Dienstag, 30. September 2025

Enteignung von Bosch: Schlachtruf vom Seniorensofa

Krise bei Bosch Stellenabbau
Kinder, wie die Zeit vergeht: Im November 2024 waren das schlechte Nachrichten, heute wären es gute.

Unter Robert Habeck war der deutsche Traditionshersteller Bosch noch optimistisch. 5.500 Arbeitsplätze nur müsse man streichen, um zurück an die Weltspitze zu stoßen. Wie sehr sich die Lage verschlechtert hat, zeigen die neuen Nachrichten aus dem Unternehmen, das Gründervater Robert Bosch 1886 im nordwestlich von Stuttgart gelegenen Gerlingen gegründet hatte. Nachdem Friedrich Merz und seine Wirtschaftsministerin Katherina Reiche die Geschäfte von Robert Habeck und seinem Kanzler Olaf Scholz übernommen haben, wird es düster bei Boschs: Noch einmal 13.000 Stellen werden gestrichen.

Das blanke Überleben 

Es geht ums blanke Überleben eines Unternehmens, das es bisher immer verstanden hatte, auf der Butterseite zu liegen. Im Kaiserreich war Bosch so etwas wie hundert Jahre später Tesla, es war aber zugleich auch Microsoft und Apple. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war ein Großteil der fahrbaren Kriegsgeräte mit Boschs Zündkerzen bestückt. Nach Kriegsende erfanden Bosch-Ingenieure die Dieseleinspritzung. Unter Hitler wurden Wehrmacht, Kriegsmarine und Luftwaffe beliefert. 

Schon unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begannen Verhandlungen zwischen den Boschs und dem Regime, um tiefer im sicheren Landesinneren zu produzieren statt direkt hinter der künftigen Front. In Schattenfabriken in Kleinmachnow und Hildesheim beschäftigte Bosch mehrere tausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und weibliche KZ-Gefangene. 

Bosch senior litt darunter, zum Ausgleich unterstützte er insgeheim Regimegegner, doch versuchte auch, Hitler die Idee der Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraumes ohne Zollschranken nahezulegen. Boschs EU war Thema mehrerer persönlicher Gespräche mit Hitler. Der aber wohl ablehnte.

Nach dem Krieg wurde kurz entnazifiziert, ein wenig entflochten und weiter ging es in die Wirtschaftswunderjahre. Je länger, desto stabiler lief das Geschäft. Bosch war nie mehr ganz vorn, aber immer mittendrin. Ein Weltkonzern wie Mannesmann, AEG und Nixdorf. Im Unterschied zu den früheren Konkurrenten aber immer noch da.

Gescheiterte Stimmungsmache 

Nur wie lange, das weiß niemand. Seit Merz mit seinem Plan gescheitert ist, die Stimmung zu wenden und der seit drei Jahren "lahmenden" (DPA) Wirtschaft auf diese kostengünstige Weise Beine zu machen, verschärft sich die Krise quasi stündlich. Aus dem "Wirtschaftswunder wie in den 60ern", das Merz' gescheiterte Vorgänger Olaf Scholz angesichts des billionenteuren grünen Umbaus der Gesellschaft vorhergesehen hatte, ist die längste Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik geworden. Zehntausende Stellen gehen verloren, und das nur vordergründig, weil die KI übernimmt. Eigentlich handeln die Unternehmen nicht aus strategischen Erwägungen heraus. Sondern aus der Not, so wie bisher unter den gegebenen Bedingungen einfach nicht mehr weiterwirtschaften zu können.

Standorte mit großer Tradition werden geschlossen, langjährige verdiente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor die Tür gesetzt, nur weil das Geschäft aktuell kaum mehr Gewinn abwirft. Der Schock ist bis in die Herzkammer des politischen Berlin zu spüren: Friedrich Merz schweigt, wo ein Gerhard Schröder schon im Hubschrauber gesessen hätte, um die Rettung von tausenden Jobs zur Chefsache zu machen. Auch Katherina Reiche, der Wende in der Energiewende sich an den Plänen ihres grünen Vorgängers Robert Habeck orientiert, hat sich bisher nicht mit Ideen zu Wort gemeldet, wie sich die anschwellende Lawine von Stellenstreichungen ausbremsen lassen könnte. 

Schlachtruf vom Seniorensofa

Das blieb bisher Bernd Riexinger überlassen, einem der Gründerväter der früheren Alternative für Deutschland, die als WASG schon nach kurzer Zeit mit der ehemaligen SED zur Linkspartei verschmolz. Riexinger, Arbeitersohn, Pazifist und ausgebildeter Bankkaufmann, hatte die Linke bis vor vier Jahren in und durch ein tiefes Tal aus Enttäuschungen geführt. Am Ende seiner Amtszeit übergab der heute 70-Jährige eins Organisation, die kurz vor dem Koma stand. Keine Wähler mehr und keine Inhalte, kein Personal, dafür aber erbitterter innerer Streit. 

Riexingers Überzeugung, dass weder Ochs noch Esel den Sozialismus aufhalten können, hat das nicht geschmälert. Seit die Ostmulle Heidi Reichinnek seiner Partei über TikTok eine neue Generation an Gefolgsleuten zugeführt hat, lässt sich mit Klassenkampfparolen auch wieder Quote machen. Riexinger, in dessen große Jahre die Erfindung der später von SPD und CDU umgesetzten Mietpreisbremse fiel,  sieht in den Abbau-Ankündigungen von Bosch keine Maßnahme, mit der ein Großkonzern versucht, sich angesichts widriger Bedingungen wetterfest zu machen. Sondern "eine Kampfansage an die Belegschaft", offenbar getroffen aus reiner Willkür.

Auf die Barrikaden 

Riexinger, der alte Klassenkämpfer, riecht die revolutionäre Situation. Wenn in Berlin 60.000 oder gar 100.000 Menschen auf die Straße gehen, weil sie sich große Sorgen um ein Terrorregime machen, das in knapp 3.000 Kilometern Entfernung immer noch Dutzend Geiseln hält, müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht ein paar Verängstige und Enttäuschte sich finden ließen, die der Bundesregierung einen heißen Herbst bereiten. 

Jetzt sei die Stunde, in der die IG Metall den Kampf aufnehmen müsse, statt "erfolglos an die Bosch-Tradition und den Mythos des Konzerngründers Robert Bosch zu appellieren", ruft der Ruheständler auf die Barrikaden. "Dem Management geht es um nichts anderes als um Gewinnmaximierung auf dem Rücken der Belegschaft."

Das muss sich ändern und das kann es nur, wenn der Staat sich freimacht aus seiner Abhängigkeit von privat geführten Großkonzernen, deren Entscheidungen er kaum beeinflussen kann. Beunruhigt hat Bernd Riexinger bemerkt, dass "die ganzen Automobilregionen und alle Zulieferer von Stellenabbau und Standortschließungen oder Standortverlagerungen betroffen" seien. Nach der Ursache dafür fragt er nicht, denn seine Idee ist die eines "koordinierten Kampfes aller Betriebe", geführt von der IG Metall, die aber leider "an vielen Orten nicht mehr weiß, was kämpfen bedeutet".

Zurück in die DDR 

Wer wie Bernd Riexinger von den richtigen Prämissen ausgeht, erkennt schnell, dass es mit dem Kampf gegen die Konzerne nicht getan sein wird. Um wirklich sichere Arbeitsplätze, Wohlstand und Gerechtigkeit für alle zu schaffen, müsse der "Kapitalismus überwunden" werden, hatten die Parteichefs Ines Schwertdner und Jan von  Aken bereits im Mai als Parole und Handlungsmaxime für die seit der Bundestagswahl deutlich selbstbewuster auftretende Linkspartei ausgegeben. Aus der alten Sponti-Forderung "Mach aus dem Staat / Gurkensalat" ist die Vorstellung geworden, Partei, Staat und Volksmassen würden am besten prosperieren, wenn eins wieder ins andere fiele wie damals in der DDR.

Die wirtschaftete nicht nur insgeheim nach einem großen Plan, die hörte auf die Wissenschaft und teilte die raren Ressourcen gerecht zu. Massenentlassungen gab es nicht, jeder hatte Arbeit, sogar die, die keine haben wollten. Warum also nicht zurückkehren zu dieser Art gemeinschaftsdienlicher Wirtschaftsordnung? Die ohne Arbeitslosen- und Bürgergeld auskam, für niedrige Mieten und stabile Lebensmittelpreise auf niedrigem Niveau sorgte?

"Das Grundgesetz schützt den Kapitalismus nicht, weil es keine bestimmte Wirtschaftsordnung vorgibt", haben Schwerdtner und van Aken ihre Absage an den "freien Markt als natürliche Ordnung einer Demokratie" begründet und ausgeführt, dass sich "immer deutlicher" zeige, "dass der Kapitalismus keine verfassungskonforme Wirtschaftsordnung ist".

Symptom einer allgemeinen Krise 

Die Bosch-Krise, die Symptom einer allgemeinen Krise der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist, bietet die Gelegenheit, auszusteigen aus dem Karussell von Wettbewerb und globalem Gerangel um höhere Effizienz und die Chance zu Einstieg in eine vom Staat geführte Ökonomie mit Konzernen im Besitz des Volkes. Ohne "Ungleichheit, Ausbeutung und Konkurrenz" als Triebfedern zur Anhäufung von Reichtum öffnet sich ein Fenster zu einer anderen Welt. "Wer also die Verfassung mit Leben erfüllen will, muss den Kapitalismus überwinden", sieht sich die Linke mit sozialdemokratischen und grünen Vordenkern einig. 

Das Grundgesetz stehe dem nicht im Weg, es zeige ihn vielmehr: "Die Verfassung schützt weder Konzerne noch Superreiche, die auf unsere Kosten immer mehr Geld und Vermögen anhäufen und somit zu einer Gefahr für die Demokratie werden". Artikel 14 und 15 stellten ganz im Gegenteil klar, dass der Gebrauch jedes Eigentums dem Wohle der Allgemeinheit dienen müsse. "Wo diese Pflicht verletzt wird, können Grund und Boden und Fabriken vergesellschaftet werden". 

Eine Enteignung von Bosch wäre ein guter, aber nur ein Anfang.

Cancel Culture: Böhmermann, Jaenicke, wer ist der Nächste?

Böhmermann Warnsignal für Demokratie
Böhmermann-Diät als Warnzeichen für die Demokratie.
 
