Botschaft getreulich verteilt.

Natürlich. Rund zwei Drittel der Abrufe bei Phoenix und mehr als die Hälfte beim Kanal des Parlaments kommen aus Abgeordnetenbüros in Brüssel und den großen Medienhäusern in Frankfurt Berlin und Hamburg. Dort hat niemand Zeit, auf die offizielle Übersetzung der wegweisenden Worte der Vorsitzenden zu warten, die Zeit braucht, weil Ursula von der Leyen wie immer Englisch spricht, um die sieben Millionen englischen Muttersprachler unter den 440 Millionen EU-Bürgern zu erreichen und die Kommission zuletzt hunderte Dolmetscher entließ, um sie durch eine amerikanische KI zu ersetzen.

Worthülsenbeschuss aus Niedersachsen

Wenigstens die Profis lassen den Worthülsenbeschuss aus dem Mund der Rekordhalterin im Bereich Multiministeriabilität dankbar über sich ergehen. Die Zuschauerrunde insgesamt ist nicht größer ist als die eines Handballspiels in der vierten Liga und auch im Nachhinein kommen kaum mehr Interessierte dazu. Aber Phoenix richtet sich ja auch nur an das deutsche Publikum. Beim Parlamentskanal der EU sammeln sich binnen von nur 24 Stunden immerhin weitere fast 600 Interessierte, darunter wahrscheinlich vor allem Bürgerinnen und Bürger aus der Vielzahl der EU-Staaten, in denen kein Gemeinsinnsender die Redeschlachten aus dem Hohen Haus in Straßburg live überträgt.

Jeder weiß es, niemand spricht darüber. Die Debatten im größten zumindest teilweise demokratisch gewählten Parlament der Welt interessieren niemanden, nicht einmal die Abgeordneten. Von denen sind zu Ursula von der Leyens Ansprache weniger als hundert erschienen, mehr als 600 blieben daheim oder in den berühmten "Ausschüssen". Vorm Stream beim amerikanischen Videoportal Youtube, bei dem die EU stabil sendet, obwohl eine rechtssichere Nutzung des Dienstes seit dem Safe-Harbor-Urteil des EuGH (Az.: C-362/14) vor neun Jahren nicht möglich ist, versammeln sich weitere 100 Menschen, um selbst zu sehen und zu hören, was die EU-Vorsitzende über die großen Dinge denkt und über die großen Aufgaben entschieden hat. 

Parlament ohne Volk

Dieses Parlament ist eines ohne Volk, diese Staatengemeinschaft lebt vom Desinteresse ihrer Bürgerinnen und Bürger. Ursula von der Leyen weiß das und sie nutzt es. Als Vorsitzende einer Kommission, die wie eine Maschine Ziele, Pläne und Vorgaben produziert, bei der Umsetzung aber nicht nur im Bereich Datenschutz immer wieder an den eigenen Vorstellungen scheitert, müsste sie hinter ihrem Pult stehen und um Beachtung betteln. Sind wir nicht die Volksvertreter eines ganzen Kontinent? Hat unsere engagierte Arbeit an endlosen Richtlinien, Regelungen und Verordnungen nicht verdient, dass da draußen irgendjemand zuhört? 

Doch von der Leyen ist Profi, abgebrüht und von ausbleibendem Applaus nicht zu beeindrucken. Auch wenn ihr im EU-Parlament niemand an den Lippen hängt, während sie das größte Umweltumbaugesetz der Welt beerdigt, zugleich aber droht, das Thema sei damit nicht von Tisch, performt die Frau aus Niedersachsen, als würde sie nicht mit völliger Nichtachtung gestraft. 

Der leere Saal als Menetekel

Der Saal ist leer, denn erst nach der Wahl im Juni werden mehr Sitze für viele neue Abgeordneten zur Verfügung stehen. Nirgendwo sitzt niemand freiwillig vor einem Empfänger, um sich anzuhören, wie die EU-Chefin für irgendwann nach den drohenden EU-Wahlen einen "Austausch mit Betroffenen wie Landwirten oder Umweltorganisationen" ankündigt. Ursula von der Leyen könnte ihre Rede auch bei einem Waldspaziergang in Niedersachsen halten, ohne mehr Zuhörer zu verlieren als die Straßburger Parlamentskantine Mitarbeiter hat. Doch das ist eben Ursula von der Leyen: Die Tochter des ehemaligen EG-Generaldirektor Ernst Albrecht hat schon andere Stürme erlebt. Sie übersteht sie auch noch diese Flaute.



4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Sowjets und ihre Epigonen hatten keine Probleme, zu den epochalen Reden der Vorsitzenden begeisterte Massen zu mobilisieren. Man hat so vieles übernommen, aber da hapert es noch.
Am Äußeren kann es nicht liegen, die großen Anführer waren auch keine klassischen Kalendermodels.

Anonym hat gesagt…

Die Sowjets und ihre Epigonen ...

Dass jetzt Anmerkung nicht sauer wird - er ist ein großer Sowjetfan ...

Anonym hat gesagt…

stelle mir manchmal vor wie vfl im Straflager für Salonbolchewisten den Müll ihrer Wunschorientalen sortiert und dabei rasch altert

Anonym hat gesagt…

im Straflager für Salonbolschewisten

Wird es nicht geben. Man wird diesen ganzen Ballastexistenzen zwar erfreulicherweise den Hahn zudrehen, aber - unsereinem eben auch.