 Als sich Dunja Hayali kürzlich nach den schweren und gezielt koordinierten Angriffen von Fans des "abscheulichen, rassistischen, sexistischen" amerikanischen Wanderpredigers Charlie Kirk eine Auszeit nehmen musste, erschien das noch wie ein Zufall. Elmar Theveßen, der ihre profunde Einschätzung des verhängnisvollen Wirkens des Trump-Unterstützers aus Reportersicht von vor Ort bestätigt hatte, blieb doch auf Sendung. Das ZDF stellte sich sogar ausdrücklich hinter seinen Korrespondenten, der den Rutsch der ältesten Demokratie der Welt in die Diktatur seit Jahren direkt an der Quelle verfolgt.   

Durch die Pressefreiheit geschützt 

So sollen die Dinge gesehen werden, teilte die Senderspitze den Verfassern von empörten Eingaben mit. Auch Forderungen aus den USA bügelte der Sender in Mainz ab. "Die Arbeit von Elmar Theveßen ist durch die Pressefreiheit geschützt", hieß es. Dabei handele es sich um "ein hohes Gut, in Deutschland und den USA". Theveßen, das war damit klar, habe nichts gemeldet, sondern ausschließlich etwas gemeint. Und meinen muss erlaubt seinen. 
 
Mit der Ausbootung der umstrittenen Julia Ruhs durch den NDR kam anschließend sogar Hoffnung auf, dass der mediale Rechtsruck der vergangenen Monate zum Stillstand kommt. Ruhs raus, den erwartbaren Sturm mit geradem Rücken durchstehen. Mund abputzen. Weitermachen wie bisher. 
 
Doch auch nach dem abgeflauten Sturm weht der gesellschaftliche Wind weiter in die falsche Richtung. Ohne großen Aufschrei der demokratischen Mitte nahm das ZDF zuerst "Hannes Jaenicke: Im Einsatz für..." aus dem Programm, einen Klassiker der Berichterstattung über die Klima-, Umwelt- und Naturschutz, der seit 16 Jahren für Gänsehaut in Millionen Wohnzimmern gesorgt hat. Jaenicke hat schon für Delfine und Schweine, für Lachse und Affen gekämpft. Er war es, der aufdeckte auf, dass Menschen Jahr für Jahr fünf Millionen Tonnen Tintenfische essen. Zu viele, teilte er nach einer ausgiebigen Tiefenprüfung mit. 

Aussortierter Mahner 

Dass ein solch hartnäckiger Mahner nicht mehr gut angesehen ist, wenn eine Koalition herrscht, die Verbrenner wieder erlauben, das Heizungsgesetz reformieren und den Habeck-Plan zum Bau von fossilen Gaskraftwerken rücksichtslos umsetzen will, liegt auf der Hand. 
 
Jaenickes Abschiebung korrespondiert mit anderen gleichartigen Ereignissen: Nach nur vier Folgen stellte die ARD den Podcast "Brave Mädchen" ein, notdürftig verbrämt als "Pausierung". Zuvor hatten die beiden Moderatorinnen Suki und Henna die bekannte Youtuberin Sashka als "Pick-Me-Girl" bezeichnet - für die ARD eine Beleidigung, obwohl sich Host Suki selbst ähnlich sieht. "Ich habe wirklich nachgedacht, wie viel ein Mann verdienen müsste, damit ich ihn date. Da habe ich beschlossen, mindestens 35.000 Euro netto im Monat", hatte die Moderatorin gemäß dem Sendungsmotto gesagt, das "Selbstironie, Klarheit und Haltung" verspricht, weil "Wer immer brav ist, verpasst die besten Storys."  
Die Geschwindigkeit, mit der die Gemeinsinnsender als Schwerkraftzentren unserer Demokratie ihre Ausrichtung ändern, ist bedrohlich. Jaenicke und die Braven Mädchen sind beileibe kein Einzelfall, die Zensurschere einer neuen Cancel Culture trifft selbst die lebendste Legende der hauptberuflichen Zivilgesellschaft: Jan Böhmermann, der selbsternannte Stauffenberg der staatsnahen Satire, steht mit seinem "Magazin Royale" vor einer Zäsur. Jahrelang schwebte der gebürtige Bremer auf Wolke 7 der progressiven Medienrepublik. Geliebt. Geehrt. Vergöttert.
 
Seinen Stil beschrieb der "Deutschlandfunk" vor zehn Jahren als "eine Mischung aus bissigem Humor, gesellschaftskritischer Satire und einer ordentlichen Portion Selbstironie". Böhmermann nehme alles aufs Korn und zwar alles, was irgendwo rechts seiner Linken steht, sitzt oder liegt.

Eine Erfolgsmischung. Und doch will das ZDF die bisher 33 Folgen "Royale" pro Jahr um ein Drittel zusammenstreichen. 20 Ausgaben sollen künftig reichen, Themen wie den Kampf gegen rechts, die Strategien der AfD, die Spaltung in der Gesellschaft, den Rechtsruck in den Schulen, die Queerfeindlichkeit auf den Straßen oder das Abkippen der USA in eine Diktatur satirisch aufzuspießen. Vieles wird dann unaufgespießt bleiben. An Böhmermann-Themen wie den bedauernswerten rechten Osten, die dunklen Netzwerke der Mächtigen und NS-Verwicklungen erfolgreicher Unternehmer wird sich dann niemand mehr heranwagen.

Ein Beben in der Fernsehnation 

Ein Beben, wie es die Fernsehnation Deutschland zuletzt erlebte, als sich Thomas Gottschalk zum sechsten Mal von "Wetten, dass..." verabschiedete und aufgrund des Fachkräftemangels kein Nachfolger gefunden werden konnte. Böhmermann selbst nimmt den Angriff auf eine der letzten Festungen des vorbildlichen Humors betont gelassen. Sein "Magazin" sei "uncancelbar", hat der ewige junge Wilde des altbackenen deutschen Fernsehbetriebes dem "Stern" diktiert, einer Illustrierten, die sich seit dem Märzheft mit der Zeile "Die Achse der Bösen" nicht mehr wagt, ihren Titel mit Trump als Hitler, Hitlergrüßer oder "unheimlicher Präsident" zu schmücken.
 
Es wackelt und kippt überall. Aktuelle Zahlen, die der X-Account ÖRR ermittelt hat, zeigen, wie Brandmauer erodiert. Das Durchzählen der Talkshowgäste, die die großen Fernsehgerichte Illner, Lanz, Hart aber fair, Maischberger und Miosga seit der Bundestagswahl begrüßten, förderte ein erschreckendes Ergebnis zutage. 
 
Zwar waren CDU/CSU (106), SPD (76), Grüne (43) und Linke (25) mit zusammen 250 in den Fernsesseln platzierten Vertretern entsprechend ihrer Bedeutung für Land und Leute und ihrer abgestuften Beliebtheit bei den Menschen draußen vor den Empfängern vertreten. Doch einmal versagte die redaktionelle Immunabwehr vollkommen und einem Politiker der im Frühjahr kurzzeitig in Gänze als gesichert rechtsextremistischen AfD wurde eine Plattform geboten.  

Anzeichen für den Rechtsruck 

Ein Prozess der Normalisierung, der die Falschen jubeln und immer wieder nachsetzen lässt. Selbst Jan Böhmermann, vielfachst preisgekrönt und in seinen verschiedenen Rollen als Entertainer, Satiriker, Fernseh-, Radio- und Podcast-Moderator, Musiker, Autor, Filmproduzent und Journalist am Ende doch immer niemand anders als Jan Böhmermann, vermochte dem Druck nicht standzuhalten, den organisierte Gruppen auf die Bundesregierung ausübten, um den Auftritt des Heidenheimer Rappers Chefket auf Böhmermanns Kunstperformance "Die Möglichkeit der Unvernunft" im Berliner "Haus der Kulturen der Welt" zu stoppen.
 
Nur weil Chefket, bürgerlich Şevket Dirican, der schon für die von der Linksjugend kuratierte Kompilation "Bundeswehr raus aus den Schulen!" mitgewirkt hatte, mit einem T-Shirt des Nahen Ostens ohne Israel sein antisemitisches Inneres entblößte, hat Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, dessen Haus als Hauptsponsor des Böhmermann-Festivals auftritt, die Notbremse gezogen. Dass Böhmermann seinem Kollegen Oliver Polak mal die Hände geschüttelt, sich dann aber eilig desinfiziert hatte, weil Polak Jude ist, geht noch als klamaukiger Spaß eines Grenzgängers durch. Ziegenficker! 
 
Aber für ein Doppelkonzert zweier Künstler voller verstecktem Judenhass war die Angst zu groß. Was würde die Welt sagen, wenn am Jahrestag des Hamas-Massakers an 1.200 Juden von der Bühne dieselben Sätze gerufen werden, die in Berlin am letzten Wochenende zehntausende Demonstranten auf den Lippen hatten, als "die Töne verrutschten" (Die Zeit) und "Kindermörder Israel" zu hören war? Vom Fluss bis zum Meer, von der Spree bis zum HKW. Palästina muss frei sein und Israel weg.

Warnsignal für unsere Demokratie 

"Ein Warnsignal für unsere Demokratie" hatte Jan Böhmermann als Vorsitzender des Wächterrates des Wahren, Guten und Richtigen schon vorab gesehen. Wenn Böhmermann nicht mehr alles sagen darf, wer wird der nächste sein? "Angesichts der Angriffe gegen die freie Meinungs- und Pressefreiheit" in den USA werfe die Streichung von Sendungen des nach eigenen Angaben schon seit einiger Zeit  "intellektueller und journalistischer" auftretenden Klassenclowns der Ampel-Republik "Fragen auf", hat der "Stern" die düsteren Entwicklungen kommentiert. 
 
Der Kollegenfunk wirft sich schützend vor den in seiner Meinungsfreiheit bedrohten Komiker. "Böhmi" steht in der Stunde der Not nicht allein, auch wenn die Taz sich mehr Rückgrat gewünscht hätte. Das Nachgeben nur wegen einiger Antisemitismusvorwürfe komme "einer Kapitulation gleich". Weimer habe, erinnert das Blatt an ein Antrittsversprechen des Medienunternehmers, "die Korridore des Sagbaren, Erkundbaren und Darstell­baren" weiten wollen, "anstatt sie zu verengen." Doch mit dem Rauswurf des Rappers, der nur das Existenzrecht Israels infrage gestellt hatte, "deutlich gemacht, was er von der Kunst- und Meinungsfreiheit hält: nichts". 

Montag, 29. September 2025

DPA: Die Worthülsenbomber

Nord Stream Anschlag russische schiffe Verdacht DPA
Die Tageswahrheiten bei DPA wechseln häufig, vor allem aber setzt die amtliche deutsche Nachrichtenagentur auf die Macht unklarer Angaben und nahegelegter Vermutungen.


Halb Wahrheitsagentur, halb Nachrichtenfabrik, halb Monopolist: Die im August 1949 gegründete Nachrichtenagentur DPA versorgt Deutschland zuverlässig mit täglich Tausenden von Nachrichten, die von ebenso vielen kleinen und großen Medienhäusern ungeprüft als reine unverfälschte Wahrheit weiterverbreitet werden.

Bei etwa 80 Prozent der von der Hamburger Firma verbreiteten Meldungen fungiert DPA nur als Transmissionsriemen, über den wörtlich übernommene  und zu Werbezwecken erstellte Pressemeldungen von Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendern weiterverbreitet werden. Die wiederum können aufgrund des sogenannten Agenturprivilegs, einer besonderen Nichthaftungsregel im deutschen Presserecht, die es Journalisten erlaubt, Agenturmeldungen in der Presseberichterstattung zu übernehmen, ohne dass der Inhalt auf Richtigkeit überprüft werden muss, als "Nachrichten" übernommen werden. 

Experte für Themensterben


Der Medienforscher Hans Achtelbuscher untersucht beim An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung seit Jahren, wie sich die Vereinheitlichung von Medienmeldungen auf die allgemeine Informationslage auswirkt. Als Experte für Phänomene für das Themensterben in  deutschen Medien und strengen Sprachregelungsmechanismen auf die berichterstattete Realität hat Achtelbuscher  eine "Einheit für einheitliche Empörung" (Emp) entwickelt, mit der die Haltbarkeit von Schwerpunktthemen gemessen werden kann.

Eine von Achtelbuscher geleitete interdisziplinäre Forschungsgruppe, die sich speziell mit sogenannten medialen Halluzinationen beschäftigt, hat jetzt mit Hilfe amerikanischer KI-Systeme Aufbau, Struktur, Satzbau und Argumentationsmuster von hunderttausenden millionenfach verbreiteter DPA-Meldungen  untersucht. 

Dabei seien seine Kolleginnen und Kollegen über eine bloße Sichtanalyse der gezielt auf gefriergetrocknete sprachliche Kargheit setzenden Agenturarbeiten hinausgegangen. Neben dem klar strukturierten Aufbau, der früher auf Präzision, Klarheit und journalistische Standards ausgelegt war, betrachteten sie auch den aktuellen Trend, mit betonter Objektivität über unerwünschte Details hinwegzuberichten. 

Das neue Auslassungsprinzip 

Hans Achtelbuscher beschreibt dieses noch recht neue Auslassungsprinzip als geschickten Trick. Vermeintlich würden nach wie vor vom erste Satz an die traditionellen W-Fragen (Wer, Was, Wann, Wo, Warum) beantwortet. "Das Ziel war ehemals, den Leser ist kurz, prägnant und ohne Umschweife zu informieren."

Im Hauptteil eines jeden Textes seien früher noch Hintergrund und Kontext beschrieben worden. "Da ging es regelmäßig um detaillierte Informationen, Zitate von Experten, Statistiken oder relevante Entwicklungen." Die Reihenfolge sei den Agenturschreibern nicht freigestellt gewesen. Sie folgte in einer umgekehrten Pyramidenstruktur der absteigenden Wichtigkeit, so dass die zentralen Informationen zuerst genannt wurden", sagt der Wissenschaftler.  

In den vergangenen Jahren habe sich das allerdings grundlegend geändert. Der Agenturton bleibe zwar auch heute noch neutral, ohne demonstrative Wertungen oder Spekulationen. Doch durch eine verwirrende Wortwahl, die Montage von einander offensichtlich widersprechenden Fakten und zitierten Experten oder offiziellen Regierungsstellen, die zusammengenommen keinerlei Sinn ergeben, würden DPA-Meldungen mittlerweile zur Informationssurrogat für Nebenbeileser und zur Herausforderung für Fachleute. 

Relativierung aller Angaben 

Besonders die häufig gewählte Relativierung von Angaben  und die Ausstattung von Sätzen mit Kombinationen aus Präpositionen und Indefinitpronomen wie "vor allem, "etwa" oder auch "insbesondere", "kaum" oder "auch" lösten das uralte Agenturversprechen einer allein tatsachenabhängigen Objektivität in einem Wortstrudel auf. 

"Die aktuelle Generation der Agenturschreiber", schildert Achtelbuscher eine Grunderkenntnis der KI-Analyse, "rückversichert sich in fast jedem Satz". Nicht abschließend beurteilen könne man derzeit, ob es sich dabei um einen beabsichtigten Effekt handele oder "ob Agenturmitarbeiter einfach nicht so gut mit Sprache umgehen können".  

Achtelbuscher, ausgebildeter Medienpsychologe und Sprachsektionist, zeigt die Dimension der Probleme an einem aktuellen Beispiel. So habe die Deutsche Presse-Agentur eben erst verkündet, dass die deutsche Wirtschaft laut den sogenannten "führenden Wirtschaftsinstituten" in den "kommenden Jahren" "aus ihrer langen Schwächephase" kommen werde. Achtelbuscher verweist auf die mehrdimensionale Ungefährheit schon dieser von den beiden Autoren Katharina Kausche und Andreas Hoenig eingangs verwendeten Formulierung. 

Unzusammenhänge als Wirkprinzip 

Weder sei "kommende Jahre" eine greifbare Beschreibung, noch befinde sich die deutsche Wirtschaft nur in einer "Schwächephase", aus der einfach so "herauszukommen" sei. Im gleich anfangs platzierten Satz "damit das anhält, geben sie der Regierung viel mit auf den Weg" erkennt der Fachmann den ersten, in der Fachsprache "Unzusammenhang" genannten Ablenkungsversuch. Diese absichtlich eingebaute "Incoherence" - zuvor ist keine Rede von einem Vorgang, der bereits ist und damit anhalten könnte - diene dazu, Leserinnen und Leset zu verwirren, um ihnen  in diesem Fall faktenfern den Eindruck zu vermitteln, es gäbe bereits eine Wirtschaftserholung.

DPA arbeitet fortgesetzt mit diesem Stilmittel. Selbst der Satz, dass Experten sich "trotzdem skeptisch" zeigten, setzt auf Irreführung, denn "trotzdem" skeptisch kann nur jemand sein, dem gute Nachrichten zugehen, die er jedoch vorläufig nur zurückhaltend bewertet. Hier aber heißt es angesichts einer im dritten Jahr schrumpfenden Wirtschaftsleistung, "die Wirtschaft stehe nach wie vor auf wackeligen Beinen" - eine verharmlosende Formulierung, die eine 
als "Konjunkturexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung" bezeichnete Geraldine Dany-Knedlik liefert, als habe DPA das so bestellt. 

"Wacklige Beine" 

Einem vor der Amputation Stehenden "wacklige Beine" zu bescheinigen - das ist fast so kuschelig wie die Klage, dass "eine Verjüngungskur" für die Wirtschaft durch die Bundesregierung noch ausbleibe und das prognostizierte Wachstum "vor allem durch staatliche Milliarden-Investitionen getrieben" werde. Hier tauche das "vor allem" zum ersten Mal auf, erläutert Hans Achtelbuscher. Typischerweise stehe es allein und es werde nicht erläutert, was außer "vor allem" noch als Wachstumstreiber ermittelt worden sei.

Die Deutsche Presse-Agentur, sagt der Medienforscher, sei so wirkmächtig, weil sie von 95 Prozent der deutschen Medien als Hauptquelle genutzt werde, von ihr gewählte verharmlosende Formulierungen wie "Mini-Wachstum" oder "Konjunkturtief" damit weite Verbreitung und allgemeine Akzeptanz fänden. Wenn DPA schreibe, "im laufenden Jahr erwarten die Institute nur eine Steigerung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 0,2 Prozent" und  sei gut, weil "im Frühjahr wurde noch ein Plus von 0,1 Prozent erwartet" wurde, klinge das optimistisch. "Obwohl wir uns in diesem Zahlenbereich natürlich im Bereich des Messfehlers bewegen." 

Es wird "sehr lieb formuliert" 

Um Wahrheit und Wirklichkeit geht das allerdings ohnehin nicht. Wenn DPA formuliert, dass die deutsche Wirtschaft "seit längerer Zeit in einem Konjunkturtief" stecke und ausführt, dass die Wirtschaftsleitung "in den vergangenen beiden Jahren schrumpfte", sei das richtig, wenn auch "sehr lieb formuliert", wie Hans Achtelbuscher sagt. Wenn unmittelnar im Satz danach aber nach den Gründen dafür gesucht und beschrieben werde, dass "vor allem höhere Zölle auf EU-Importe den Handel auf dem wichtigen US-Markt ausgebremst" hätten, "dann  handelt es sich um eine offenkundige Falschbehauptung". Der Zollstreit mit den USA sei erst vor einem halben Jahr ausgebrochen. "Er konnte das Wachstum weder 2023 noch 2024 bremsen".

Die weiteren von DPA genannten Ursachen der prekären Lagen hingegen seien keien. "Wenn dort geschrieben wird, dass viele wichtige Branchen wie die Auto- und Stahlindustrie in Schwierigkeiten steckten und auch der private Konsum in Deutschland nicht in Schwung komme, sind das Gründe, aber keine Ursachen." 

Etwas Dynamik 

Die von DPA verbreitete Erwartung der Forschungsinstitute, dass die deutsche Wirtschaft in den kommenden zwei Jahren die Talsohle verlasse und "wieder etwas an Dynamik gewinnt", passt für Hans Achtelbuscher in eine Methode, die auf Irreführung setze. Ein BIP-Wachstum von 1,3 Prozent im Jahr 2026 und von 1,4 Prozent 2027 sei weder "dynamisch" noch überhaupt real. "Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2026 sieht insgesamt Bundesausgaben von 520,5 Milliarden Euro vor, das ist ein Anstieg 3,5 Prozent gegenüber 2025",  agt Achtelbuscher., Hier werde "mit dem Schinken nachd er Wurst geworfen."

Diese "expansive Finanzpolitik", wie DPA die ausufernde Schuldenorgie von CDU, CSU und SPD nennt, "dürfte die Konjunktur anschieben". Dadurch komme "die Binnenwirtschaft spürbar in Fahrt", denn das "500 Milliarden Euro schwere Sondervermögen" sorge "für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und den Klimaschutz, das eine Laufzeit von zwölf Jahren hat". Hans Achtelbuscher sieht in diesem Satz ein besonders gutes Beispiel für sogenannten irrationalen Journalismus. "Wir haben hier Schulden, die auftragsgemäß als ,Sondervemögen' bezeichnet werden, wir haben die Behauptung, es gebe ,zusätzliche Investitionen' und um Leser davon abzuhalten, über dieses Framing nachzudenken, wird der unsinnige Nebensatz von der "laufzeiut von zwölf Jahren" angehängt.

Schräge Sprachbilder 

Was hat diese Laufzeit? Wer und warum wofür? Die berühmten W-Fragen beantworte eine DPA-Meldung in der Rgeel gar nicht mehr, sagt Hans Achtekbuscher. Hier sei die Rede von "erweiterten Verschuldungsregeln", "steuerlichen Entlastungen von Unternehmen" und "Entlastungen bei den Energiekosten", durch die das "real verfügbare Einkommen wieder Fahrt aufnimmt". Achtelbuscher ist sich sicher "Der Aufsatz eines Sekundarschüler würde für dieses schräge Sprachbild schlechter benotet." Das aber sei kein Zufall, sondern Strategie. Es gehe um Verwirrung, um Informationsüberladung und den Ersatz seriöser Informationen durch Surrogate. 

Das zieht sich durch diesen DPA-Text wie durch zahllose andere. Hans Achtelbuscher verweist auf den Satz "Vom Export und der Industrie seien dagegen kaum positive Impulse zu erwarten - wie sonst üblich in einer Aufschwungphase" und schüttelt den Kopf. Was sei üblich? Kaum positive Impulse? Export? Industrie? "Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist das gestammelt", urteilt er. 

Die Umsetzung ist Absicht 

Aber beabsichtigt. So komme DPA gleich anschließend auf die Frage, "wie läuft die Umsetzung des Sondervermögens?", so tief gebückt vor den Sprachvorschriften aus der Bundesworthülsenfabrik (BWHF), dass den Extraschulden eine "Umsetzung" angedicht wird, keine Ausgabe der zusätzlichen  Kredite. Anschließend werde formuliert, dass die Regierung schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren plane, "damit das Sondervermögen schnell wirkt". Hans Achtelbuscher, auch privat ein großer Freund klarer und wohlformulierter Sätze, wringt die Hände. "Wenn ich im darauffolgenden Satz lese, dass die Institute erwarten, dass die Mittel, etwa für Bau- und Rüstungsprojekte, langsamer abfließen als im Haushalt vorgesehen, weiß ich wirklich nicht mehr, was mit da mitgeteilt wird."

"Etwa für Bau- und Rüstungsprojekte" sei das "vor allem", das schon im nächsten Absatz zentral ist. "Vor allem die Auslandsnachfrage nach deutschen Waren schwächele", heißt es das im gewohnten Verharmlosungssound. Schuld seien "hohe Energie- und Lohnstückkosten im internationalen Vergleich, Fachkräftemangel sowie eine weiter abnehmende Wettbewerbsfähigkeit" - das gleiche einem Wunder, sagt Hans Achtelbuscher, der auch Ökonomie studiert hat. 

Das kleinste aller Probleme 

"Wer seine Produkte wegen hoher Lohn- und Stückkosten nicht mehr abgesetzt bekommen, leidet sicher unter vielem, aber nicht unter Fachkräftemangel", sagt er. Einem Unternehmen, das nicht mehr wettbewerbsfähig sei, sei keineswegs damit zu helfen, dass es neue Mitarbeiter einstelle. Auch die DPA-Behauptung, dass "die Wachstumsaussichten mittel- und langfristig vor allem (sic!) durch die demografische Entwicklung gebremst" würden, erscheine vor diesem Hintergrund  widersinnig. "Wenn unmittelbar danach auf seit langem hausgemachte Probleme wie ,vor allem' bürokratische Hürden, hohe Energiekosten, eine mangelnde digitale Infrastruktur steigende Sozialabgaben verwiesen wird, stellt sich die Frage, welche Rolle ein Mangel an Fachkräften da noch spielen kann."

Beantwortet wird sie nicht. Stattdessen verkündet DPA einen "12-Punkte-Plan für Reformen", die nach dem Willen der Wirtschaftsinstitute auch noch "grundlegend Reformen" sein müssten und "schnell kommen" sollten. Dann "könnte dies einen positiven Effekt auf die Konjunktur haben". Hans Achtelbuscher ist angesichts der vulgärsprachlichen Gewöhnlichkeit der Formulierungen entsetzt. "Grundlegend, kommen, könnte, positiver Effekt", sagt er, "nichtssagender geht es nicht". Jedenfalls nicht lange. Dann folgt der noch tiefgründigere Satz: "Ohne ein Paket klarer Reformen, die den Standort stärkten, drohten die finanzpolitischen Impulse früher oder später zu verpuffen."

Formulierungen aus der Sprachhölle 

Es sind allesamt Formulierungen aus der Sprachhölle, inhaltsleer und wie der Vorschlag, "die Sozialversicherungsbeiträge zu stabilisieren" und der Hinweis, dass das "Umlagesystem etwa in der der gesetzlichen Rentenversicherung durch die niedrige Geburtenrate und die steigende Lebenserwartung immer mehr unter Druck" gerate. Achtelbuscher nennt das ein "Worthülsenbombardement", das jeden Menschen überfordere, der auf der Suche nach Informationen sei. "Da es diese wirren Wortkanonaden sind, aus denen sich Millionen Deutsche ihr Weltbild basteln, besteht kein Zweifel daran, dass  wir uns in einer tiefen Verständniskrise befinden", sagt der Forscher.

Fast vier Jahre zu früh: AfD startet Wahlkampf

In Köln hat die staatliche Zivilgesellschaft eine aufrüttelnde Kampagne für die AfD gestartet.
 
Der genaue Termin steht noch nicht fest, aber irgendwann im Winter oder Frühjahr 2029 wird er sein. Nach den Vorgaben des Grundgesetzes ist eine Rückkehr zum lange gewohnten Wahltag im September nicht möglich, wenn nicht auch die Regierung Merz vorzeitig scheitert und nach einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages erneut eine veränderte Terminplanung nötig wird. Schafft es Friedrich Merz auf diese oder jene Weise bis zum Zieldatum, schreibt der verfassungsrechtlich vorgegebene Rhythmus vor, dass alle künftigen Wahlen in den Winter- oder Frühjahrsmonaten stattfinden.   

Grundsätzliche Landschaftsveränderung 

Eine bisher recht wenig beachtete Veränderung, für die die Ampel-Koalition lange in Erinnerung bleiben wird. SPD, Grüne und FDP haben nicht viel erreicht, aber durch das vorzeitige Ende ihres Regierungsbündnisses dafür gesorgt, dass künftige Wahlkämpfe stets im Winter stattfinden werden. Das Ringen um Stimmen an Straßenständen bei Eis und Schnee, das Klingeln an Haustüren im kalten Februarregen und Wahlplakatekleben, während es noch gar nicht richtig hell wird - selten hat eine so wenig wahrgenommene Entscheidung der demokratischen Parteien die politische Landschaft so grundlegend neu geordnet.
 
Die Auswirkungen sind heute schon zu spüren. Noch sind es mehr als 1.200 Tage, die bis zum nächsten Wahltermin ins Land gehen, den genauen Termin wird der nächste Bundespräsident festlegen. Doch im Rheinland hat die von den demokratischen Kräften der Mitte kollektiv energisch bekämpfte AfD bereits ihren Wahlkampf begonnen: Mit der Plakatkampagne "Ja zu Migration" zielt die Anfang des Jahres kurzzeitig schon einmal als in Gänze gesichert rechtsextremistisch eingestufte Partei darauf, die nach einem Jahrzehnt der Willkommenskultur migrationsmüde Mehrheit zu provozieren. 

"Zu" statt zur 

Bewusst dockt die beauftragte Werbeagentur mit dem Claim "Ja zu Migration" an die Ghetto- und Gossensprache der einfachen Menschen an, die tagtäglich von den vielfältigen Vorteilen profitieren, die die Zuzugsjahre nach 2015. Statt mit einem hochsprachlich "Ja zur Migration" Bürgerinnen und Bürger auszuschließen, setzt das slangartig verknappte "Ja zu Migration" ein klares Zeichen für ein solidarisches Miteinander. Das wirkt echt, das wirkt großstädtisch und erinnert an schmissige Klassiker wie "das König der Biere", den Werbeslogan "Lesen was dumm macht" oder die grünen Kanzlerwahlplakate mit dem Spruch "Bereit, wenn Ihr es seid" - das "Ihr" wurde großgeschrieben, weil die Zentrale der Bildungspartei im Heinrich-Böll-Haus dem Volk ihren  Respekt erweisen wollte.
 
Offiziell sammelt die Kampagne "Ja zu Migration" Stimmen aus der Gesellschaft, die "sich klar für Vielfalt, Zusammenhalt und gegenseitigen Respekt aussprechen" und deutlich machen, dass Migration stets ist eine Bereicherung ist. Der zunehmenden Hetze gegen Migrant:innen und der Problematisierung von Migration setze man "hundertfaches Ja vieler Freiwilliger" entgegen. Der Meckerei über eine vermeintlich ausufernde Zuwanderung schallt ein "Weil ich mit den in Deutschland Geborenen nicht allein gelassen werden will" ins hasserfüllte Gesicht. 

Echte Menschen, echte Ansichten 

Ganz einfache, aber lebensechte Menschen versichern auf ihren selbstgemachten Plakaten, dass gemeinsames Leben möglich, Migration unabwendbarer Teil der Realität und Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft sei. Die Vorteile daraus ziehen alle, heißt es auf anderen Plakatmotiven. Junge, kräftige Einwanderer könnten der "Veralterung" entgegenwirken. Alle könnten "voneinander lernen". Und "unsere Vielfalt macht uns stark". Und "Wir kommen alle irgendwoher", damit "Freundinnen zusammen sein könne", "niemand ohne Grund flieht" und "das Recht, zu bleiben und z gehen" für jedermann gewahrt bleibt.
 
Vordergründig eine überzeugende Argumentation. Verglichen etwa mit Staaten in Afrika, Südamerika oder im arabischen Raum beweist Deutschland tatsächlich seit Jahrzehnten, dass eine diverse Gesellschaft mit religiöser Toleranz, einer vom Staat großzügig gewährten Meinungsfreiheit und weitgehenden Rechten bei der Organisation des eigenen Lebens wirtschaftlich erfolgreicher ist als Regimes, die Andersglaubende vertreiben, Andersdenkende ermorden, auf staatliche Planwirtschaft setzen und ihren Bürgerinnen und Bürgern die Grundrechte verweigern.  

Aktiv in den Diskurs einbeziehen 

"Wir sind viele, die das so sehen, wir stehen zusammen und wir sagen Ja zu Migration.", heißt es in der Überschrift zur "Ja"-Kampagne, die offiziell gestartet wurde, um ein "realistisches, respektvolles Bild von Migration in der Öffentlichkeit zeigen, Stimmen sichtbar machen, die Migration als Bereicherung für unsere Gesellschaft verstehen und die Solidarität zu stärken – gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und rechte Hetze". Das wirkt ehrlich. Das wirkt glaubhaft und klingt wirklich nach der Absicht, "Demokratie und Teilhabe zu fördern, indem wir Menschen aktiv in den Diskurs einbeziehen".
 
Dass in Wahrheit wohl eine ganz andere Idee dahitlersteckt, zeigen erst die Reaktionen auf die von insgesamt 28 engagierten Vereinen, Bündnissen und Nichtregierungsorganisationen angeschobene und finanzierte Werbeaktion. Obwohl das Institut der deutschen Wirtschaft bereits ein Jahr vor der von Angela Merkel 2015 verfügten "Grenzöffnung" (Barack Obama) in einem Grundsatzpapier unwiderlegbar "12 gute Gründe für Zuwanderung" aufgelistet hatte, sind die Zweifel am Konzept der offenen Grenzen seitdem nicht geringer geworden. Es ist höchste Zeit, der Wahrheit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, "selbst Leute, die die Vielfalt feiern, fangen an zu zweifeln" (SZ).

Wohlwollende Anmoderation 

Doch während große Medienhäuser das Projekt des Zusammenschlusses der Kölner Willkommensinitiativen wohlwollend vorstellen und die "bunten Plakate" für ihre "klaren Botschaften" (RTL) loben, entfaltet die Kampagne in den sozialen Medien ihre wahre Wirkung. "Das wird von unserem Steuergeld finanziert", empört sich da ein Nutzer, ein anderer kommentiert mit "Wir sind verloren!", der nächste fragt "Warum wird dieser Wahnsinn von niemandem gestoppt?!"
 
Danach, dass das vom Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend über einen der 551 Fördertöpfe für "Demokratie leben" finanzierte Programm viele nach rechts außen abgedriftete Wähler:innen zum Umdenken bewegen wird, klingt das nicht.
 
Vielmehr nach dem Gegenteil. Die unmittelbare Konfrontation mit Wahrheiten wie der, dass Migration für viele Probleme die Lösung ist, Weihnachten mit Ali viel cooler und vier Millionen Neuankömmlinge die deutsche Küche immer leckerer gemacht haben, führt bei den Adressaten offenbar nicht zur von Arbeiterwohlfahrt, der Stadt Köln, der Diakonie, der Caritas und den zahlreichen angeschlossenen Runden Tischen, Gemeinwesenvereinen und Willkommensinitiativen beabsichtigten Einsicht. Sondern zu versteiften, bockigen Abwehrreflexen.

Die besten Wahlhelfer 

Gereizt, getriggert, zu störrischem Widerspruch provoziert - nach dem Maßstab, dass Demokraten alles zu unterlassen haben, was der AfD nützen könnte, erweist sich die "Ja zu Migration"-Kampagne als klassischer Schuss ins Knie. Bisher waren es die Parteien der demokratischen Mitte, die mit ihrer Politik beharrlich auf Mehrheiten für die Rechtsaußenpartei hinarbeiteten. Gemeinsinnsendungen bei ARD und ZDF assistierten emsig.
 
Angeführt von Ansagerikonen wie Georg Restle, Dunja Hayali, Sarah Bosetti und Jan Böhmermann sorgen sie für eine permanente emotionale Aufladung der Bevölkerung. Getriggert wird mit Gendersprache und der Abwertung großer Bevölkerungsgruppen, mit Antiamerikanismus und neuer Mathematik. Was nach Provokation aussieht, ist eine beständige Machtdemonstration, die demonstriert, dass Menschen sich aufregen, aber nichts ändern können. Flankiert wurde der "Kampf gegen rechts" (Angela Merkel) von Wahlhelfern bei "Spiegel", Taz, SZ und "Stern", die trotz schwindender Bedeutung bewiesen, dass sie immer noch Menschen beeinflussen und zum Umdenken bringen können. 
  
"Ja zu Migration"  macht da weiter, wo "AfD Ausklammern" vor sechs Jahren daranging, die gesellschaftliche Spaltung zu  vertiefen, Anderswählende auszuschließen und im Zeichen des Kulturkampfes für die liberale Demokratie nach den alten Rezepten des Totalitarismus kochte. Dreieinhalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl hilft das der AfD noch nicht direkt, doch das Beispiel zeigt, wie es die selbsternannten Blauen schon im kommenden Jahr zu einer Mehrheit in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt bringen kann.

Sonntag, 28. September 2025

Aufrüstung Ost: Panzerfabriken für den Frieden

Friedenspanzer Suwalki-Lücke Ostquote Aufrüstung
Ein Friedenspanzer, gebaut nach Entwürfen von Heinrich Straumer, dem Begründer des Vereins Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Der Kampf wird ein ungeheurer werden, mit modernen Panzerarmeen, Spezialkräfteeinheiten, Drohnen und einem schicken Weltraumkommando. Gebraucht für den anstehenden endlosen Abnutzungskampf werden schwere Waffen im Übermaß, Waffen, die aus möglichst frontnahen Fabriken kommen müssen, um die absehbaren Mängel beim geplanten Transport des Nachschubs aufs Schlachtfeld zu minimieren.  

Deutschlands große Panzer- und Geschützfabriken allerdings stehen noch weit im Westen, tief im Kernland der Nato, dort, wo der Russe nach dem letzten Krieg nichts abbauen konnte und auch nach dem Ende des Kalten Krieges keinen Abriss verlangen durfte. Strategisch ein Problem für die Planung der Verteidigung. Je kürzer die Versorgungslinien, desto mehr profitiert der Angegriffene vom Vorteil seiner kürzeren Frontlinie. Je länger, desto mehr hebt sich dieses Plus für die eigene Kriegsführung im Kräftemessen mit dem Angreifer auf. 

Rüstung für alle 

Ein Problem, das nach dem Willen der Regierungschefs der ostdeutschen Bundesländer zum Vorteil des gesamten Landes genutzt werden soll. Seit Donald Trump dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj Anfang des Jahres mitteilte, dass er doch nicht Amerikas Krieg kämpft, überschattet die russische Bedrohung Europa wie in den zwei Jahren Krieg zuvor nicht. 

Das politische Berlin wurde durch die dramatischen Szenen im Weißen Haus aufgeschreckt aus dem süßen Traum, mit 5.000 Helmen, ein paar Panzerhaubitzen aus Altbeständen und gelegentlichen Solidaritätsausflügen nach Kiew genug getan zu haben für die Ostflanke. Seitdem sieht sich Bundeskanzler Friedrich Merz auch als vorderster Hüter des Westens. 
 
Und sein Verteidigungsminister Boris Pistorius denkt weiter als bis Riga, Narva und Donezk. "Im Weltraum gibt es keine Grenzen oder Kontinente, dort sind Russland und China unsere direkten Nachbarn", hat der Sozialdemokrat seine vom Referat Kampfbezeichnungen des Verteidigungsministeriums auf den Namen "Combined Space Operations Initiative" getaufte erste multidimensionale Kampfeinheit der Bundeswehr als eine Art Dachwache der Demokratie beschrieben. Auch im Weltraum soll Deutschland verteidigungsfähig werden, "als Schrittmacher unter den europäischen Nationen", wie Pistorius sagt.
 
"Der Weltraum hat keine Grenzen, also sollten wir auch keine ziehen, wenn es um unsere gemeinsame Sicherheit geht." 35 Milliarden Euro will der frühere Bundeswehrgefreite bis 2030 für sein "Star Wars"-Projekt ausgeben, um die ungehinderte Nutzung des Alls als "Schlüsselfaktor für den Erfolg militärischer Gesamtoperationen" sicherzustellen. Diese Verantwortung, versprach Pistorius, ende nicht in der Stratosphäre. Sie brauche "kleine Trägerraketen für flexible Starts, mittelfristig aber auch europäische Schwerlastträger, ohne die wird es nicht gehen". 

Ohne eigene Rakete 

35 Milliarden, das sind sieben Milliarden im Jahr - das entspricht in etwa der Summe, die Deutschland in Künstliche Intelligenz steckt, die es auch nicht hat. Weil Deutschland derzeit auch keine funktionierende Rakete besitzt - zuletzt waren ehrgeizige Startversuche mit den Aggregat4-Nachbauten SR75, RFA und mit der Propangasrakete "Spectrum" gescheitert, während die Ariane 6 nach 15 Jahren Entwicklungszeit noch in der Erprobungsphase ist  - muss aus den knappen Mitteln auch noch die Produktion des von Pistorius geforderten Schwerlastträgers finanziert werden. SpaceX benötigte allein zehn Milliarden, um die "Falcon9" zu entwickeln. 
 
Vom knappen Geld aber wollen alle etwas ab, damit es Gutes tut, während es für neue Panzer, Kanonen, Uniformen und Jagdflugzeug-Entwicklungen wie das Future Combat Air System (FCAS) verschwendet wird, die etwa ab dem Jahr 2040 den Eurofighter "Typhoon" ersetzen sollen. Zur selben Zeit stünde dann - sollte Frankreich nicht vorher Staatsbankrott anmelden müssen - auch das deutsch-französische Main Ground Combat System (MGCS) bereit, das die beiden heute genutzten Kampfpanzer Leopard 2 und Leclerc durch ein neues vernetztes Kampfpanzersystems ersetzt, wenn es Paris und Berlin doch noch gelingt, den Streit um den Zugriff auf das geschätzte Umsatzpotenzial von 100 Milliarden Euro ohne offene Feldschlacht beizulegen.

Aktuellen Berechnungen nach wäre Deutschland allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits im elften Jahr im Krieg mit Russland. Nach dem Verlauf des russischen Angriffes auf die Ukraine kämen die gemeinsamen Waffensysteme der sechsten Generation im gerade recht, um mit der Elblinie die Außengrenze des Gebietes zu verteidigen, in dem im gleichen Jahr planmäßig das große Ziel der Klimaneutralität erreicht werden wird.  

Ein Stück vom Rüstungskuchen 

Dass die Ost-Ministerpräsidenten jetzt fordern, für ihre wirtschaftlich daniederliegenden Länder ein Stück vom Rüstungskuchen abbekommen zu dürfen, ist Chance und Risiko zugleich. Deutschland nehme Milliarden-Schulden für die Verteidigung auf, auch die Ostdeutschen müssten zahlen. Es könne deshalb nicht sein, dass für sie nichts abfalle. Wenn schon ein Krieg unausweichlich sei, dann müsse der vorhergehende Rüstungsboom auch dem Osten auf die Beine helfen.
 
Aufrüstung Ost statt Aufschwung Ost. Haseloff, Kretschmer und Voigt argumentieren, dass angesichts des Zusammenbruchs der Autoindustrie dringend Ersatzarbeitsplätze geschaffen werden müssten, möglichst noch vor den bedrohlich näherrückenden nächsten Landtagswahlen. Die noch unter Angela Merkel angeschobene Behördenansiedlungsoffensive reiche nicht aus, die vielen tausend freigesetzten Fachkräfte adäquat zu beschäftigen. 

Andererseits zögern Merz und Pistorius aus guten Gründen: Die Geschichte zeigt, dass sich die unbefestigte Ostgrenze an Oder und Neiße im Falle eines Angriffes kaum lange halten lassen wird. Riskierte es die Bundesregierung jetzt, dem Osten mit einer festen Quote der Investitionen aus der Krise zu helfen, droht nach 2029 vielleicht der schnelle Verlust der nagelneuen großen Rüstungsfabriken.   

Lauwarme Tröstungen 

Mit den üblichen lauwarmen Tröstungen auf später hat Merz die Erwartungen abmoderiert. Es gehe um "Standortentscheidungen der Unternehmen", aber die Bundesregierung könne schon dafür sorgen, "dass die Standortentscheidungen unter besonders günstigen Bedingungen getroffen werden." Deutschlands größter Rüstungskonzern Rheinmetall etwa rechnet in nächster Zeit nicht mit einem, russischen Angriff. Das Düsseldorfer Unternehmen will im kommenden Jahr eine "neue Munitionsfabrik" (Die Zeit) in Lettland bauen. Wäre die Kriegsgefahr wirklich groß, würde die Standortentscheidung nicht auf einen Ort gefallen sein, der als klassisches russisches Durchmarschgebiet Richtung Suwalki-Lücke gilt.
 
Ostdeutschland ist nicht sicher, aber deutlich sicherer, so lange es friedlich bleibt. Der CDU-Chef versteht, dass Kretschmer, Voigt und Haseloff gern ihren Anteil der ursprünglich zur Waffen- und Munitionsproduktion gedachten 500 Milliarden Euro Sonderschulden hätten. Er weiß aber auch, dass das Geld dafür nicht reichen wird, wenn es vorher für den Aufbau von Munitions- und Waffenfabriken ausgegeben wird.  

Keine Anschlussverwendung 

Statt den in nächster Zukunft freiwerdenden tausenden von Automobilwerkern in Sachsen eine Anschlussverwendung in der Friedenspanzerproduktion zuzusagen, sicherten Merz und Pistorius zu, "Anstrengungen" zu unternehmen, um auch in Ostdeutschland Standorte für Rüstungsindustrie auszubauen. Auf die Schnelle aber werde sich das nicht machen lassen, weil das Vergaberecht der EU keine Quoten für Panzer, Kampfflugzeuge, Hubschrauber, Kriegsschiffe und U-Boote aus bestimmten Herstellungsregionen vorsehe. 
 
Die ursprünglich von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ins Spiel gebrachte "Ost-Komponente" für Rüstungsaufträge scheitert im Moment daran, dass es derzeit an Produktionsstandorten in den früheren Anschlussgebieten fehlt. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sieht darin aber auch eine Chance für die Rüstungsindustrie, Standorte in Ostdeutschland aufzubauen. Man sei sich da "total einig", schilderte Boris Pistorius die Stimmungslage am Tagungsort  Weimar, einst Heimat der 1. Panzer-Division und Standort des Gustloff-Werkes II, in dem die SS Zwangsarbeiter Gewehre, Geschützteile und Raketenfeinmechanik produzieren ließ.

Trumps Radikalisierung: Jetzt Christ statt Faschist

Eben noch Faschisten, jetzt nur noch "fanatische Christen" wie Papst Leo XIV. Beim "Spiegel" hat eine grundlegende Neubewertung des US-Präsidenten stattgefunden.

Gestalterisch geschmackvoll, kühl, analytisch und unumwunden direkt auf den Kern zielend: Mit seiner mit dem Wort "Gotteskrieger" überschriebenen Titelgeschichte nimmt das frühere Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" seine verbliebenen Leser mit in den ultrarechts-christlich-nationalistischen Komplex, der von Washington aus die heute schon die Vereinigten Staaten regiert. Und sich anschickt, seine Macht auf den Rest der Welt auszudehnen. Im Zeichen von Bibel, Kreuz und Donald Trump, so ist es auf dem Titelbild zu sehen, zieht "die freundliche Armee Gottes" (Der Spiegel) aus, Jahrhunderte der Aufklärung vergessen zu machen.  

"Jung, weiß, kinderreich" 

Geht es nach den neuen Kreuzrittern, die Reporter Jörg Schindler in und um das Kabinett Donald Trumps ausgemacht hat, soll die Welt wieder "jung, weiß, kinderreich und ausgesucht höflich" werden. Mit den "Kreuzfahrern von heute", die der deutsch-amerikanische Schriftsteller Stefan Heym in  seinem Buch "The Crusaders" beschrieb, haben die vom "Spiegel" vorgestellten Gotteskrieger nichts zu tun. Heyms GIs, der Autor war selbst einer, zogen aus, Hitler zu besiegen und Europa vom Faschismus zu befreien. Trumps Vizepräsident JD Vance und sein Verteidigungsminister Pete Hegseth hingen seien "erzkonservative Bibelfanatiker", die die USA "in einen theokratischen Staat verwandeln" wollten.

Die mit der Wahl des Wortes "Gotteskrieger" bezogene Parallele zum Islamischen Staat, zu Al Kaida und den Taliban ist gewollt. Das immer noch größte deutsche Nachrichtenmagazin setzt eine demokratisch gewählte Regierung, die deren Mitglieder wie alle ihre Vorgänger sei 250 Jahren auf die Bibel geschworen haben, mit Islamisten, Terroristen und theokratischen Diktaturen wie der im Ian, in Syrien oder im Gaza-Streifen gleich. Die von einer Mehrheit der Amerikaner gewählte Administration steht damit auf einer Stufe mit Gotteskriegern, die in Afrika Menschen abschlachten, weil sie an den falschen Gott glauben. Und mit mörderischen Regimes, die am Tag drei Todesurteile vollstrecken.

Instrumentalisiertes Attentat 

Keine drei Wochen nach dem Mord an Trumps prominenten Unterstützer Charlie Kirk ist die Zeit gekommen, das Attentat endgültig zu instrumentalisieren. Hatten Dunja Hayali, Elmar Theveßen und andere Prominenten Kirk noch mit ein paar abwertenden, gehässigen Sätzen selbst für seine Ermordung verantwortlich gemacht, schafft es der "Spiegel" jetzt, dem "bei einem Attentat in Arizona getöteten Influencer" in Grab nachzurufen, er habe "bis zu seinem Tod zahllose junge Amerikaner mit seinen rechtsreligiösen und rechtsextremistischen Ansichten berauscht". Und anschließend dafür gesorgt, dass Trump versprach, "Gott jetzt erst recht und wie nie zuvor" ins Alltagsleben zurückbringen zu wollen - auf einer Gedenkfeier mit 90.000 Gästen, die "zusehends einer evangelikalen Rekrutierungsmesse glich".

Der Mord an Kirk selbst spielt keine große Rolle mehr, was genutzt wird, um Angst davor zu schüren, dass Amerika "unter Bibeldiktat" gestellt werden wird, sind die Reaktionen der nach dem Anschlag auf Donald Trump in Pennsylvania zum zweiten Mal von einer Attentäter getroffenen Republikaner. Trumps Erwähnung des "Hasses", der er spüre, und der versprochene "gerechte Zorn", mit dem mögliche Hintermänner des Mordes verfolgt werden sollen, werde in der Darstellung des Magazins zu den Vorboten eines Kreuzzuges gegen Demokratie, Freiheit und die uramerikanischen Werte.

Die wahre "Macht des Bösen" 

Es sind hier die Bösen, die mit dem Linksextremismus die "Mächte des Bösen" beseitigen wollen, die aus dem Hamburger Blickwinkel doch für das Gute stehen. Zu traurig, dass es nach der Ermordung Kirks nicht zu ähnlichen Szenen wie nach dem Tod von George Floyd kam. Aufgebrachte Bürgerrechtler plünderten damals Supermärkte, sie verprügelten Menschen, die anders aussahen oder sich ins falsche Stadtviertel verlaufen hatten, und sie lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. In der "Welt der extremistischen Christen" hat die Witwe von Charlie Kirk dem Mörder ihres Mannes vergeben. Im "Spiegel"-Text wird es bedrohlich, als Pastor Jared Longshore verkündet: "Gottesdienst ist für uns Kriegsführung."

Es herrscht im Text ansonsten akuter Mangel an greifbaren Beweisen dafür, dass Trump gerade dabei ist, einen Gottesstaat zu errichten. Ja, der Vorstadtpfarrer sagt: "Christus oder Chaos". Ja, Verteidigungsminister Pete Hegseth hegt eine "gewisse Begeisterung für Kreuzritter". Doch handelt es sich bei der Tatsache, dass "kein Mangel an Kirchen in der Hauptstadt der USA" herrscht, wirklich um einen Hinweis darauf, dass der "graubärtige Prediger" Douglas Wilson als Teil eines "weitverzweigten globalen Netzwerks namens Communion of Reformed Evangelical Churches" nicht nur "wie Gottes Berserker" gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau wettert? Und gegen eine "angebliche Überfremdung Amerikas durch Nichtprotestanten" predigt. Sondern dabei auch von mehr Menschen ernstgenommen wird als die katholischen Bischöfe Deutschlands, wenn sie zu "mehr Klimaschutz" aufrufen?

Eine dünne Suppe 

Es ist eine dünne Suppe, die der "Spiegel" zum ökumenischen Abendmahl reicht. Ein Gottesmann aus Idaho, der "mit umgeschnalltem Flammenwerfer Disney-Figuren abfackelt" wie revolutionäre Gruppen in Deutschland Hochspannungsmaste, muss als Beispiel für die gewalttätigen Kämpfer für eine "amerikanische Theokratie" herhalten. Und der bis eben noch nicht gerade als gottesfürchtig bekannte 47. US-Präsident tritt hier als Aufbauhelfer des geplanten Gottesstaates auf. Trump habe "eine Vielzahl" seiner, wie er sagt, "herrlichen Christen in den innersten Zirkel der Macht geholt". Damit werde "das Gebot der Trennung von Staat und Kirche aufgeweicht", analysiert der Reporter aus dem Land, dessen größte Regierungspartei den Namen "Christlich Demokratische Union" trägt.

In der Not, den "herrlichen Christen" um den eben noch als Faschisten auftretenden Trump keine Vielzahl von religiösen und ethnischen Säuberungen nachweisen zu können, lässt Jörg Schindler seine Fantasie schweifen. Trumps Christen seien eben "nicht irgendwelche Christen". Pentagonchef Hegseth etwa hänge "dem Glauben an, dass die Bibel, und nur die Bibel, das Maß aller geistlichen und weltlichen Dinge zu sein hat". Ein Missverständnis, wie es auch die Kirchen in Deutschland fortgesetzt verbreiten, wenn sie behaupten , die Bibel, das sogenannte "Buch der Bücher", enthalte als Wort Gottes die Richtschnur für das Leben, nach der Gläubige zu handeln hätten.

Eine militante Mission 

Die ausgiebige Warnung vor den "christlichen Nationalisten", die aus der Heiligen Schrift "nach Gutdünken" auch "Frauen-, Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit, blanken Rassismus und weiße Überlegenheitsfantasien" herauslesen, wirkt im ersten Moment wie ein weiterer Versuch, Trump als das absolut Böse darzustellen. Seine "Regierung befinde sich auf einer militanten Mission", um aus dem Land ein weißes christliches Amerika" zu machen, heißt es. Und das passt genau in die zuletzt ausgerufene "Hatz auf seine Feinde und alle Andersdenkenden hat begonnen – in Medien, Museen und Bibliotheken".  

Trumps Bruch mit Hinwendung zu einer "woken" Politik der Vielfalt, die sich mit einer Brandmauer umfangreicher Zensurvorschriften vor Kritik schützt, wird als Kampf gegen liberale Demokratie eingeordnet - unter Zuhilfenahme des Umstandes, dass "liberal" nach deutschem Verständnis für Liberalismus Marke FDP steht. Nach amerikanischem aber für linke, grüne und sozialdemokratische Grundüberzeugungen. 

Eine Verschwörungstheorie 

Das Bemerkenswerte an der vom "Spiegel" so sorgsam ausgearbeiteten Verschwörungstheorie, christliche Nationalisten und fanatische Gotteskrieger seien dabei, der USA eine "autoritäre Umgestaltung" zu einer "abgeschotteten, protoamerikanischen, biblisch geprägten Nation" zu verpassen, ist der Umstand, dass die im ersten Moment als Geschichte einer Radikalisierung zu lesende Geschichte eigentlich die Geschichte einer Normalisierung beschreibt. Schon vor zehn Jahren, als sich Trump zum ersten Mal anschickte, US-Präsident zu werden, wurde der Republikaner nicht nur als "Hassprediger" (Frank-Walter Steinmeier) beschimpft, sondern auch als Zentrum einer neuen faschistischen Bewegung gesehen. "Heil Trump!" wurden Berichte über den "Faschismus made in USA" (Deutschlandfunk) überschrieben. 

Dass der 46. Präsident in seinen ersten vier Jahren keine Anstalten machte, die Vereinigten Staaten zur amerikanischen Version des Dritten Reiches umzubauen, vermochte nicht zu verhindern, dass der Anlauf zu seiner zweiten Präsidentschaft ihm nicht nur Bezeichnungen wie "Irrer" und "Putin-Freund", "Milliardär", "Frauenfeind", "verurteilter Straftäter" und "Rassist" eintrug, sondern auf den letzten Metern auch eine Woge an Bezichtigungen, er sei ein "Faschist" (Die Zeit) und natürlich der Wiedergänger Adolf Hitlers.

Der Tanz mit Mussolini 

Der mediale Tanz mit Mussolini endete wenige Tage nach Trumps Wiederwahl wie mit einer Schere abgeschnitten. Furchtsam und eingeschüchtert blickten Brinkbäumer, Theveßen, Doemen und Rodriguez nach Washington. Die Redaktion in Hamburg, die Trump bis dahin häufiger auf ihr Titelblatt gerückt hatte als irgendeinen anderen lebenden oder toten Menschen, begnügte sich 2025 bislang mit nur noch fünf Coverbildern. Nur dreimal war Trump allein abgebildet – als "Imperator", "Raubritter" und "Weltpolizist".

Er verschlang keine Welten mehr, köpfte nicht die Freiheitsstatue, trug keine Klu-Klux-Klan-Uniform und verbündete sich nicht mit Diktatoren, um die Menschheit atomar auszulöschen. Noch kein ganzes Jahr vor seinem Wahltriumph gegen die favorisierte Kandidatin Kamala Harris verschwand die Beschreibung Trumps als „Faschist“ selbst dort, wo Festmeter Papier mit vermeintlichen Nachweisen bedruckt worden waren, dass der Faschismus genau so aussieht. Aus Hitler wurde ein christlicher Glaubenskrieger, aus dem Faschisten ein Frömmler. Wissenschaftlich ist inzwischen belegt, dass Trump „Nationalismus mit evangelikalem Fundamentalismus“ (Die Zeit) verbindet. Von Faschismus, bis März scheinbar unbestreitbar nachgewiesen, kann offenbar doch nicht die Rede sein.

Eine Entwarnung ist das nicht, zumindest soll es keine sein. Trump versuche jetzt nicht mehr, in die 1930er Jahre zurückzukehren, sondern „das Rad um Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zurückzudrehen – in eine Zeit, in der Männer noch Männer waren und Konflikte auf ihre eigene Weise lösten: mit Gottvertrauen und Revolver“, schreibt Jörg Schindler über die "betont maskuline rechtsaußen Antwort auf eine als feminin und moralinsauer empfundene Identitätspolitik von links". 

Nicht mehr die Neonazi-Gruppen, die gerade noch als seine Basis dargestellt wurden, sondern die „Bibelfanatiker“ gelten jetzt als Grundlage seiner Macht.

Samstag, 27. September 2025

Zitate zur Zeit: Davon wird's doch auch nicht mehr besser

Angela Merkel zeigt schon immer Deutschlands freundliches Gesicht: Es hätte doch nichts geändert, wenn sie gleich verraten hätte, dass wir es nicht schaffen. 

Von der Idee, den einen Schuldigen zu finden, wird die Zukunft nicht besser.

Angela Merkel hat sich dagegen verwahrt, für die große deutsche Krise verantwortlich gemacht zu werden

Die Unerbittlichen: Hass auf die eigene Familie

Bruch mit Familie wegen AfD

Es ist die dritte Welle oder auch schon die vierte. Sie ist echt und schmerzhaft und die, die auf ihr surfen, versprechen sich viel davon, ganz oben gesehen zu werden, beim tollkühnen Ritt auf dem Schaum einer Zeit, die den einen zu langsam vergeht und den anderen viel zu schnell.  

Über Jahre war ausgemacht, dass die, die unsere Demokratie anzweifeln und womöglich sogar ablehnen, im Familienverbund in der Minderheit sind. Sie hatten zu schweigen oder sie wurden von der klimabewegten Enkelin, der Lehrertochter aus der Öko-NGO oder dem Berliner Beraterbruder knapp eingenordet. Für Deine Geschwurbel ist kein Platz an Omas Geburtstagstafel! Niemand will ausgerechnet zu Weihnachten deine Verschwörungstheorien hören. 

Der feiste Sachsen-Onkel 

Der feiste Onkel aus Sachsen, der als Dachdecker oder Fliesenleger arbeitet und glaubt, wegen seiner vielen Bekannten in Handwerksberufen an speichernden Netzen, grünem Wasserstoff und der Endlösung für die Flüchtlingspolitik der EU zweifeln zu können, musste kleinlaut einlenken. Familie ist Familie und Blut dicker als Wasser, selbst wenn es nur angeheiratet oder angepartnerschaftet ist. Selbst der größte Impfleugner, Grünenhasser oder Putinliebhaber überlegt sich zweimal, ob er seine Atomkraftwerkpropaganda auch um den Preis weiter verbreiten will, dass sich seine nächsten Angehörigen angewidert abwenden.

Der gesellschaftliche Friede blieb durch die Vermeidung von Debatten gewahrt. Zugleich aber drehte sich der Wind: Gegner eines Atomausstieges, Feinde der Wärmewende, Verwandte, die nicht an die israelische Schuld für die Lage im Gazastreifen glauben, dazu Zeitgenossen, die einen Dialog mit Moskau befürworten und nicht glauben wollen, dass Donald Trump die USA in ein dunkles Zeitalter der Diktatur führt - sie alle vernetzten sich. Und je höher die Umfragezahlen der zumindest kurzzeitig als in Gänze komplett gesichert rechtsextremistisch eingeordneten AfD stiegen, umso lauter und selbstbewusster verschafften sie sich mit ihrern Zweifel, ihrer hetze und ihrem Hass Gehör im Familienverbund.

Hoffähiger Hass 

Die Rechtsaußenpartei zu wählen, erschien vielerorts plötzlich nicht mehr als Todsünde. Kolonialismus nicht für den einzigen Grund für den bedauernswerten Zustand weiter Teile Afrikas zu halten, wurde hoffähig. Die Liebe zum Diesel, das Bekenntnis zum Fleischessen und die Ablehnung von Tempolimit und CO2-Abgabe kamen nun vielerorts bei Familientreffen auf den Tisch. Mit üblen Folgen: "Ich habe mit einem Teil meiner ostdeutschen Familie gebrochen, weil sie politische Haltungen vertreten, für die ich nicht stehe", hat die Popsängerin Nina Chuba jetzt öffentlich bekannt. Sie könne da auch keine falsche Toleranz oder Verständnis zeigen. "Ich bin absolut gegen die AfD“, sagte Chuba, die für die neue Welle der Unerbittlichen steht, die Gespräche über verschiedene Ansichten rundheraus ablehnt und keine Diskussionen mehr über politische Positionen führen will, die nicht die eigenen sind.

Auch Leonie Plaar ist eine junge Frau aus dieser Generation, die die ostentative Abkehr von ihrer Familie als Karriereooster nutzt. Plaar, Historikerin, Influencerin, politische Aktivistin und Schriftstellerin, ist nicht nur lesbisch, sondern auch queer, sie entstammt einer Familie beinharter AfD-Mitglieder und in ihrem Buch "Die AfD, meine Familie und ich" schildert sie, wie ihre eigene Radikalisierung über Jahre hinweg imm er extremere Ausmaße annnahm. Bis sie irgendwann den Gedanken nicht mehr wegschieben konnte: "Hier gibt es kein Zurück mehr." 

Schlachten am Küchentisch 

Wie in Schlachten war Plaar zuvor in Gespräche am Küchentisch gegangen. Teilweise über drei, vier, fünf Stunden habe sie mit ihrem Vater, einer AfD-Gründungsmitglied, debattiert. Plaar empfand das als "unglaublich zehrend", denn obwohl sie sich akribisch vorbereitete und sich tief in Verschwörungsideologien und Falschinformationen einlas, gelang es ihr nie, ihren Vater zur Umkehr zu bewegen. "Die Situation spitzte sich weiter zu, bis ich den Schlusspunkt setzen musste", glaubte Plaar, für die der geeignete Momnet für den geplanten Kontaktabbruch kam, "als eine mögliche Impfpflicht mit dem Holocaust verglichen wurde".

Wie Chuba brach auch Plaar den Kontakt zu ihrer Familie ab. Ihre Mutter, die rollengerecht versuchte, sie umzustimmen, stellte sie vor die Wahl, sich von ihrem Mann zu trennen oder ihre Tochter zu verlieren. Ihre Mutter habe sie mit den klassischen Argumenten ködern wollen: "Das ist doch dein Vater, er hat so viel für dich getan!" Leonie Plaar aber blieb hart: "Ich erklärte ihr ganz klar, dass Familie für mich Schutz, Geborgenheit und Sicherheit bedeutet". "Dieser Mensch" aber, so nennt sie ihren Vater, unterstütze eine Partei, "deren Mitglieder mir als queere Person schon den Tod gewünscht haben". Das aber entspreche "nicht mehr meiner Definition von Familie".

Erbarmungslose Geschichte eines Bruchs 

Mutter gab auf. Leonie Plaar hatte gewonnen - ihr Buch, das auf schmalen 190 Seiten die erbarmungslose Geschichte eines Bruch erzählt, war nicht sonderlich erfolgreich, doch in den Sparten "Biografien von LGBTQ+", "Faschismus" und "Diskriminierung" erregte es ebenso Aufsehen wie bei großen Medienhäusern. Plaar wurde herumgereicht von "Brigitte" bis "Stern", der Deutschlandfunk hielt ihr das Mikrophon hin und die Seite "Kraureporter" ließ sie berichten, wie sie "direkt von der Politik der AfD betroffen" sein kann, ohne dass diese Partei schon jemals irgendwo regiert hat.

Plaar und Chuba sind mit ihrer unerbittlichen Haltung den eigenen Blutsverwandten gegenüber nicht allein. Große Teile der Jugendlichen, die sich früher um Bewegungen wie die Letzte Generation oder Fridays for Future geschart hatten, leben als junge Erwachsene im Gefühl, jetzt sei die Zeit gekommen, vor der sie ihre Ikonen immer gewarnt hatten. 

Plaar war Anfang 30, als die AfD sich als eurorettungskritische Partei gründete, aber sofort als rechtsextreme Formation enttarnt wurde. Nina Chuba, die als Kind von Eltern aus Sachsen-Anhalt in  Hamburg aufwuchs, erlebte die sogenannten "grünen Jahre" als Teenagerin. Die heute 26-Jährige hat die Welt nie anders gesehen als auf dem Weg hin zu Nachhaltigkeit mit offenen Grenzen überall, erneuerbaren Energien und Regenbogendemonstrationen.

Gegenkräfte der Beharrung 

So sahen die Beschreibung der gesellschaftlichen Großtrends aus. Die Gegenkräfte der Beharrung hatten sich über Jahre zurcügezogen in ein paar abgelegene Täler an der Elbe, an der Unstrut und im Erzgebirge. Mutige Reporter , die sich hin und wieder dorthin wagten, wo der Hutmann sein tristes Leben zwischen Pellettheizung, Feierabendbier und Schmierereien am Asylbewerberheim führte, berichteten von schrecklichen Zuständen: Trotz aller Versprechen der in Teilen gesichert rechtsextremen Partei fehle es auch in den Landkreisen, in denen sie hohe Wahlergebnisse eingefahren habe, an Geld, die Kreisstraßen zu unterhalten, die Krankenhauslandschaft wackle und die überbürokratischen EU-Regeln seien auch nirgendwo abgeschafft worden.

Wer Frau ist, gebildet und queer oder Popstar, kann dem nicht zuschauen. Er muss ein Zeichen setzten, denn immer häufiger verursacht Streit um die AfD Risse, die quer durch Familien gehen und nur durch einen harten, klaren Schnitt geheilt werden können. Wo Väter, oft sind es die Väter, eher konservativ denken und darauf beharren, dass sie enttäuscht über die Politik der letzten 15 Jahre seien, arten Meinungsverschiedenheiten schnell aus, wenn Töchter, oft sind es die Töchter, verlangen, dass ihre Erzeuger mit solchen Aussagen vorsichtig sein sollen. 

Das letzte Wort haben 

Gewohnt daran, das letzte Wort zu haben, beharren Menschen, die mit den Positionen der AfD liebäugeln, oft darauf, sagen zu dürfen, was sie denken, ganz egal, was es ist. "Ich bin deshalb doch kein Nazi", versuchen sie sich selbst zu entschuldigen. Doch wer als Familienmitglied weiß, wie der Freundes- und Bekanntenkreis des Vaters aussieht, der ahnt, dass mehr dahitler steckt. 

Als oft großstädtisch sozialisierte, mehrsprachige und universitär ausgebildete Generation sind die Jungen offener und  einfühlsamer, aber auch sensibler bei Meinungsverschiedenheiten. Dass zwei Menschen ein Ding aus unterschiedlicher Perspektive bewerten können, erscheint ihnen als Verstoß gegen die Vorgabe, dass es immer nur eine Wahrheit geben kann.

Ein "Spiegel"-Reporter berichtete bereits in der ersten Distanzierungswelle im Jahr 2017 von traumatischen Szenen bei Besuchen daheim. Man schaue gemeinsam "Tagesschau", "einer kommentiert eine Szene, dann fallen schnell verletzende Worte, die oft nicht zurück genommen werden." Inzwischen reiche es oft schon, "wenn einer nur die Augen verdreht".

Rechte Kronzeugen 

Der Hass steigt auf, es wird nachgekartet und mit Texten von Autoren, die der neurechten Szene nahestehen, versucht, die eigenen Argumentation zu stützen. Sein Vater, so berichtet ein junger Mann, der sich ebeenfall gezwungen sah, seine Familie zu verstoßen, habe behauptet, die AfD sei keine Partei, die er möge. Aber wählen müsse er sie, weil sie die einzige Kraft darstelle, die die anderen Parteien wieder in die Mitte rücken könne. Seine letzte Nachricht an den Vater zitiert der Kontaktabbrecher bereitwillig: "Wer Rassisten wählt, macht sich mit ihnen gemein. Und wer sich mit Rassisten gemein macht, ist selber mindestens ein Mit-Rassist." 

Doch politischen Druck ausüben, das können die jungen Leute auch. Wo immer der Verdacht aufkommt, Väter oder Mütter, Brüder oder Schwestern, der Onkel, die Tante oder der Schwager bezögen falsche Positionen oder wählten sogar falsch, zeigt die Generation der Unerbittlichen Konsequenz. Kontaktabbruch. Sprechverbote. Eine private Brandmauer, errichtet aus Enttäuschung darüber, dass der Vater, der doch früher in der SPD war und für Amnesty spendete, abgedriftet ist.

Eine Brandmauer, die aber auch davor schützen soll, selbst infiziert zu werden mit dem Nazi-Virus, das anfangs fast nur Ältere befiel, mittlerweile aber auch Jüngere nicht mehr verschont. Der Lockdown auf familiärer Ebene erscheint da als einzige Chance der politischen Hygiene. 

Die Tür bleibt offen 

Doch für Chuba, Plaar und die anderen jungen, engagierten Menschen, die ihrem Beispiel folgen, steht natürlich auch fest: Kein Bruch muss für immer sein, Heilung ist möglich. Und die Therapie ist denkbar einfach. Es braucht nicht mehr als eine Umkehr zurück zu den Werten, die die Generation vertrritt, die mit Work&Travel sowie unzähligen Erasmus-Semestern gesegnet wurde und nun nichts mehr anfangen kann mit Abschottung und Fremdenfeindlichkeit und Thilo Sarrazin und der Verteufelung des Islam. 

Ihre Hand bleibt ausgestreckt, ihre Herzen offen: Sobald Vater seinem Glauben abschwört, Europa drohe eine Islamisierung, der Genderwahn zerstöre die deutsche Sprache, die Klimaideologie werde zu einer Gefahr für den Wohlstand der Deutschen, die Meiniungsfreiheit sei bedroht wie in der DDR und die Parteien der Mitte machten schon lange keine Politik mehr für die arbeitende Mitte, kann alles wieder werden wie früher.